Sie hockten wie verängstigte Vögel im Baum, beobachteten den Wald und sahen nichts als Bäume. Von Tom oder dem Rhinozeros keine Spur. Benny warf einen verstohlenen Blick auf Nix. Ihr rotes Haar klebte mit einem Film aus trocknendem Blut an ihrer rechten Wange. Sie hatte eine Schürfwunde an der Wange und erwiderte Bennys Blick nicht. Als er die Hand ausstreckte, um ihr die Haare aus dem Gesicht zu streichen, schlug sie sie weg. »Nicht.«
»Ich will sehen, wie schlimm es ist.«
»Nicht schlimm. Mach dir keine Sorgen.«
Bei diesen Worten erstarrten die anderen abrupt. Nix warf ihnen einen Blick zu und fauchte dann Benny an: »Ich bin nicht gebissen worden. Ich bin hingefallen und hab mir den Kopf irgendwo aufgeschlagen.«
»Zeig es uns«, verlangte Lilah, und als Nix zögerte, knurrte sie: »Sofort!«
Mit zitternder Hand berührte Nix ihre Stirn und strich dann langsam die Haare nach hinten. Es war alles andere als nur ein Kratzer und es blutete noch immer … aber es war eindeutig kein Biss, und Benny stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Doch dann verdüsterte sich seine Miene, als er die zerklüftete Schnittwunde entdeckte, die von ihrem Haaransatz fast bis hinunter zum Kinn verlief. Sie ging zwar nicht bis auf den Knochen, blutete aber, wie die meisten Kopfverletzungen, sehr stark.
»Oh Mann«, kommentierte Benny und holte rasch ein paar saubere Mulltücher aus seinem Verbandskasten. Er wollte sie auf ihre Wunde legen, aber Nix riss sie ihm aus der Hand und presste sie selbst auf ihr Gesicht.
»Ich weiß«, knurrte sie. »Es ist hässlich.«
Benny lächelte sie an. »Nein, das meine ich nicht. Es tut mir nur leid, dass du verletzt bist.«
Im Schatten der Blätter ließ sich der Ausdruck in ihren Augen nur schwer erkennen. Sie wandte sich ab, ohne noch etwas zu sagen.
»Wir müssen Tom finden«, flüsterte Benny.
Nix zeigte auf ihr Gesicht. »Wenn er das hier sieht, schickt er uns wieder nach Hause.«
»Das ist egal, Nix. Im Moment müssen wir ihn finden und …«
»Er hat gesagt, wir sollen hierbleiben«, beharrte sie. »Wenn er uns sucht und wir ihn gleichzeitig suchen, finden wir einander vielleicht nie.«
»Genau«, pflichtete Chong ihr eilig bei. Er war vor Angst ganz grün im Gesicht und schwitzte wie verrückt. Außerdem umklammerte er den Baumstamm, als wollte der sich von ihm entfernen. »Hierbleiben ist gut.«
Lilah nickte. »Tom ist ein guter Jäger. Er wird uns finden.«
»Aber was, wenn nicht?«, fragte Benny.
»Er wird uns finden.«
»Und was ist, wenn ihm was passiert ist?«
»Er wird uns finden.«
Dann sagte eine Stimme: »Er hat euch schon gefunden.«
Benny riss so schnell den Kopf herum, dass er fast vom Baum gefallen wäre. »Tom!«
Tom Imura stand im hüfthohen Gras am Fuß des Baums. Seine Kleidung war mit Schlamm und Grasflecken beschmiert, und sein schwarzes Haar hing ihm schweißnass und in Strähnen ins Gesicht, aber er war kein bisschen außer Atem und hielt Lilahs Speer in den Händen.
»Kommt runter«, forderte er sie grinsend auf.
Der Reihe nach kletterten sie auf den niedrigsten Ast und sprangen dann hinunter. Chong folgte als Letzter, seine Beine zitterten sichtbar.
Benny lief hinüber zu Tom. »Versteh das jetzt nicht falsch«, sagte er und umarmte seinen Bruder kurz, aber heftig. Dann ließ er Tom abrupt los und schob ihn fort, als sei er verstrahlt. »Okay, das reicht.«
Nix kam und umarmte ihn ebenfalls.
»Ein toller Start«, bemerkte Tom. Er meinte es scherzhaft, aber Nix’ Augen blitzten besorgt auf.
»Tom … ich will nicht wieder zurück!«
»Aber ich«, gestand Chong.
