24

Sie ruhten sich noch eine weitere Stunde aus, bevor Tom alle zum Aufbruch aufforderte.

Benny schlenderte zu Chong hinüber, doch sein Freund wollte nicht reden. Stumm schnallte er sich seinen Rucksack um, zog die Riemen stramm und mied die Blicke der anderen.

»Dann mal los«, sagte Tom. »Ich will noch vor Einbruch der Dunkelheit an der Raststätte sein. Nix … wir marschieren nur so schnell, wie du kannst.«

»Mir geht’s gut.«

»Nein, das stimmt nicht. Du bist verletzt, und obwohl es nicht so schlimm ist, wie es aussieht, hat dein Körper ein Trauma erlebt. Hör auf deinen Körper. Wenn du dich übernimmst, brichst du zusammen, und ich schwöre bei Gott, dass ich dich dann in die Stadt zurücktragen werde. Haben wir uns verstanden?«

»Ja.«

Tom richtete den Gurt seines Schwerts. »Wir gehen von hier aus bergab und damit immer tiefer in zombieverseuchtes Gebiet. Haltet die Augen auf und befolgt meine Anweisungen.« Er warf Chong einen strengen Blick zu, der daraufhin einmal kurz nickte.

Sie brachen auf. Tom ging voran, doch bald schon hatte ihn Benny eingeholt. Nach etwa einer Meile meinte er: »Wir haben innerhalb weniger Stunden ganz schön viel vermasselt.«

Tom knurrte, meinte dann aber: »Trotz allem, was ich gesagt habe, und obwohl wirklich unglaublich viel in die Hose gegangen ist: Dieser Tag hätte schlimmer sein können. Nicht viel schlimmer … aber schlimmer.«

»Daran erinnert mich Lilah auch immer wieder«, entgegnete Benny leise. »Ich glaube, es würde ihr Spaß machen, mich zu befrieden.«

»Das bezweifle ich, aber ich gebe zu, dass sie manchmal ein bisschen eigenwillig sein kann.«

»Meinst du wirklich, dass ›eigenwillig‹ es trifft?«

»Gib ihr etwas Zeit, Kleiner. Sie hat …«

»… sechs Jahre allein gelebt, ich weiß. Ich werfe ihr ja gar nicht vor, dass sie seltsam ist, Tom. Es erscheint mir nur ein bisschen unheimlich, wenn jemand andauernd damit droht, dich zu töten.«

Tom nickte, wiederholte dann aber: »Gib ihr Zeit.«

Benny ließ sich zurückfallen und ging langsamer, bis Nix zu ihm aufschloss, aber an den starren Zügen ihres verbundenen Gesichts erkannte er, dass sie nicht in der Stimmung für Gesellschaft war und auch nicht reden wollte. Er lief eine Weile neben ihr her, aber als er bemerkte, dass sie immer wieder versuchte, ihre Schritte zu beschleunigen, ließ er sich zurückfallen.

Benny seufzte.

Als er sich umdrehte, sah er, dass Lilah neben Chong ging und die beiden sich leise unterhielten. Überrascht schnaubte Benny. Lilah war bestenfalls seltsam und meistens so emotionslos, dass er sich fragte, was wirklich in ihrem Kopf vorging. Als er sie zum ersten Mal auf einer Zombiekarte gesehen hatte, war er kurz, aber heftig in sie verknallt gewesen. Jetzt hatte er einfach nur Angst vor ihr. Und außerdem tat sie ihm auch ein wenig leid – obwohl er noch viel mehr Mitgefühl gehabt hätte, wenn sie nicht jedes Mal, sobald er auch nur einen eingerissenen Nagel hatte, ansatzlos ihr Messer zücken würde.

Der Pfad schlängelte sich durch den Wald und führte hinunter auf eine Straße, die einst asphaltiert gewesen sein musste. Jetzt war die Asphaltdecke aufgeplatzt und von den unaufhaltsamen Wurzeln der Bäume aufgeworfen worden. Junge Bäume, einige davon ein Dutzend Jahre alt, standen in der Mitte von Fahrbahnen, auf denen früher Autos entlanggerollt waren.

