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Benny Imura war empört, als er erfuhr, dass die Apokalypse mit Hausaufgaben verbunden war.

»Warum müssen wir diesen Kram lernen?«, beschwerte er sich. »Wir wissen doch, was passiert ist. Die Menschen fingen an, sich in Zombies zu verwandeln, die Zoms haben fast alle aufgefressen, wer stirbt, wird auch zum Zom, und die Moral von der Geschichte ist: Versuche, nicht zu sterben.«

Sein Bruder Tom schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen über den Küchentisch hinweg an. »Versuchst du absichtlich, dich wie ein Idiot aufzuführen, oder bist du ein Naturtalent?«

»Ich meine es ernst. Wir wissen, was passiert ist.«

»Ach wirklich? Und wie kommt es dann, dass du dich letzten Sommer ständig beschwert hast, keiner aus meiner Generation würde keinem aus deiner Generation die Wahrheit über die lebenden Toten erzählen?«

»Uns etwas zu erzählen, ist eine Sache. Aufsätze und unangekündigte Tests sind was völlig anderes.«

»Ja, genau – bloß nichts von dem behalten wollen, was wir euch erzählen.«

Benny hob vielsagend die Augenbrauen und tippte sich an die Schläfe. »Habe ich alles hier oben in meinem großen Wissensspeicher parat.«

»Okay, du Wunderknabe, dann sag mir, was die Seuche ausgelöst hat.«

»Das ist einfach«, antwortete Benny. »Niemand weiß es.«

»Und welche Theorien gibt es?«

Benny rammte seine Gabel in ein großes Stück gebutterter Süßkartoffel, schob es sich in den Mund und kaute geräuschvoll, während er sprach. Das tat er absichtlich, weil er Tom damit gleich auf drei Arten ärgern konnte: Tom hasste es, wenn er mit vollem Mund sprach. Er hasste es, wenn Benny mit offenem Mund kaute. Und da Benny mit vollem, offenem Mund besonders undeutlich sprach, musste Tom sich noch mehr anstrengen, um zu verstehen, was aus diesem Mund voller Süßkartoffelbrei kam. »Radioaktive Strahlung, Viren, Biowaffen, Giftmüll, Sonneneruptionen, höhere Gewalt.« Er rasselte es so schnell herunter, dass er zwischen den einzelnen Wörtern kaum Luft holte – ein weiterer Strich auf Bennys persönlicher Nervskala.

Tom nippte an seinem Tee und sagte nichts, dafür warf er Benny seinen patentierten bösen Blick zu.

Benny seufzte und schluckte. »Okay, zuerst glaubte man, es sei Strahlung von einem Satelliten.«

»Einer Raumsonde«, korrigierte Tom ihn.

»Was auch immer. Aber das ergab keinen Sinn, denn ein einziger Satellit …«

»Eine Raumsonde.«

»… könnte nicht genügend radioaktives Material transportieren, um es über die ganze Erde zu verteilen.«

»Das nehmen wir an.«

»Klar«, stimmte Benny ihm zu, »aber im Physikunterricht haben sie uns erzählt, selbst wenn es bei einem der alten Atomkraftwerke zu einer Dingsbums gekommen wäre …«

»Kernschmelze.«

»… hätte die Strahlung nicht ausgereicht, um den ganzen Planeten zu überziehen, auch wenn darin mehr radioaktives Material steckt als in einem Satelliten.«

Tom seufzte resigniert.

Benny grinste.

»Und was schließt du daraus?«

»Dass die Welt nicht durch radioaktive Alienzombies aus dem Weltall zerstört wurde.«

»Vermutlich nicht durch radioaktive Alienzombies aus dem Weltall zerstört wurde«, schränkte Tom ein. »Was ist mit einem Virus?«

Benny schnitt sich ein Stück Hühnchen ab und schob es in den Mund. Tom war ein hervorragender Koch und heute hatte er eines seiner Spezialgerichte zubereitet: Süßkartoffeln, Brathähnchen mit Pilzen und Mandeln und köstlichen Grünkohl. Ein dampfender Laib Brot, gebacken aus dem letzten Winterweizen, lag ebenfalls in Bennys Reichweite.

