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Tom hatte keine Mühe, den Fußspuren von Chong und seinem Entführer zu folgen, aber die Richtung verwunderte ihn. Statt direkt in höher gelegene Gebiete zu führen, wo Kopfgeldjäger nach Möglichkeit ihr Lager aufschlugen, beschrieb die Spur einen Bogen und verlief fast genau nach Osten. Das beunruhigte Tom. Konnte es sein, dass man Gameland nach Yosemite verlegt hatte? Oder brachte dieser Mann Chong irgendwo anders hin?

Plötzlich hörte Tom auf dem Pfad vor sich ein paar Männerstimmen. Schnell huschte er seitwärts hinter dichte Büsche und kroch dann lautlos auf die Männer zu. Sie sprachen laut und unbekümmert, als brauchten sie nicht zu fürchten, dass jemand sie hören konnte. Sie waren zu dritt und standen an einer Lichtung, an der sich zwei häufig genutzte Wege kreuzten.

Tom erkannte einen von ihnen: Stosh – der überlebende Partner der beiden Kopfgeldjäger, die Sally getötet hatte. Der speziell angefertigte arabische Krummsäbel baumelte an seiner Hüfte. Bei den anderen handelte es sich um große, brutal aussehende Fremde. Einer war rothaarig und trug eine Kette aus Fingerknöcheln, der andere hatte eine braune Haut und mehrere Schulterholster umgeschnallt, in denen je eine .45er Automatik steckte. Tom kroch näher heran, damit er sie besser verstehen konnte.

»Ich kapier noch immer nicht, warum du versuchen willst, ihn an White Bear zu verkaufen«, sagte der Revolverheld.

»Ja, warum willst du das riskieren?«, pflichtete der Rothaarige ihm bei. »Der Bär will mit dir keine Geschäfte machen, Stosh. Er will dich den Zombies zum Fraß vorwerfen und nie wieder was mit dir zu tun haben.«

»Nein, das seht ihr falsch«, widersprach Stosh. »Wenn ich ihm den Schnellen Tommy bringe, ist alles vergeben und vergessen. Ihr werdet schon sehen.«

»Wir werden sehen, wie Bear dir bei lebendigem Leib den Skalp an einen Baum nagelt«, meinte der Revolverheld lachend, und der Rotschopf stimmte in sein Lachen ein.

»Ehrlich, Mann«, fuhr der Revolverheld fort. »Du solltest die ganze Sache vergessen und nach Norden weiterziehen. Geh nach Eden oder Fort Snyder. Hauptsache, du kommst Bear nicht in die Quere. Denn selbst wenn es dir gelingt, ihm den Schnellen Tommy oder seinen widerlichen kleinen Bruder zu bringen, wird Bear sie dir einfach wegnehmen und mit dir das Gleiche machen wie mit Bobby Talltrees. Er wird dich irgendwo festbinden und an den Schwarm verfüttern. Das haben wir Bobby auch gesagt – aber hat er auf uns gehört? Fehlanzeige. Du weißt ja, wie er endete.«

»Ja«, bestätigte Stosh leise. »Das war verdammt hässlich. Bobby war kein schlechter Kerl. Und es ist nicht fair, dass White Bear uns die Schuld daran gibt, was mit Charlie passiert ist. Ich war zu der Zeit mit meiner Crew auf dem Weg nach Hillcrest. Wir hätten überhaupt nichts tun können.«

»Jaja. Das wollte Bobby ihm auch weismachen, und wir wissen ja, wohin das geführt hat«, meinte der Revolverheld. »Da wirst du ebenfalls landen, wenn du nicht bald für jede Menge Abstand zwischen dir und White Bears Revier sorgst.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Stosh stur. Er holte ein Blatt Papier aus der Tasche und wedelte damit vor ihrer Nase herum. »Ich weiß, wie scharf er darauf ist, Tom in die Finger zu kriegen. Seht ihr die Beträge hier? Ist euch jemals ein so hohes Kopfgeld untergekommen? White Bear will die ganze Bande, und er wird mir die Füße küssen, wenn ich sie ihm bringe. Alle: Tom, diese kleine Riley-Schlampe, das Verlorene Mädchen und Toms miesen kleinen Bruder.«

Rotschopf nahm den Zettel und las ihn durch. Dann nickte er. »Ja, ein hübsches Sümmchen … damit könnte man sich zur Ruhe setzen.«

»Wenn du Glück hast, kannst du damit gerade mal deine Beerdigung bezahlen«, warf Tom ein und trat aus seinem Versteck hinter den Büschen hervor.