»Seht euch vor«, mahnte Tom. »Waffen raus, Augen und Ohren auf.«

Benny zog sein Holzschwert und schloss dichter zu Nix auf.

Sie gingen durch kniehohes Gras und über Knochen, die möglicherweise sogar von Menschen stammten, aber Benny wollte nicht stehen bleiben, um sie eingehender zu inspizieren. Ein Stück voraus lag ein brauner Lastwagen auf der Seite. Auf der verrosteten Hecktür konnte Benny die Buchstaben »UPS« erkennen. Aus dem Laderaum waren die Überreste alter Kartons gefallen, und das bisschen Pappe, das noch übrig war, hatten Regen und Schnee in 14 Jahren ausgebleicht.

Tom reckte eine geballte Faust in die Luft – das Zeichen zum Anhalten. Alle blieben wie angewurzelt stehen.

Er bedeutete ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren, zog dann lautlos sein Schwert und schlich auf den Fußballen auf den Laster zu. Der Wald war erfüllt von Vogelgezwitscher und dem Summen der Bienen. Benny fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und wartete auf den Augenblick, in dem plötzlich alles still wurde. Würde noch so ein Tier wie das Rhinozeros zwischen den Bäumen hervorpreschen – oder lauerten dort Zoms?

Tom näherte sich dem Lastwagen in einem Winkel, durch den er nur schwer zu sehen war. Wenn er sich leise bewegen wollte, konnte er so lautlos sein wie ein Schatten. Er rutschte über die Oberseite des umgekippten Lasters bis zum Heck, warf einen kurzen Blick ins Innere und verschwand dann hinter dem Fahrzeug.

Nix schlich sich neben Benny. Sie wirkte ängstlich, und ihm wurde bewusst, dass sie sich mit ihrer Wunde und dem Verband wohl ziemlich verwundbar fühlen musste.

Lautlos formte Benny mit den Lippen die Worte: »Alles in Ordnung.«

Aber das war es nicht. Als Tom hinter dem Laster hervortrat, hielt er sein Schwert locker in einer Hand, die Klinge nach unten ins Gras gerichtet. Doch selbst aus zehn Metern Entfernung sah Benny, dass Tom ganz blass war und angewidert den Mund verzogen hatte.

Hektisch bewegten sich alle auf ihn zu.

»Was ist los?«, wollte Nix wissen.

»Ist jemand von Zombies angegriffen worden?«, fragte Benny.

Tom starrte sie düster an. »Schlimmer«, sagte er. Er sah alt und traurig aus, als er sich abwandte und in die wogenden Baumkronen entlang der Straße blickte.

Nix, Chong und Benny schauten einander verwirrt und fragend an und gingen dann alle zusammen hinter den Laster. Das Summen wurde lauter und Benny begriff, dass es nicht von den Bienen stammte, die in den Frühlingsblumen Nektar sammelten.

Es handelte sich um das Brummen von Fliegen. Schwarze Schmeißfliegen, die sich in einer dichten Wolke um etwas versammelt hatten, das sich auf der anderen Seite des umgekippten Lastwagens befand.

Dort war ein Mann – besser gesagt, es war einmal ein Mann gewesen. Er stand aufrecht, die Arme zur Seite ausgestreckt und mit Seilen an die Achsen des Lastwagens gefesselt. Außer einer zerrissenen Jeans trug er gar nichts. Nicht einmal mehr seine eigene Haut. Das meiste von ihm war verschwunden. Weggefressen.

Chong wandte sich hastig ab und übergab sich ins Gras.

Nix war neben Benny zur Salzsäule erstarrt. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und als ihr Arm den seinen berührte, spürte er, dass ihre Haut kalt wie Eis war.

Benny konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er noch stand oder schon saß. Oder vielleicht träumte. Die Welt um ihn herum drehte sich so schnell, dass ihm schlecht wurde und er am liebsten laut geschrien hätte.

Dieser Mann war nicht von Zombies angegriffen worden – man hatte ihn den Zombies zum Fraß vorgeworfen.