»Chongs Dad sagt, ein Virus braucht einen lebenden Wirt, und Zoms sind nun mal nicht mehr am Leben. Daher nimmt er an, dass vielleicht Bakterien oder ein Pilz das Virus übertragen haben.«

»Weißt du, was Bakterien sind?«

»Klar … das sind diese Bazillen, von denen man krank wird.«

»Oh Mann, ich liebe es, wenn du mich an deinem fundierten Wissen teilhaben lässt. Es macht mich stolz, dein Bruder zu sein.«

»Leck mich …«

»Achte auf deine Worte.«

Sie grinsten einander an.

Es war knapp sieben Monate her, dass sich der Hass und das Misstrauen, mit dem Benny seinem Bruder stets begegnet war, in Zuneigung und Respekt verwandelt hatten. Diese Veränderung hatte letzten Sommer begonnen, kurz nach Bennys 15. Geburtstag. In gewisser Weise wusste Benny, dass er Tom liebte, aber da Tom sein Bruder und das hier noch immer die reale Welt war, standen die Chancen, dass Benny jemals das L - Wort benutzen würde, irgendwo zwischen »Kommt nicht infrage« und »Aus dem Weg, ich muss kotzen«.

Nicht, dass er Angst vor dem L - Wort hatte – solange es um jemanden ging, der dafür eher infrage kam, wie zum Beispiel die rothaarige Königin der Sommersprossen, Nix Riley. Benny hätte ihr gegenüber dieses Wort sehr gern erwähnt, um ihr etwas zum Nachdenken zu geben, aber bis jetzt hatte er sich noch nicht getraut. Kurz nach dem großen Kampf im Lager der Kopfgeldjäger, als Benny vorsichtig versucht hatte, das Thema anzuschneiden, hatte Nix ihm unter Androhung von Prügel verboten, das Wort auch nur in den Mund zu nehmen. Also hatte Benny die Klappe gehalten – schließlich war der Zeitpunkt dafür ja auch wirklich denkbar ungünstig gewesen. Rotaugen-Charlie und der Motor City Hammer hatten Nix’ Mutter umgebracht, und da sich die Ereignisse in den Tagen danach förmlich überschlugen, hatte Nix überhaupt nicht richtig darauf reagieren, geschweige denn trauern können.

In jenen Tagen hatte er eine geradezu wahnsinnige Mischung aus totalem Horror, schwärzester Verzweiflung und schwindelerregender Freude durchlebt – Gefühle, die eigentlich gar nicht in ein und dieselbe Welt, geschweige denn zu ein und derselben Person zu gehören schienen.

Also hielt Benny Abstand und gab Nix Zeit zu trauern und auch er selbst trauerte. Mrs Riley war wirklich eine tolle Frau gewesen – freundlich, lustig und immer ein wenig traurig. Wie alle in Mountainside hatte auch Jessie Riley in der Ersten Nacht Schreckliches durchgemacht: Ihr Mann und ihre beiden Söhne waren umgekommen.

»Alle haben jemanden verloren«, erinnerte Chong ihn häufig. Doch obwohl sie damals noch klein gewesen waren, konnten Benny und Chong sich als Einzige unter ihren Freunden an diese Nacht erinnern. Chong meinte, für ihn sei es ein riesiges, verschwommenes Durcheinander aus Schreien und Rufen gewesen, aber Benny hatte erstaunlich klare Erinnerungen: seine Mutter, die ihn durch ein Fenster im ersten Stock an Tom weiterreichte – damals ein 20-jähriger Polizist in der Ausbildung –, bevor das blasse, schlurfende Wesen, das einmal sein Dad gewesen war, aus dem Schatten trat und Mom fortzerrte. Dann war Tom weggerannt, und sein Herz hatte vor Angst wie eine Trommel in der Brust geschlagen, an die er den zappelnden und schreienden kleinen Benny gedrückt hielt.

Noch bis zum letzten Jahr hatte Benny geglaubt, Tom sei in der Ersten Nacht einfach davongelaufen und habe nicht einmal versucht, Mom zu helfen. Er hatte ihn für einen Feigling gehalten.