Sie wirbelte herum, und Benny wusste, dass sie im Begriff war, Chong mit einem beißenden Kommentar über den Mund zu fahren. Doch als sie seinen vollkommen verzweifelten Gesichtsausdruck sah, entspannten sich ihre Züge und sie schwieg. Schließlich wandte sie sich wieder an Tom und versicherte erneut: »Ich will nicht zurück.«
»Darüber reden wir gleich«, sagte Tom sanft. »Lasst uns zuerst mal zu Atem kommen.«
»Und das Tier?«, fragte Lilah, als sie ihren Speer von Tom entgegennahm. Es war kein Blut daran. »Hat nicht mal seine Haut angeritzt.«
»Naja, wenn ich ehrlich sein soll: Meine Kugeln konnten ihm auch nicht viel anhaben.«
»Du hättest ihm ins Auge schießen können«, warf Benny ein.
»Das hätte ich auch getan, wenn ich Chong und euch nicht da raus bekommen hätte. Ansonsten wäre es nämlich falsch gewesen, das Tier zu töten.«
Lilah knurrte und nickte dann.
Nix war sich weniger sicher. »Wird es uns verfolgen?«
»Nein. Das hier ist sein Revier. Es ist ein Weibchen und es hat ein Kalb hinter der Lichtung versteckt.«
»Ein Kalb?«, fragte Benny ungläubig. »Dieses Monster ist eine Nashornmutter?«
»Dann hat sie ihr Kleines beschützt?«, hakte Nix nach.
»Sieht so aus.«
»Und du hast sie vorher noch nie gesehen? Ich dachte, du wärst ständig hier oben in den Bergen unterwegs.«
»Auf diesem Pass bin ich schon eine ganze Weile nicht mehr gewesen. Das Kalb kann nicht älter als drei oder vier Monate sein. Ich weiß nicht viel über Nashörner, aber ich nehme an, dass die Mutter hergekommen ist, um ein ruhiges Plätzchen für ihr Baby zu suchen. Auf dieser Seite des Berges lebt sonst niemand.«
»Wo kommt sie her?«, wunderte sich Benny.
»Wahrscheinlich aus einem Zoo oder einem Zirkus. Früher gab es Leute, die sich einen Privatzoo hielten. Und auch in der Filmindustrie wurden Tiere eingesetzt. Es muss eine Menge wilder Tiere im Leichenland geben. Mein Freund Solomon Jones hat einmal einen toten Bären drüben im Yosemite gefunden, der aussah, als sei er von irgendetwas mit riesigen Zähnen und Klauen zerfleischt worden. Und dann gibt es da noch diesen Typen namens Preacher Jack, der draußen in Wawona lebt und schwört, er hätte Tiger in freier Wildbahn gesehen. Wenn Tiere aus dem Zoo entlaufen sind, könnte er also alles Mögliche gesehen haben. Einen Löwen oder tatsächlich einen Tiger …«
»Vielleicht handelte es sich ja um den Feigen Löwen«, murmelte Lilah.
Benny lachte. Es war das erste Mal, dass sie so etwas wie einen Witz gemacht hatte.
Tom deutete mit dem Kinn in die Richtung, aus der er gekommen war. »Vor der Ersten Nacht gab es mehr Tiger in Amerika – in öffentlichen und privaten Zoos und im Zirkus – als in ganz Asien zusammen. Und das Nashornweibchen hat einfach nur das getan, was jede Mutter tut: Es hat sein Junges beschützt.«
»Nicht nur vor uns«, ergänzte Nix.
Tom nickte. »Ich weiß. Ich habe die vielen Zombies gesehen. Lange Rede, kurzer Sinn: Legt euch nicht mit Müttern an.«
Benny nickte und erzählte den anderen, was er und Nix gesehen hatten: »Es war wirklich krass«, meinte er schließlich. »All diese kriechenden Zombies. Noch unheimlicher als die, die gehen können.«
»Nein«, widersprach Lilah, »das stimmt nicht. Du hast einfach noch nicht genug von den Gehenden gesehen.«
Benny dachte an Zak und Big Zak und an all die Zombies, denen er letztes Jahr während der Suche nach Nix begegnet war. »Es waren schon einige.«
Chong räusperte sich. »Die Zombies können dem Nashorn doch nichts anhaben, oder?«
»Wohl kaum.« Tom lachte. »Vielleicht dem Kleinen … Ich konnte es nicht richtig sehen, doch selbst wenn es jetzt noch hilflos ist, bleibt es das nicht mehr lange. Diese Dickhäuter sind wie Panzer.«
Dann bemerkte er das Blut auf Nix’ Gesicht und strich ihr das Haar nach hinten, um sich die Wunde anzusehen. Doch Nix nickte nur und wandte den Kopf ab.
