PROLOG | Die elektrische Spinne – Church of St. Mary Magdalene, Hucknall Torkard, Nottinghamshire, England, Januar 2010

Schneeregen und Graupel. Draußen herrschte ein verdammtes Sauwetter.

Der Mann im schwarzen Mantel hatte seinen Kragen hochgeschlagen und seinen schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen, als er gegen 19:00 Uhr die Kirche durch eben jenes Portal betrat, durch das sie vor all den Jahren den verstorbenen Lord Byron getragen hatten.

Außer ihm war noch eine Handvoll anderer Personen anwesend. Der Küster war gerade damit beschäftigt, die Gesangbücher in die Regale zu stapeln. Ein seltsamer französischer Tourist, der in seinem zwei Nummern zu engen Anzug wie ein Bestatter wirkte und ständig Selbstgespräche führte, bestaunte die Byron-Sammlung am Fuße des normannischen Turms, dem ältesten Teil der ganzen Kirche. Und in der Sakristei unterhielt sich ein Pärchen, das ein kleines Kind an der Hand und ein anderes im Kinderwagen bei sich hatte, auf Deutsch über die Einzigartigkeit der von Charles Eamer Kempe geschaffenen Bleiglasfenster.

Die rechte Hand um die tischtennisballgroße, surrende Messingkugel in seiner Manteltasche geschlossen, schritt der Mann im schwarzen Mantel an der kleinen Taufkapelle vorbei den Mittelgang entlang auf den Altarraum zu.

Wie es schien, nahm keiner der Anwesenden zu diesem Zeitpunkt großartig Notiz von ihm. Schließlich konnte ja kaum jemand ahnen, dass es sich bei dem Mann, der sich zufälligerweise zum selben Zeitpunkt mit ihnen in dieser Kirche aufhielt, um einen Mitarbeiter der einflussreichsten Geheimorganisation der westlichen Welt handelte und dass er in den Kreisen jener, die von seiner Arbeit profitierten oder zumindest davon wussten, bereits zu Lebzeiten eine Legende war.

In einer der vorderen Bankreihen nahm er Platz. Vorsichtig griff er in seine Tasche, zog die polierte Messingkugel hervor und legte sie behutsam auf den Boden. Dann schaltete er sein vollkommen abhörsicheres Smartphone ein, tippte eine 23-stellige Tastenkombination aus Zahlen und Buchstaben in das Display und mit einem leisen, metallischen Klicken klappten sechs winzige Öffnungen an der Kugel auf, aus denen sich hauchdünne, teleskopartige Metallbeine schoben. Im Licht der Kirchenbeleuchtung glänzten sie wie Golddrähte. Sofort erhob sich die Kugel auf ihre Beine und krabbelte wie eine Spinne davon. Klick-klack, klick-klack, klick-klack machten die Beinchen auf dem uralten Steinfußboden der Kirche.

Zielstrebig und flink bewegten sie sich auf die marmornen Stufen des Altarraums zu, unter denen sich das Familiengrab der Byrons befand. Die Spinne hielt vor der untersten Stufe an. Ein kaum hörbares Sirren ertönte, als der diamantbesetzte, druckluftgekühlte Steinfräser ausgefahren wurde und seine Arbeit aufnahm. Innerhalb von wenigen Minuten hatte die Spinne ein faustgroßes Loch in den Marmor geschnitten, das herausgefräste Stück mit ihren Beißzangen beiseitegelegt und sich an den Abstieg in die Byron-Gruft gemacht.

All das beobachtete der Mann im schwarzen Mantel von seinem Platz aus auf dem Display seines Handys. Und er war sehr zufrieden. Den Messwerten zufolge, arbeitete die X - SPIDER10 einwandfrei. Nicht einen Augenblick lang war die Arbeitstemperatur der Einheit über 20° Celsius gestiegen.