Die drei Männer wirbelten herum und starrten ihn an. Der schwarzhaarige Revolverheld griff überkreuz nach seinen beiden Fünfundvierzigern, aber Tom zog und schoss in einer einzigen, fließenden, mit dem Auge nicht mehr zu verfolgenden Bewegung. Der Revolverheld kippte nach hinten, über der linken Augenbraue klaffte ein sauberes rundes Loch. Die Kopfgeldjäger nannten es den »Goldenen Schuss«, denn nach so einem Treffer musste ein Toter nicht mehr befriedet werden.

Jetzt standen Stosh und Rotschopf mit entsetzt aufgerissenen Augen rechts und links neben dem Leichnam.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Stosh. »Tom!«

»Ich weiß, wer das ist«, schnaubte Rotschopf und kniff die Augen zu finsteren Schlitzen zusammen. »Du hast gerade einen unschuldigen Mann erschossen, Partner. Du weißt gar nicht, in welche Schwierigkeiten du dich damit …«

Tom jagte eine Kugel in die Erde zwischen den Füßen des Mannes. »Spar dir das für jemanden, den es interessiert«, sagte er ruhig. »Lasst die Knarren fallen.«

Der rauchende Lauf der Pistole ließ keinen Spielraum für Debatten. Scheppernd fielen Waffen zu Boden.

»Alle!«, befahl Tom.

Die beiden Kopfgeldjäger schauten empört, holten dann aber langsam Messer, kleine Derringer-Pistolen, Würgedrähte und Schlagringe aus versteckten Taschen hervor.

»Tretet sie weg. Gut. Und jetzt hört mir genau zu«, verlangte Tom mit festem, hartem Blick. »Ihr zwei habt nur eine Chance, hier lebend rauszukommen.«

»Was hast du anzubieten?«, erkundigte sich der Rotschopf argwöhnisch.

»Ein ganz klares Geschäft. Ihr beantwortet meine Fragen und ich lass euch laufen. Wenn ihr mich auch nur ein bisschen zu kennen glaubt, dann wisst ihr, dass man mir nichts vormachen kann, aber ihr wisst auch, dass ich Wort halte. Ihr verschwindet von hier und lasst euch nie wieder blicken. In diesen Bergen habt ihr nichts mehr zu schaffen.«

Stosh schnaubte. »Was schert es dich, wo wir arbeiten? Hab gehört, dass du die Stadt verlässt.«

»Sagt wer?«

»Alle. Im ganzen Leichenland reden die Leute darüber, dass der Schnelle Tommy Imura für immer aus der Gegend verschwindet. Macht sich auf die Suche nach irgendeinem Flugzeug, heißt es.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die Nerven verloren hast und auf der Flucht vor White Bear bist«, meinte der Rotschopf. »White Bear sagt, das ganze Gebiet würde jetzt zu seinem Revier gehören. Er bringt mehr Männer hierher, als du verkraften kannst, und du haust ab, um deinen Arsch zu retten. Die Geschichte mit dem Jet erzählst du nur, um dein Gesicht zu wahren.«

»Gibt es wirklich jemanden, der das glaubt?«, fragte Tom amüsiert.

»Ist ja auch egal. Wenn du weg bist, hat der Bär das Sagen über das gesamte Leichenland, und alle werden glauben, was er ihnen erzählt. So ist er nun mal.«

»Jeder braucht ein Hobby«, war Toms lapidarer Kommentar.

»Was willst du von uns wissen, damit du uns laufen lässt?«, fragte Stosh.

»Zuerst will ich diesen Zettel«, verlangte Tom. »Das ist ein Steckbrief, stimmt’s? Gib ihn mir – und keine Mätzchen! Leg ihn auf den Boden, beschwer ihn mit einem Stein und trete dann zurück.«

Rotschopf tat, wie ihm geheißen. Dann wich er zurück, bis Tom ihm befahl, stehen zu bleiben. Tom bückte sich, hob den Zettel auf und warf einen Blick darauf. Der Steckbrief enthielt vier Skizzen mit Beschreibungen:

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Tom steckte den Zettel in die Tasche. »Wer sucht nach uns?«

»Alle«, verkündete der Rotschopf. »Im ganzen Leichenland wimmelt es von Jägern, die alle deiner Spur folgen.«