Inzwischen wusste Benny es besser. Er wusste, welche Qualen Tom durchgestanden hatte, und auch, dass seine Mutter bereits gebissen worden war, als sie ihn durch das Fenster in Toms Arme legte. Sie war bereits verloren gewesen, und Tom hatte das Einzige getan, was er tun konnte: Er war weggelaufen und hatte damit Moms Opfer – mit dem sie ihnen beiden das Leben gerettet hatte – einen Sinn gegeben.

Benny war inzwischen fünfzehneinhalb und die Erste Nacht lag eine Million Jahre zurück.

Die alte Welt existierte nicht mehr, sie war in der Ersten Nacht untergegangen. Als die Toten sich erhoben, gingen die Lebenden zugrunde. Ganze Städte wurden von der Armee in dem vergeblichen Versuch niedergebrannt, die wachsenden Legionen der Toten aufzuhalten. Der elektromagnetische Puls der Atomsprengköpfe ließ sämtliche Elektronik durchschmoren. Alle Maschinen standen still und schon bald war das ganze Land lahmgelegt. Das gesamte Gebiet östlich der kleinen Stadt Mountainside war jetzt das weite Leichenland. Nur wenige weitere Städte lagen verstreut in den Ausläufern der Sierra Nevada, nördlich und südlich von Bennys Heimatstadt, aber der Rest der alten Welt war zerstört worden.

Oder vielleicht doch nicht?

Während ihres Abenteuers in den Bergen östlich der Stadt hatten Benny und Nix etwas gesehen, was ihnen ebenso unerklärlich war und die Welt möglicherweise genauso verändern konnte wie die Zombieplage. Hoch über ihnen war ein Ding durch den Himmel geschwebt, das Benny nur aus alten Büchern kannte: ein Jet.

Ein glänzender Jumbojet war aus dem Osten aufgetaucht, hatte eine langsame Schleife über den Bergen gezogen und war dann wieder in die Richtung verschwunden, aus der er gekommen war. Jetzt zählten Benny und Nix die Tage, bis sie aus Mountainside aufbrechen würden, um herauszufinden, wo das Flugzeug gestartet war. In dem Kalender, der neben der Hintertür an der Wand hing, waren die ersten zehn Tage des Monats jeweils mit einem großen X ausgestrichen. Darauf folgten sieben nicht markierte Tage und schließlich ein großer roter Kreis rund um den folgenden Sonntag. Das war der 17. April – heute in einer Woche. Unter das Datum hatte jemand in Blockbuchstaben EXPEDITION geschrieben.

Tom glaubte, der Jet sei in Richtung des Yosemite-Nationalparks geflogen, der genau östlich von Mountainside lag. Benny und Nix hatten Tom seit Monaten wegen dieser Expedition in den Ohren gelegen, aber je näher der Tag rückte, desto mehr zweifelte Benny daran, ob das wirklich so eine gute Idee war. Nix war jedoch wild entschlossen.

»Erde an Benny Imura.«

Benny blinzelte und hörte als eine Art Nachhall Toms Fingerschnippen.

»Hm?«

»Meine Güte … welchen Planeten hast du denn gerade umkreist?«

»Och … ich hab mich einfach so treiben lassen.«

»Nix oder der Jet?«

»Von beidem etwas.«

»Muss eher um den Jet gegangen sein«, meinte Tom. »Du hast nur ganz wenig gesabbert.«

»Sehr witzig«, entgegnete Benny. Er schaute auf seinen Teller und stellte überrascht fest, dass er leer war.

»Ja, du hast gegessen wie auf Autopilot. War irgendwie faszinierend, dir zuzusehen.«

Es klopfte an der Tür. Benny sprang auf und ging durch die Küche zur Hintertür. Er lächelte, als er den Riegel zurückschob.

»Das muss Nix sein«, sagte er, als er die Tür öffnete. »Hey, Süße …«

Morgie Mitchell und Lou Chong standen auf der hinteren Veranda.

»Äh … hallo, Zuckerschnäuzchen«, entgegnete Chong.