Die Messingspinne ließ sich an einem dünnen Draht in die Tiefe, während das eingebaute Kameraauge auf Nachtsicht geschaltet hatte und nun ein in grünes Restlicht getauchtes Bild vom Innern der Grabkammer auf das Handy übertrug. Der Mann in Schwarz konnte eine Treppe sehen, an deren Fuß fünf mehr oder weniger gut erhaltene Särge standen. Auf zweien von ihnen lagen Kronen, eine davon war mit einer Anzahl großer Perlen besetzt.

Um ihn sich genauer anzusehen, lenkte der Mann die Messingspinne zu einem viereckigen Holzkasten, der sich in seiner Form deutlich von den Särgen unterschied. Seine Aufgabe war es, festzustellen, ob sich Lord Byrons sterbliche Überreste tatsächlich in dieser Grabkammer befanden oder nicht. Gerüchten zufolge hatte England das Herz des großen Dichters nämlich für immer verloren und es lag angeblich einbalsamiert in einer Bleischatulle auf einem Friedhof in der Nähe der griechischen Stadt Mesolongi, wo Lord Byron am 19. April 1824 gestorben war. Sollte sich herausstellen, dass das stimmte, würde das für die Agency einiges an Mehrarbeit bedeuten.

Mit einer Berührung des Touchscreens seines Smartphones schaltete er den Restlichtverstärker der Spinne auf die höchste Stufe und aktivierte den Klettermodus, wodurch einer der vier eingebauten hydraulischen Pfeile abgeschossen wurde. Eine hochelastische Drahtsehne hinter sich herziehend, flog die rasiermesserscharfe Spitze aus Damaszenerstahl in hohem Bogen zum Deckel des viereckigen Holzkastens und blieb darin stecken. Eine winzige Winde, die wie alles, was der Mann im schwarzen Mantel herstellte, ein Wunderwerk der Feinmechanik war, sprang an, und langsam zog sich die Spinne an der Wand des Kastens hoch.

Das Kameraauge tastete den Deckel ab und hatte gerade zwischen all dem Staub eine bronzene Gravurplatte mit einer Inschrift erfasst, als jemand den Mann im schwarzen Mantel am Ärmel zupfte.

»Hallo! Hallooo!« Es war der kleine, vielleicht sechsjährige Junge, der zu den deutschen Touristen gehörte. »Was machst du da?«

»Ein wissenschaftliches Experiment«, sagte der Mann in akzentfreiem Deutsch. »Sehr kompliziert. Und viel zu kompliziert für Kinder.«

»Bist du Dinoforscher?«

»So etwas Ähnliches.« Er berührte mit dem Zeigefinger den Touchscreen seines Handys und der Bildschirm wurde schwarz. »Ich glaube, du musst jetzt wirklich zu deinen Eltern zurück, mein Kleiner. Die machen sich sonst noch Sorgen. Außerdem soll man in deinem Alter nicht mit fremden Leuten sprechen. Hat man dir das nicht beigebracht?«

»Ich habe die Kugel gesehen«, sagte der Junge. Er trug ein graues Star-Wars-T - Shirt, und blonde Locken lugten vorwitzig unter seinem roten Winnie-the-Pooh-Käppi hervor. Er sah aus wie die typische Klette, die Schwierigkeiten machte. Genau die Sorte Kind, vor der sie im Training immer gewarnt wurden.

»Ist die aus echtem Gold?«

»Nein, ist sie nicht.«

»Und wie machst du, dass die laufen kann?«

Der Mann im schwarzen Mantel musste lächeln. Der Kleine gefiel ihm. Neugierde war die Grundvoraussetzung dafür, Neues zu erschaffen. Er sah den Jungen sehr ernst an und sagte: »Ich bin ein Außerirdischer vom Planeten Mars. Und ich bin mit einem Raumschiff auf die Erde gekommen, um das Leben der Menschen zu erforschen. Aber das darfst du niemandem verraten, hörst du? Sonst muss ich dein Gehirn einfrieren.«

