Am nächsten Tag fand die Bestattung der Familie Houser statt. Über 100 Leute kamen zu der Totenfeier, die Benny gemeinsam mit Nix besuchte. Seit dem Vortag war Nix traurig und schweigsam gewesen und der Tag entsprach genau ihrer Stimmung. Wolken schoben sich vor die Sonne, und die Luft wurde kühl und feucht, aber es fiel kein Regen. In den Bäumen saßen Krähen, Grasmücken und Heuschreckenammern. Ein Stärling, zerzaust und dunkel, landete auf dem geschlossenen Sarg von Danny Houser und störte die Predigt wie ein pöbelnder Zwischenrufer, bis der Totengräber ihn mit seiner Schaufel verscheuchte.
Pfarrer Kellogg trug eine schwarze Robe und hielt eine schwere, abgenutzte alte Bibel in der Hand. In der Stadt ging das Gerücht um, die Seiten der Bibel seien mit Blut befleckt, weil der Pfarrer sich gezwungen gesehen hatte, mit dem Buch der Bücher einem seiner Schäfchen, das sich in einen Zombie verwandelt und ihn angegriffen hatte, den Schädel einzuschlagen. Es war eine schreckliche Geschichte, aber Benny glaubte, dass sie der Wahrheit entsprach. Eine Menge Geschichten dieser Art kursierten in der Stadt. Jeder, der die Erste Nacht überlebt hatte, wusste eine zu erzählen. Der Bürgermeister und seine Frau waren da, dem Anlass entsprechend gekleidet, und selbst Captain Strunk von der Stadtwache trug einen Anzug.
Benny besaß zwar keinen Anzug, hatte aber seine beste dunkle Jeans und ein sauberes weißes Hemd angezogen. Nix trug ein sehr schönes Kleid, das Fran Kirsch, die Frau des Bürgermeisters, für sie genäht hatte. Es war einen Ton dunkler als Bennys Jeans und mit Motiven von Wildblumen und Kolibris bestickt. Die Farben ließen Nix’ rotes Haar und ihre grünen Augen noch intensiver leuchten.
Tom hatte ein schwarzes Hemd zu schwarzen Jeans übergestreift und seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, die er ein paar Tage zuvor bei einem Händler gekauft hatte. Er sagte kein einziges Wort. Chong und seine Familie standen ganz in der Nähe, aber Lilah war nicht bei ihnen. Erst als Benny sich während eines der Trauerlieder umschaute, entdeckte er sie am anderen Ende des Friedhofszauns. Sie trug ein anthrazitfarbenes Kleid, das mit winzigen weißen Blüten bestickt war. Ihre schneeweißen Haare wehten in der leichten Brise und ihre Augen waren überschattet. Sie sah so kalt und schön aus wie ein Geist.
Benny bemerkte, dass Chong sie unverwandt anstarrte.
Auch Morgie Mitchell kam zu der Beerdigung, hielt sich aber wie Lilah ein paar Meter abseits.
Als die Zeremonie vorüber war, begab sich nur eine Handvoll Leute zur anderen Seite des Friedhofs, um der Beerdigung der Familie Matthias beizuwohnen. Nix fasste Bennys Hand und sie bahnten sich gemeinsam einen Weg zwischen den Grabsteinen hindurch.
»Weißt du, wie sich das anfühlt?«, fragte sie ihn.
»Es ist, als wären wir auf unserer eigenen Beerdigung.«
Benny hielt abrupt inne, aber Nix zog ihn weiter. »Denk doch mal darüber nach … in ein paar Tagen sind wir auch fort. Niemand in der Stadt wird uns je wiedersehen. Jemand anderes wird in eurem Haus wohnen, so wie in meinem bereits jetzt jemand anderes wohnt. Bis Weihnachten sind wir Geschichte. Nächstes Jahr können sich die meisten schon nicht mehr an unsere Namen erinnern. Mich werden sie ›das rothaarige Mädchen, dessen Mutter ermordet wurde‹ nennen. Und du bist ›der kleine Bruder von diesem Kopfgeldjäger‹.« Sie sprach leise, damit nur er sie verstehen konnte, und fuhr mit den Fingern über einen Grabstein. »In zehn Jahren werden sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass wir hier gelebt haben.«
»Morgie und Chong werden sich erinnern.«
»Woran? Dass wir sie zurückgelassen haben? Dass sie nicht mit uns fliehen konnten?«
»Ist es das denn? Eine Flucht?«
Nix zuckte die Schultern. »Vielleicht wird es so sein, als würde man in eine andere Welt hineingeboren. Ich weiß es nicht.«
Benny musterte sie, als sie den Hügel hinunter zum Grab der Familie Matthias gingen, aber Nix erwiderte seinen Blick nicht. Sie war zwar bei ihm, aber tief in ihre eigenen Gedanken versunken.
