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Der Rest des Tages verlief ruhig. Nix machte einen langen Spaziergang mit Lilah und Chong folgte ihnen wie ein trauriges, stummes Hündchen. Morgie ging angeln und Benny schlich durchs Haus, wo er sich all die vertrauten Dinge anschaute und sich mit der Vorstellung anzufreunden versuchte, nichts von alldem je wiederzusehen. Selbst die ramponierte Kommode in seinem Zimmer kam ihm wunderbar und einmalig vor und er berührte sie wie einen alten Freund.

Sag Auf Wiedersehen, flüsterte seine innere Stimme. Lass das alles los.

Er nahm ein langes, heißes Bad und lauschte der Stimme, die aus seinem tiefsten Inneren zu ihm sprach. Seit Monaten hörte Benny sie schon, als sei sie ein losgelöster Teil von ihm. Natürlich nicht so wie jemand, der verrückt war und »Stimmen hörte«, wie etwa der alte Brian Collins, in dessen Kopf immer mindestens ein Dutzend Leute auf einmal schwatzten. Das hier war irgendwie anders. Benny erschien diese innere Stimme wie sein zukünftiges Selbst, das zu ihm sprach. Der Mensch, der er einmal sein würde, ein klügerer, reiferer Benny Imura mit mehr Selbstvertrauen, dessen Entwicklung kurz nach den Ereignissen in Charlies Lager begonnen hatte. Der aktuelle Benny war allerdings nicht immer einer Meinung mit der Stimme und wünschte oft, sie würde verstummen und ihn einfach nur 15 Jahre alt sein lassen.

Nach dem Bad betrachtete er sich eine Weile im Spiegel und fragte sich, wer er war.

Nach sieben Monaten wahnsinnigen Fitnesstrainings, das Tom mit ihnen als Vorbereitung auf die Expedition durchgezogen hatte, ähnelte er kaum noch dem mageren Jungen, der sich damals zum ersten Mal ins Leichenland gewagt hatte. Seine Muskeln waren gut ausdefiniert und an seinem Bauch ließen sich sogar schon die Ansätze eines Sixpacks erkennen. Er achtete darauf, dass er in Nix’ Gegenwart so oft wie nur irgendwie vertretbar sein T - Shirt auszog, meist nach harten Trainingseinheiten. Dabei gab er sich alle Mühe, das Ganze lässig aussehen zu lassen, aber es war entmutigend, wie oft Nix kicherte oder scheinbar keine Notiz davon nahm, statt vor Sinneslust in Ohnmacht zu fallen.

Jetzt betrachtete er die Muskeln an Armen und Brust, die er durch das monatelange Training mit Schwertern, beim Jiu-Jitsu und Karate aufgebaut hatte, und musterte den Tonus, den er den endlosen Wiederholungen mit Gewichten verdankte, den fünfmal wöchentlichen Langstreckenläufen, den Kletterübungen an Seilen und Bäumen und den vielen Kampfspielen. Er beugte sich weiter vor und fragte sich, wie viel von diesem Gesicht bereits zu dem Mann gehörte, zu dem er sich entwickelte, und wie viel zu dem Jungen, für den er sich selbst noch immer hielt. Das Gesicht schien eher seiner inneren Stimme als der Wahrnehmung seines derzeitigen Selbst zu entsprechen.

Genau das war das Problem, die Ursache all seiner Schwierigkeiten: Einerseits wollte er 15 sein, angeln gehen, Baseball spielen und Ärger bekommen, weil er Äpfel aus Snotty O’Malleys Obstgarten klaute. Andererseits wollte er ein Mann sein, so stark und auch so einflussreich wie Tom, und er wünschte sich, dass die Leute ihm mit der gleichen Ehrfurcht und Achtung begegneten wie seinem Bruder.

Benny wusste, dass er taffer werden musste, sobald sie Mountainside verließen. Das Leichenland würde ihm Herausforderungen stellen, die ihn abhärten und seine »Legende« stärken würden, genau wie Tom dank seiner vielen Abenteuer als der gefürchtetste Zombiejäger der Gegend zur Legende geworden war. Und je weiter sie sich von der Stadt entfernten und je taffer er wurde, umso sexyer würde Nix ihn bestimmt finden.

Denn für Nix war alles, was zählte, dort draußen.

Benny war sich ziemlich sicher: Wenn Nix ihn tatsächlich liebte, dann lag das daran, dass er zugestimmt hatte, mit ihr durch das Leichenland zu ziehen. Vielleicht nicht ausschließlich, aber doch zum Großteil. Darauf hätte er alles gewettet. Und deshalb wagte er nicht, ihr mitzuteilen, dass er sich nicht sicher war, ob er wirklich weggehen wolle.

Sag es ihr, mahnte die innere Stimme. Lüg sie nicht an. Benny ignorierte die Mahnung.