»Ihr seid die Ersten, die ich sehe. Außer Stoshs toten Freunden.«

»Dann suchst du am falschen Ort. Jeder kennt die Routen, die du normalerweise nimmst, und wir haben aus der Stadt erfahren, dass du gestern aufgebrochen bist. Alle, und ich meine wirklich alle, wissen, dass White Bear einen Haufen Bares auf euch ausgesetzt hat.«

Tom dachte nach. Er hatte mit Benny und den anderen eine Route eingeschlagen, die er seit Monaten nicht mehr benutzt hatte. Auf diese Weise hatte er die Kids von den Gebieten mit den meisten Zombies fernhalten wollen, aber allem Anschein nach hatte diese Entscheidung ihnen allen das Leben gerettet. Zumindest bisher.

»Hier steht ›Bezahlung im G‹. G für Gameland?«

»Ja. Das ist alles inoffiziell, sozusagen«, meinte Stosh und grinste Tom mit schiefen gelben Zähnen an. »Soweit ich gehört habe, zahlen sie das Doppelte, wenn die Kids nach Gameland gebracht werden und noch ein bisschen Mumm in den Knochen haben. Es heißt, du hättest sie trainiert. Das bedeutet, dass sie eine, vielleicht sogar zwei Wochen in den Gruben aushalten können. Bei den Z - Spielen kann man richtig Geld machen.«

»Das ist sehr viel Geld. Was verdient White Bear daran? Besonders, wenn ich verschwinde?«

Die beiden Männer schauten einen Augenblick verwirrt. »Was glaubst du denn, Mann?«, fragte Stosh völlig perplex.

»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen«, entgegnete Tom. »Und ihr verschwendet meine Zeit.«

»Oh Mann, das ist klasse«, fand Rotschopf. »Wie in diesen Comedyshows von früher. Zum Totlachen!«

Und plötzlich griff der Rotschopf an. Er kickte einen Stein von der Größe eines Balls gegen Tom und stürmte entschlossen vorwärts. Sie mussten sich gegenseitig ein Zeichen gegeben haben, denn Stosh war nur einen halben Schritt hinter ihm. Rotschopf schlang einen Arm um Toms Brust und Stosh rammte seine Schulter in Toms Oberschenkel. In einer Wolke aus Blättern, Staub, Knurren und Schreien landeten sie zu dritt krachend in den Büschen.

Und dann stieß eine einzelne männliche Stimme einen gellenden Schrei aus.

Einen Todesschrei.

Aus Nix’ Tagebuch

Informationen über Bisse (von Menschen und Zombies), die ich gesammelt habe.

Einen Teil habe ich aus den Aufzeichnungen abgeschrieben, die Tom für uns zusammengestellt hat, damit wir sie uns vor dem Aufbruch einprägen.

Männliche erwachsene Menschen beißen kräftiger zu als erwachsene Frauen.

Erwachsene Menschen beißen kräftiger zu als Menschenkinder.

Zombies beißen nicht so fest zu wie Menschen, weil ihr Zahnhalteapparat verwest ist.

Ein „frischer“ Zombie ist körperlich stärker und kann auch fester zubeißen als ein älterer Untoter, aber immer noch nicht so stark wie ein Mensch. Je mehr ein Zombie verwest, desto schwächer wird er.

Dr. Gurijala sagte (nachdem ich ihn ungefähr fünfzigmal damit genervt hatte): „Zähne sind nicht mit Knochen verschmolzen, sondern durch einen Halteapparat mit dem Kieferknochen verbunden. Kommt es zur Verwesung des Körpers, versagt dieser Apparat, und die Zähne werden locker. Aufgrund ihrer Struktur verbleiben die Zahnwurzeln manchmal im Kieferknochen, aber Schneidezähne fallen wegen ihrer kegelförmigen Wurzeln nach dem Tod meistens aus.“

Das Durchbeißen der Haut und das Abtrennen oder Herausreißen von Gewebe würde die ganze Beißkraft eines Menschen erfordern. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass Zombies große Stücke aus einem Menschen herausbeißen, wie manche in ihren Geschichten über die Erste Nacht behaupten. Wenn die Untoten ein Stück aus einem Menschen herausreißen, dann vermutlich von einem schwachen und besonders verletzlichen Körperteil (z. B. ein Ohrläppchen). IGITTTTTTT!