Tom und Chong folgten ihnen, Lilah blieb zurück.
Zaks Familie war katholisch, also hielt Pater Shannon den Trauergottesdienst. Er war ein verhutzelter alter Mann mit Brandnarben im Gesicht und genau wie Pfarrer Kellogg von einer schrecklichen Erinnerung an die Erste Nacht gezeichnet. Er schaute zu den wenigen Trauergästen und ließ dann den Blick über den Friedhof schweifen, als hoffte er, es mögen noch mehr Menschen kommen. Aber es kam niemand. Der kleine Geistliche seufzte, schüttelte den Kopf und verlas das Totengebet, das die Anwesenden nun zum zweiten Mal hörten. Nix hielt immer noch Bennys Hand umklammert und drückte sie so fest, dass er glaubte, sie würde ihm sämtliche Knochen brechen. Es tat weh, aber lieber hätte er sich die Hand abgehackt, als sie in diesem Moment wegzuziehen. Wenn er Nix damit hätte helfen können, hätte er ihr sogar noch eine Zange und einen Schraubstock gegeben.
Der Priester psalmodierte die Gebete, machte das Kreuzzeichen und sprach viel von Abbüßung der Sünden und Erlösung.
Benny beugte sich zu Nix hinüber und flüsterte: »Er klingt, als würde er Zak und seinen Dad für ebenso schuldig halten wie Charlie.«
»Vielleicht ist er ja genau wie einige andere Leute hier. Sie scheinen zu glauben, der von Rotaugen-Charlie angezettelte Wahnsinn sei mit den letzten Mitgliedern seiner Familie ausgestorben.« Nix schüttelte den Kopf. »Menschen können so blind sein.«
Benny nickte. Er hätte gern aufmunternd ihre Hand gedrückt, doch er hatte kein Gefühl mehr in den Fingern.
Nach der Beerdigung gingen Benny, Nix und Tom gemeinsam nach Hause. Tom blieb am Gartentor stehen und nahm seine Sonnenbrille ab. Seine Augen waren gerötet. Hatte er etwa geweint? Um wen? Um die Housers? Sicher nicht um Zak.
»Kurze Planänderung«, verkündete Tom. »Wir brechen schon morgen auf.«
Mit offenem Mund starrten ihn die beiden an.
»Wirklich?«, fragte Nix, und auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein breites Lächeln ab.
»Warum?«, fragte Benny gleichzeitig.
Tom schaute kurz nach oben in den düsteren Himmel und stützte sich mit den Unterarmen erschöpft auf den Querbalken zwischen den Zaunlatten. »Ich halte es in dieser verdammten Stadt nicht länger aus«, erklärte er. »Manchmal ist es wirklich schwer zu sagen, auf welcher Seite des Zauns die Toten sind.«
Nix streichelte ihm tröstend über die Schulter, woraufhin Tom traurig lächelte und ihre Hand tätschelte. Dann atmete er tief durch, drehte sich um und musterte die beiden lange und prüfend. »Allerdings stelle ich folgende Bedingungen: Wir starten zu einem Kurztrip und kampieren die Nacht in den Bergen. Nicht unten in der Ebene, wo die ganzen Zombies sind, sondern weiter oben in den sicheren Gebieten. Minimaler Wetterschutz, keinerlei Luxus. Wir probieren ein paar Wege aus, auf denen wir bisher noch nicht gemeinsam gewesen sind – Routen, auf denen auch ich schon ein paar Jahre nicht mehr gewandert bin. Wenn ihr damit klarkommt, marschieren wir danach Richtung Yosemite und weiter nach Osten.«
Tom hatte die Expedition sehr sorgfältig geplant – zumindest so sorgfältig, wie man eine Expedition durch weitgehend unbekanntes Terrain planen kann. Entlang der Strecke gab es ein paar Haltestationen, die Tom »sichere Häuser« nannte. Das erste war die Raststätte von Bruder David, gefolgt von einem alten Hotel in Wawona, aber danach waren sie auf sich allein gestellt.