Das Leichenland war gefährlich und unsicher, und alle, mit denen er in der Stadt gesprochen hatte, waren sich einig, dass noch niemand weiter als bis zum Yosemite-Nationalpark gekommen und auch wieder zurückgekehrt war. Wenn es sein musste, war Nix bereit, das ganze Land zu durchqueren, um den Jet zu finden. Genau wie Tom und Lilah.

Benny starrte in seine braunen Augen und prüfte die Zweifel und die Angst, die er dort fand. »Schöner Held«, murmelte er. »Schöne Legende.«

Nix war überzeugt, dass sie ersticken und hinter den Mauern der Stadt sterben würde, wenn sie hier blieb, und so ganz unrecht hatte sie nicht. Fast allen in Mountainside graute so sehr vor dem Leichenland, dass sie fast nie darüber sprachen, was jenseits des Zauns vor sich ging. Nur wenige wagten sich hinaus und besuchten andere Städte, aber selbst dann reisten sie in metallverstärkten Wagen mit geschlossenen Fensterblenden, um nichts vom Leichenland zu sehen. Nur die Fahrer und die berittenen Kopfgeldjäger, die sie als Wachen anheuerten, hielten sich außerhalb auf. Im Inneren dieser Pferdewagen musste es selbst zu Beginn des Frühjahrs schrecklich heiß sein, aber die Reisenden schienen diese Unannehmlichkeit der frischen Luft vorzuziehen, die mit dem Blick aus dem Fenster auf die wirkliche Welt verbunden war. Der Gedanke daran machte ihn wahnsinnig. Er fragte sich, was die Leute wohl denken mochten, wenn sie sich in diesen Wagen, aber außerhalb des Zauns befanden. Schalteten sie ihren Verstand einfach aus? Nahmen sie Arzneimittel, um während der ganzen Fahrt zu schlafen? Oder wollten sie es einfach nicht wahrhaben, und das Betreten und Verlassen der blickdichten Wagen war für sie so, als würden sie durch eine Tür gehen? Vielleicht gab es für sie ja nichts dazwischen.

Das Ganze war wie eine Seuche, wenn auch eine andere als die, an der die Welt zugrunde gegangen war. Das hier glich eher einer emotionalen Pandemie, die blind und taub machte und den Geist umnebelte, sodass einfach keine andere Welt existierte als die innerhalb einer eingezäunten Stadt.

Die meisten redeten schon lange nicht mehr über die Erste Nacht, und obwohl niemand es laut aussprach, warteten doch alle nur auf das Ende. Die Gesellschaft war zusammengebrochen, es gab weder eine Armee noch eine Regierung, fast 7 000 000 000 Menschen waren gestorben, und die Zombieplage hielt unvermindert an. Alle in Mountainside glaubten, die Welt sei untergegangen und ihnen bliebe nur noch eine kurze Gnadenfrist, bis sie endgültig menschenleer war.

Es war eine schreckliche Vorstellung, und bis zu dem großen Kampf in Charlies Lager letztes Jahr war Benny genauso entschlossen gewesen wie Nix, die Stadt für immer zu verlassen und einen Ort zu finden, an dem die Menschen das Leben begrüßten und glaubten, dass es eine Zukunft gab. Aber dann war es zu diesem Kampf gekommen, und Benny war gezwungen gewesen, Menschen zu töten.

Menschen!

Nicht nur Zombies.

Wie sollte das einen Weg in die Zukunft weisen?

Es lebten ohnehin nur noch wenige Menschen – kaum 30 000 in Kalifornien, und niemand konnte sagen, ob irgendwo anders noch weitere Menschen existierten. Wie sollte diese Zahl ansteigen, wenn sie sich gegenseitig umbrachten? Es war Wahnsinn.

Nur hier, nur wenn er allein war und in die Augen der Person schaute, die er einst sein würde, konnte Benny sich die Wahrheit eingestehen. »Ich will das nicht. Ich will nicht von hier weg«, murmelte er. Sein Spiegelbild und seine innere Stimme wiederholten diese Wahrheit Wort für Wort. Und sie waren sich vollkommen einig.

Er zog sich an, ging hinunter und betrachtete die Karte, die Mariposa County und den Yosemite-Nationalpark zeigte. Dann hörte er Stimmen und ging neugierig zur Hintertür. Tom stand im Hinterhof und sprach über den Lattenzaun hinweg mit Bürgermeister Kirsch und Captain Strunk. Benny öffnete die Tür einen Spalt, damit er hören konnte, was sie sagten.