»Sieht übel aus. Das muss gereinigt werden.«
»So schlimm ist es nicht.«
»Das ist keine Bitte, Nix. Hier draußen haben wir keinen Doc Gurijala und auch keine Antibiotika. Infektionen sind ebenso unsere Feinde wie Zombies. Du reinigst die Wunde jetzt und dann sehe ich sie mir genauer an. Vielleicht muss sie sogar genäht werden. Wenn ja, übernehme entweder ich das oder wir gehen zurück in die Stadt. So oder so, alle Wunden müssen sehr sorgfältig behandelt werden. Ende der Diskussion.«
Nix stieß einen langen Seufzer aus und zog mit großem Getue ihren Verbandskasten und ihre Feldflasche hervor. Dann trottete sie zu einem umgestürzten Baumstamm, setzte sich darauf und tat, was Tom ihr aufgetragen hatte.
»Ich helfe ihr«, sagte Benny und wollte zu ihr humpeln, aber Tom packte ihn an der Schulter und hielt ihn auf.
»Moment mal, Sportsfreund … du humpelst ja und hast Blut am Schuh. Wo bist du verletzt?«
Benny schluckte und warf Lilah einen vorsichtigen Blick zu, die aufmerksam geworden war und ihn misstrauisch ansah. Ihre Finger schlossen sich um den Griff ihres Speers.
»Hey – denk nicht mal dran«, warnte Benny und zeigte mit dem Finger auf sie. »Einer der Zombies hat versucht, durch meinen Turnschuh zu beißen, aber …«
»Zieh deinen Schuh aus«, befahlen Lilah und Tom gleichzeitig.
»Ich …«
»Sofort«, sagte Tom streng. Benny schaute zu Nix, die die Reinigung der Wunde unterbrochen hatte. Ihre Augen weiteten sich vor Besorgnis.
»So ein Mist«, schimpfte Benny sauer und setzte sich ins Gras, um seinen Schuh auszuziehen. Seine Socke war blutdurchtränkt.
»Oh nein«, flüsterte Chong entsetzt. »Das ist alles meine Schuld.«
Benny verzog das Gesicht. »Ach, hör schon auf. Schließlich hast nicht du mich gebissen.«
»Das Rhinozeros hat uns gejagt, weil ich es aufgeschreckt habe. Dann bin ich in die falsche Richtung gelaufen und habe alles nur noch schlimmer gemacht.«
Tom wollte etwas sagen, aber Lilah war schneller: »Ja. Du warst dumm.«
»Sie hat dich durchschaut«, bemerkte Benny und grinste.
Chong warf ihm einen wütenden Blick zu. »Du bist derjenige, dem ein Zombie einen Zeh abgebissen hat.«
Benny murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, während er seine Socke auszog. Der Nagel seines großen Zehs war zersplittert und blutete und der Zeh war geschwollen, aber es handelte sich nicht um eine Bisswunde. Lilah griff nach seinem Turnschuh, um ihn zu inspizieren, doch Tom nahm ihn ihr aus der Hand und sah sich den Zeh an.
»Nur eine Quetschung.« Erleichtert atmete er auf und gab Benny den Schuh zurück. »Schon zum zweiten Mal mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Das ist eine Metapher, stimmt’s?«
Toms Lächeln war weniger beruhigend, als es hätte sein können.
»Stimmt’s?«, wiederholte Benny.
»Wasch deine Socke aus«, sagte Tom nur, als er sich abwandte.
»Hey … stimmt’s?«
Aus Nix’ Tagebuch
Einige Händler und Kopfgeldjäger behaupten, die Zombies auf der anderen Seite der Rocky Mountains seien schneller als die, die wir hier haben. Carmen, ein Mädchen aus meiner Klasse, sagt, ihr Onkel sei Händler und habe gesehen, wie Zoms in der Ersten Nacht in Milwaukee hinter Leuten hergelaufen sind. Es gibt noch ein paar Leute aus dem Osten, die das behaupten, aber die meisten glauben ihnen nicht.
Ich hoffe, dass es nicht stimmt!!!