»Sollte irgendetwas Unvorhergesehenes passieren und wir getrennt werden«, fuhr Tom fort, »marschiert ihr beide zur Raststätte oder nach Wawona – je nachdem, was näher ist.«
Wawona war vermutlich der sicherste Ort entlang der Route. Vor der Ersten Nacht hatten in der kleinen Stadt etwa 170 Einwohner gelebt und zusätzlich ein paar Tausend Camper während der Feriensaison. Tom hatte Benny und den anderen eine wilde Geschichte über die Schlacht von Wawona erzählt, bei der eine kleine Gruppe Nichtinfizierter gegen den Rest der Stadt kämpfte, als die Bevölkerung von der Zombieplage erfasst wurde. Die Belagerung des Hotels dauerte vier Monate, und als sie vorbei war, glich die Stadt einem Massengrab mit über 200 lebenden Toten und 16 der Nichtinfizierten darin. Die einzigen Überlebenden waren ein kauziger alter Ranger, seine beiden jungen Neffen und ein paar Wissenschaftlerinnen aus dem Zoo in San Diego. Der Ranger lebte noch immer dort oben, und wenn Tom von ihm sprach, nannte er ihn häufig Greenman, denn so lautete sein Spitzname. Während die anderen Überlebenden jetzt in den Städten wohnten, hatte sich der Ranger offenbar zu einem geheimnisvollen Waldbewohner entwickelt.
Das alte Wawona Hotel diente inzwischen als Herberge und Zwischenlager für geplünderte Waren und es hielten sich immer ein Dutzend Leute dort auf. Außerdem kursierte das Gerücht, dass auch Preacher Jack, ein Weltuntergangsprediger, im Hotel Quartier bezogen habe. Dieser erzählte gern jedem Durchreisenden seine Version vom Wort Gottes und hatte angeblich sogar versucht, ein paar Zombies zu bekehren und zu taufen.
Als Benny Tom fragte, was er von Preacher Jack hielt, zuckte sein Bruder die Achseln. »Ich habe ihn noch nicht kennengelernt, im Gegensatz zu allen anderen da draußen. Nach dem, was man so hört, muss er wohl etwas exzentrisch sein, aber ich denke, er ist recht harmlos. Ein Typ, der tut, was er für das Richtige hält. Daran ist nichts auszusetzen.«
Nix seufzte, und Tom erkundigte sich, was los sei.
»Was ist, wenn wir den Jet nicht finden?«, fragte sie vorsichtig.
»Wir suchen ihn so lange, bis wir ihn finden.« Tom lachte, als er ihre entsetzten Gesichter sah. »Machen wir uns nichts vor, Leute, wir verlassen Montainside auf jeden Fall. Die Frage ist nur, ob ihr schon jetzt dazu bereit seid.«
Nix nickte entschlossen. »Ich bin bereit«, verkündete sie grimmig.
Tom brummte nur verhalten, was für Benny so viel bedeutete wie: Das entscheide lieber ich.
»Noch etwas: Ihr könnt Chong und Morgie fragen, ob sie uns begleiten wollen. Nicht den ganzen Weg, nur über Nacht. Wenn ja, kann ich dafür sorgen, dass Bruder David oder einer meiner Freunde da draußen sie wieder in die Stadt zurückbringt. J - Dog und Dr. Skillz arbeiten immer in diesem Teil des Leichenlands.«
»Ich bin ihnen mal begegnet«, sagte Benny. »Bei der Silvesterparty vorletztes Jahr. Sie sind ziemlich schräg.«
Tom zuckte die Achseln.
»Ich hab kaum verstanden, was sie sagten«, erklärte Benny.
»Ich versteh sie auch nicht.« Tom lachte. »Die beiden waren gerade dabei, sich in der Profi-Surfszene einen Namen zu machen, als es zu den Ereignissen der Ersten Nacht kam. Surfer haben ihre eigene Sprache, besonders diese beiden. Ich glaube, sie wollen auch gar nicht, dass wir sie verstehen.«
»Warum nicht?«
»Es ist eine Art Schutzmechanismus. Erinnert ihr euch an die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Jungs?«
»Klar, die Kids, die nie erwachsen wurden.«
»Genau so sind die beiden. Einerseits verdingen sie sich als Kopfgeldjäger und können kämpfen wie Löwen, andererseits wollen sie eigentlich nicht, dass das alles der Realität entspricht. Für sie ist es, als würden sie in einem Videospiel leben. Ich habe euch von Videospielen erzählt, wisst ihr noch?«
»Natürlich«, antwortete Benny, obwohl ihm die Vorstellung unglaublich fremd war. »Aber noch mal zurück zu Dr. Skillz und J - Dog … sie glauben doch nicht wirklich, sie seien am Strand, oder?«
»Schwer zu sagen«, meinte Tom. »Für sie ist alles ein großes Spiel. Sie können bis zu den Knöcheln im Blut waten und mit dem Rücken zur Wand gegen 100 Zombies kämpfen, aber dabei gleichzeitig Witze in ihrer Surfersprache reißen. Es ist ihre Art zu überleben und für sie scheint es zu funktionieren. Fragt mich nicht, wie sie das machen.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann lächelnd fort: »Viele Leute können sie nicht leiden. Aber ich mag sie sehr.«
»Verrückte Welt«, meinte Nix.