Der blonde Junge sah ihn mit Augen an, die so groß wie Untertassen waren, und nickte ehrfürchtig und stumm. Dann rannte er, so schnell er konnte, zu seinen Eltern und rief: »Mama! Papa! Guckt mal! Da ist ein Mann, der ist aus dem Weltraum gekommen! Er will mein Gehirn einfrieren.«

Der Vater und die Mutter des Jungen sahen in seine Richtung. Der Mann in Schwarz lächelte und winkte ihnen zu. Denn wenn er etwas wusste, dann eins: Übertreibung bot in den meisten Fällen Schutz. Der Vater sah schuldbewusst auf seinen Sohn und erwiderte schüchtern den Gruß.

Eine weitere Berührung des schwarzen Touchscreens und das gestochen scharfe, grünliche Bild der Nachtsichtkamera war wieder auf dem Display zu sehen. Jetzt war auch die Inschrift der Gravurplatte deutlich zu erkennen:

In diesem Gefäß werden das Herz & das Gehirn & etc. des verstorbenen Lord Noel Byron verwahrt

Am besten gefiel ihm die Bemerkung »& etc.« – was immer das bedeuten mochte. Blieb nur zu hoffen, dass der Behälter über all die Jahre auch dicht gehalten hatte. Aber das würden andere überprüfen müssen.

Um einen letzten Test durchzuführen, gab er eine kurze Tastenkombination ein, und zwischen den Vorderbeinen der Spinne wurde, gleich neben dem Kameraauge, ein Sensor ausgefahren. Innerhalb weniger Sekunden erschienen Zahlenkolonnen mit Daten am rechten Bildrand.

Die Raumtemperatur des Gewölbes betrug 12° Celsius. Die Luftfeuchtigkeit lag bei 50 %. Und der Luftdruck betrug genau 1013,25 Hektopascal. Die Messung ergab keinerlei Schadstoffe, sah man mal von den üblichen Schwermetallen ab, die sich ohnehin in jeder Umgebung ablagerten. Ganz gewöhnliche Werte also.

Das stumm geschaltete Handy vibrierte. DARWIN NIGHT RUFT AGENT ABRAHAM CARRUTHERS stand auf dem Display. Auch wenn er es am liebsten hinausgeschoben hätte, drückte der Mann im schwarzen Mantel den roten OK-Button, auf dem sich eine 3-D-Animation des Night’s-Agency-Logos drehte – ein Monogramm aus den verschlungenen goldenen Buchstaben N und A. Darwin Nights besorgtes Gesicht erschien auf dem Display.

»Sir?«

»Wir haben gerade ihre Übertragung erhalten, Agent Carruthers«, sagte Night. »Großartige Arbeit. Erstklassig.«

Der Mann im schwarzen Mantel, der Abraham Carruthers hieß, war nicht gerade erfreut über die Unterbrechung. »Ich denke, wir können ganz beruhigt sein. Alle Werte sind zufriedenstellend, Sir. Allerdings stecke ich noch mittendrin.«

»Irgendwelche schädlichen Pilzsporen in der Luft der Kammer?«

»Nein, Sir. Aber Sie erhalten gleich per E - Mail ein ausführliches Memo.«

»Ganz ausgezeichnet«, sagte Night. »Hätte Carter Sie damals bei der Tutenchamun-Ausgrabung dabeigehabt, es hätte mit Sicherheit weniger Tote gegeben.«

»Schon möglich, Sir. Ich möchte Sie allerdings bitten …« Agent Carruthers unterbrach sich, als er sah, dass der Küster seinen Platz bei den Gesangbüchern unweit der kleinen Byron-Ausstellung im Turm verlassen hatte und nun den Mittelgang fegte. Von den Stufen des Altarraums war er nur noch wenige Meter entfernt. Wenn er dort ankam, würde er unweigerlich das Loch bemerken, das die elektrische Spinne in die unterste Stufe geschnitten hatte.