»Es sind nicht nur ein paar Leute, Tom«, meinte der Bürgermeister. »Alle reden davon.«

»Es ist ja auch kein Geheimnis, Randy«, entgegnete Tom. »Schließlich wissen die Leute schon seit Weihnachten, dass ich vorhabe, zu gehen.«

»Das meine ich ja«, erklärte Captain Strunk. »Die Pfadfinder und die Händler berichten, nach Charlies Tod sei ein Haufen ziemlich übel aussehender Burschen in die Gegend gekommen.«

»Im Leichenland sehen alle ziemlich übel aus. Muss an der Landschaft liegen.«

»Komm schon, Tom«, sagte Strunk gereizt, »tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, welchen Einfluss du draußen im Leichenland hast. So etwas wie ein Gesetz mag es da zwar nicht mehr geben, aber als du noch regelmäßig Abschlussaufträge erledigt hast, haben die meisten Verbrecherbanden sich bedeckt gehalten.«

Tom lachte. »Du bist verrückt.«

»Das ist kein Witz«, protestierte Strunk. »Die Leute in der Stadt respektieren dich, auch wenn nur wenige das laut sagen …«

»Oder es nicht sagen können«, mischte sich der Bürgermeister ein.

»… und draußen im Leichenland musste man immer mit dir rechnen.«

»Ich bin nicht der Sheriff der hiesigen Gefilde«, entgegnete Tom in einem übertrieben komischen Akzent des Wilden Westens.

»Das könntest du aber sein«, sagte Strunk. »Meinen Job kannst du jederzeit übernehmen.«

»Nein danke, Keith. Du bist hier in der Stadt das Gesetz und du machst deine Sache sehr gut.«

»Siehst du, das meine ich doch«, erwiderte Strunk. »Du weißt, dass ich keinen Fuß auf die andere Seite des Zauns setzen werde. Auf gar keinen Fall.«

»Im Endeffekt läuft es doch darauf hinaus – und da sind wir beide einer Ansicht –, dass sich dieser Teil des Leichenlands in ein Niemandsland verwandeln wird, sobald du weg bist«, warf der Bürgermeister ein. »Erst werden die Händler überfallen, und wenn sich die Kopfgeldjäger zusammenschließen und niemand sie aufhält, wird ihnen bald die ganze Stadt gehören. Vielleicht sogar alle Städte.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann hörte Benny, wie Tom seufzte.

»Randy, Keith … ich weiß, was ihr meint, aber das ist nicht länger mein Problem. Wenn ihr euch erinnern wollt, habe ich vorgeschlagen, eine Miliz für das Leichenland aufzustellen. Ich habe sehr detaillierte Empfehlungen für eine von der Stadt unterstützte Bürgerwehr gegeben, die diesen Teil des Leichenlands und alle Handelsrouten kontrollieren soll. Wie lange ist das her? Acht Jahre? Und dann noch einmal im Jahr danach und …«

»Schon gut, schon gut«, knurrte Bürgermeister Kirsch. »Dadurch, dass du uns das immer wieder unter die Nase reibst, finden wir auch keine Lösung.«

»Ich weiß, Randy, und es ist auch nicht gegen euch gerichtet … Aber das ändert nichts daran, dass ich nächste Woche verschwinde. Ich werde nicht zurückkommen. Ich kann eure Probleme nicht lösen. Dieses Mal nicht.«

Die beiden Männer redeten auf Tom ein, schließlich schnitt er ihnen mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. »Wenn ihr euch die Mühe gemacht hättet, mein Schreiben zu lesen, hättet ihr gesehen, dass ich einige Vorschläge unterbreitet habe, wie man die Dinge regeln kann. Nicht alle Kopfgeldjäger sind so wie Charlie. Es gibt Menschen, denen ihr vertrauen könnt – zugegeben nur eine Handvoll, aber ich vertraue ihnen vollkommen.« Dann zählte er die einzelnen Namen an seinen Fingern ab: »Solomon Jones, Sally Two-Knives …« Insgesamt waren es 20 Namen.

»Ach, ich bitte dich«, murrte Bürgermeister Kirsch und verzog das Gesicht. »Die Hälfte davon sind Psychos und Eremiten, die sich weigern, in die Stadt zu kommen und …«

»Sie brauchen nicht in die Stadt zu kommen«, unterbrach Tom ihn. »Trefft euch irgendwo am Zaun mit ihnen und redet übers Geschäft. Gebt ihnen einen Auftrag. Bezahlt sie. Und ich schlage vor, dass ihr sie mit ein wenig Respekt behandelt, dann erweisen sie sich euch und der Stadt gegenüber vielleicht loyal.«

»Vielleicht benehmen sie sich ja in deiner Gegenwart«, gab Strunk zu bedenken, »aber ich habe schlimme Geschichten gehört.«

»Ach ja? Was für schlimme Geschichten hast du denn über Gameland gehört? Es ist wieder in Betrieb. Was wollt ihr ohne eine Miliz tun, wenn weitere Kinder verschwinden? Wie würdet ihr es finden, wenn eure eigenen Kinder auf der Straße entführt und verschleppt würden, um in einer Grube gegen Zombies zu kämpfen? Und behauptet jetzt nicht, dass das hier nicht passiert. Fragt einfach mal Nix Riley.«

Die drei diskutierten weiter, gingen dabei aber auf das Gartentor zu. Benny schloss die Tür.

Na toll, dachte er, das hat uns gerade noch gefehlt. Noch ein Grund, sich mies zu fühlen, wenn wir die Stadt verlassen.