»Du hast ja keine Ahnung, Süße«, bestätigte Tom.
Benny registrierte, dass Nix ihn nicht mit dem tödlichen Ninja-Blick bedachte, den sie ihm zugeworfen hatte, weil er sie »Süße« genannt hatte.
Tom deutete mit der Hand nach Südosten. »Also … der Greenman hat eine Hütte dort oben. Ich habe ihm und ein paar anderen mitteilen lassen, dass wir kommen. Wir haben Freunde da draußen und sichere Orte, wo wir uns ausruhen können.«
»Chongs Mom erlaubt das mit der Übernachtung vielleicht«, sagte Benny hoffnungsvoll. »Vermutlich glaubt sie, dass er es dermaßen mit der Angst kriegt, dass er danach jeden Gedanken an ›Ich will hinausziehen und die Welt erkunden‹ freiwillig aufgibt.« Er dachte kurz nach. »Wahrscheinlich hat sie sogar recht. Chong verzichtet nicht gern auf Komfort.«
»Und Morgie?«, erkundigte sich Tom.
Nix schüttelte den Kopf. »Nein, Morgie kommt nicht mit.«
Benny und Tom schauten sie an. »Du scheinst dir ziemlich sicher zu sein«, bemerkte Tom.
»Ja, ich bin mir sicher«, bestätigte sie, erklärte allerdings nicht, warum, und die beiden hakten auch nicht nach.
»Also gut«, sagte Tom, »wenn wir von hier verschwinden, dann muss ich alle Vorbereitungen, für die ich normalerweise eine Woche brauchen würde, heute erledigen. Ihr beiden verabschiedet euch jetzt besser von allen.«
»Es gibt niemanden, von dem ich mich verabschieden muss«, setzte Nix an, aber Tom unterbrach sie sofort.
»Das stimmt nicht und das weißt du auch. Wir verlassen Mountainside, Nix … Wir werden die Leute, die hier leben, nicht einfach fallen lassen. Das Ehepaar Kirsch, Captain Strunk, die Familie Chong … sie alle sind freundlich zu dir gewesen und verdienen es, dass man sich anständig von ihnen verabschiedet.«
Nix nickte zerknirscht und lief vor Scham rot an.
»Und ihr lasst beide eure Freunde hier zurück. Wenn Morgie und Chong nicht mitkommen können, wollt ihr dann einfach so verschwinden, ohne Auf Wiedersehen zu sagen? Sie denken doch, wir würden erst nächste Woche aufbrechen. Auch für sie wird es schwer werden.«
Benny seufzte und nickte zustimmend.
»Abschied nehmen ist nie leicht«, räumte Tom ein. »Selbst wenn man weiß, dass man gehen muss.«
Aus Nix’ Tagebuch
Menschen im Leichenland
HÄNDLER: Sie bringen alle möglichen Waren in gepanzerten Wagen von Stadt zu Stadt. Die Wagen werden von Pferden gezogen, die mit Teppichen und Kettenpanzern geschützt sind. Bei einem Händler kann man fast alles kaufen oder bestellen. Er besorgt es dann für ziemlich viel Geld. Überhaupt sind die Sachen, die er anbietet, sehr teuer.
PLÜNDERER: Diese Leute sind verrückt. Sie marschieren in die menschenleeren Städte und dringen dort in Häuser, Läden, Lager und andere Gebäude ein und plündern sie. Sie stehlen Vorräte, Konserven, Saatgut und Mehl, Kleidung, Waffen, Bücher und was sie sonst noch finden. Manchmal schicken sie Kopfgeldjäger vor, um die Zoms zu beseitigen, aber dann müssen sie ihre Beute mit ihnen teilen – also gehen viele Plünderer lieber das Risiko ein, allein in zombieverseuchte Gebiete vorzudringen. Tom sagt, die Lebenserwartung eines Plünderers, der auf eigene Faust arbeitet, betrage zwei Jahre, aber wenn sie überleben, könnten sie genug Geld verdienen, um sich anschließend zur Ruhe zu setzen. Er kennt nur drei, die im Ruhestand sind, und hat über zwei Dutzend andere befriedet, die weniger Glück hatten.
EREMITEN: Diese Leute machen allen Angst. Sie leben allein (oder in kleinen Gruppen) und sobald sie ihr Revier abgesteckt haben, töten sie jeden, der sich ihnen nähert – ob Mensch oder Zombie. In der Stadt wird gemunkelt, einige von ihnen seien Kannibalen.