»Agent?« Nights Gesichtsfarbe hatte deutlich an Intensität verloren. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

Ohne eine Antwort drückte Abraham Carruthers das Gespräch weg und stand auf. Zügig durchmaß er das Mittelschiff und ging zu der Stelle bei den Stufen, an der sich das Loch im Marmor befand. Rasch stellte er den Fuß davor. Als der Küster wenige Augenblicke später den Besen vor sich herschiebend bei ihm ankam, sah Carruthers ihn kopfschüttelnd und mit missmutig zusammengezogenen Augenbrauen an und meinte: »Ist das nicht fürchterlich, wie manche Menschen so ticken?«

»Entschuldigung?« Der Küster stützte sich auf den Besenstiel, strich sich mit der Hand über den dichten Vollbart und sah Carruthers fragend an. »Was meinen Sie?«

»Na, den Ben-Caunt-Gedenkstein draußen im Kirchgarten natürlich.«

»Und was ist damit?«

»Oh, ich dachte, Sie wüssten schon davon. Irgendjemand hat ihn mit roter Farbe besprüht.«

»Was? Das gibt’s doch nicht! Diese Vandalen werden aber auch immer dreister!« Den Besen wie ein Gewehr über die Schulter geworfen, stapfte der Küster wütend davon, um den Schaden selbst in Augenschein zu nehmen.

Das war knapp!

Das Grab des berühmten englischen Boxchampions, nach dem übrigens die Glocke Big Ben im Londoner Parlamentsgebäude benannt worden war, lag hinter dem Nordquerschiff auf der Rückseite der Kirche. Der Küster würde also ganz um das Gebäude herumlaufen müssen und eine Weile beschäftigt sein. Das verschaffte Abraham Carruthers die nötige Zeit.

Binnen Sekunden manövrierte er die elektrische Messingspinne wieder aus der Byron-Gruft heraus und versteckte sie in den Tiefen seiner Manteltasche. Dann holte er ein faustgroßes, mit durchsichtiger Folie umwickeltes Päckchen hervor und wickelte es aus. Die an der Luft schnell aushärtende Spezialknetmasse, die sich darin befand, stopfte er in das Loch und strich sie glatt. Er schmierte ein bisschen Dreck vom Fußboden darauf und es war kaum noch etwas zu sehen.

Und nun nichts wie weg, bevor der Küster zurückkam. Noch im Weggehen rief er die Zentrale an. »Meine Arbeit hier ist erledigt. Die X - SPIDER10 hat ihren Probelauf erfolgreich beendet.« Agent Abraham Carruthers zog den Hut tiefer ins Gesicht und schlug den Mantelkragen hoch, während er zielstrebig auf den Ausgang zuging. »Jetzt ist es an Ihnen, den Koffer zu finden, Sir.« Ehe Darwin Night etwas darauf entgegnen konnte, schaltete der Mann im schwarzen Mantel sein Handy aus und steckte es wieder ein.

Der seltsame französische Tourist im zu kurzen Anzug stand nicht weit vom Eingang entfernt, als der Mann im schwarzen Mantel hinausging. Er sah ihm nach, bis er im Regen verschwunden war.

»Er ist weg, Monsieur.« Er nahm einen der zahllosen sich windenden Mehlwürmer aus der braunen Papiertüte in seiner Hand und steckte ihn sich genüsslich in den Mund. Kauend fragte er dann: »Können wir jetzt gehen?«

»Können wir nicht, Sie Idiot!«, sagte eine körperlose Stimme neben ihm. »Es regnet, falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Renfield. Wollen Sie, dass man meinen nackten Hintern sieht?«

»Nein, Monsieur Rains, natürlich nicht.«

Man hätte den Mann glatt für einen Bauchredner halten können, der seine Puppe vergessen hatte, aber man hätte sich geirrt.

Regen und Graupel. Draußen herrschte ein verdammtes Sauwetter …