»Benny!«, zischte Nix plötzlich. Obwohl sie dabei flüsterte, erschien ihr ihre Stimme gefährlich laut. »Ich glaub, ich hab was gefunden.«
»Was denn?« Benny tastete sich blind in der Dunkelheit vor, um zu Nix zu gelangen. Dann hörte er sie vor Ekel aufschreien, und im selben Moment roch er den Gestank von verwesendem Fleisch. Durch die häufige Verwendung von Kadaverin hatten sie sich inzwischen an den Geruch gewöhnt, aber ihre Vorräte waren längst aufgebraucht, und dieser Gestank kam nicht aus einer Flasche. »Nix …?«
Sie zog ihn zu sich hinunter und drückte ihm etwas Hartes, Rundes in die Hand. Benny wusste sofort, was das war: ein Knochen. Er tastete den Boden ab und fand noch mehr. Einige waren sauber abgenagt, während an anderen noch Reste von Haut und Muskulatur hingen.
»Mein Gott!«, keuchte Benny entsetzt und ließ den Knochen, den Nix ihm gegeben hatte, beinahe fallen.
»Benny«, flüsterte Nix ihm direkt ins Ohr. »Der Knochen ist schwer …« Benny knurrte, als er verstand, was sie meinte, aber die Vorstellung stieß ihn trotzdem ab. Tastend erkundete er Form und Länge des Knochens. Es handelte sich um einen schweren Oberschenkelknochen, etwa 45 Zentimeter lang und mit gewölbten Enden – eines davon deutlich größer, weil es mit dem Hüftknochen verbunden gewesen war. Benny wog den Knochen prüfend in der Hand.
Plötzlich ertönte hinter ihnen ein schreckliches Geräusch. Sie hatten zu viel Lärm gemacht: Die Zombies rückten näher.
»Beeil dich!«, mahnte Benny, und sie durchwühlten die Knochen, bis sie einen weiteren Oberschenkelknochen für Benny und ein paar starke Schienbeinknochen für Nix gefunden hatten. Das Stöhnen und Schlurfen langsamer Füße erfüllte die Dunkelheit. Die Zeit war abgelaufen.
»Zumindest werden wir uns nicht kampflos ergeben«, meinte Benny.
Nix stupste ihn fest mit einem Knochen. »Halt keine heldenhaften Reden, Benny Imura. Ich will hier raus.«
Benny musste grinsen, auch wenn Nix es in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Verrückte, tapfere, unberechenbare, wundervolle Nix Riley. Er liebte sie so sehr, dass er am liebsten geschrien hätte. Und genau das tat er dann auch: Er stieß einen gewaltigen, wilden Kampfschrei aus, als er seine grausamen Waffen anhob und den Tunnel hinunter in Richtung der lebenden Toten raste. Nix ließ einen seltsam spitzen, heulenden Schrei hören und folgte ihm.
Die Wachen in der Arena tobten vor Wut und rannten auf Tom zu.
»JETZT!«, brüllte Tom und sofort wurden aus vier Fenstern des Hotels Schüsse abgefeuert. Die erste Reihe der Wachen ging in einem blutigen Haufen zu Boden. Hector Mexico lehnte sich aus einem der Fenster im ersten Stock und warf mehrere Splittergranaten auf die Zuschauertribüne. Die Menge stob auseinander, aber einige der Zuschauer waren zu langsam und wurden von den gewaltigen Explosionen erfasst. Dann hallten laute Schreie von den Wachen beim Zelt herüber, die jedoch sofort vom Stöhnen der lebenden Toten übertönt wurden, als Dutzende von ihnen ausschwärmten und sich auf sie stürzten. Die Zuschauer begriffen nicht sofort, was geschah, nicht einmal, als die Zombies in die Arena watschelten. Aber dann sahen sie die beiden Männer in Teppichmänteln und Footballhelmen: Sie durchtrennten die Stoffstreifen, mit denen die Zombies an ihre Stühle gefesselt waren, und lachten dabei amüsiert.
Plötzlich flogen die Hintertüren des Hotels auf, und Solomon Jones führte den Trupp freier, unabhängiger Kopfgeldjäger hinaus in die Schlacht: Magic Mike, LaDonna Willis und ihre Zwillingssöhne, Vegas Pete, der schwerfällige Fluffy McTeague in seinem rosa Teppichmantel, Basher mit seinen Baseballschlägern und all die anderen.
Tom sprang von der Veranda und stürzte sich auf die vor Schreck erstarrten Wachposten. Einen kurzen Moment funkelte sein Schwert hell wie ein Spiegel, doch schon im nächsten Augenblick schimmerte es blutrot.
Lilah starrte geschockt von den Tribünen hinunter in die Arena.
Tom!
Sie konnte kaum glauben, was sie da sah. Tom Imura führte tatsächlich eine Truppe bewaffneter Kämpfer gegen Preacher Jack und die Menge. Es war Wahnsinn. Es war unmöglich.
Und doch geschah es wirklich.
Rasch warf Lilah einen Blick an den panischen Zuschauern vorbei. Sie trug alles bei sich, was sie aus dem Sportgeräteschuppen mitgenommen hatte, und dazu noch einen Eimer Pech und eine Laterne. Lilah verlor keine Zeit und spießte einen schlaffen Ball auf einen Angelhaken an einer Schnur, tauchte ihn in den Pecheimer, steckte ihn mit der Laterne in Brand und schleuderte ihn weit über die Menge hinweg. Er klatschte gegen den Rücken eines der Wachposten, der sofort von gelben und orangen Flammen eingehüllt wurde. Die gellenden Schreie des Mannes waren lauter als alle anderen Geräusche in der Arena. Ruckartig drehten sich die Zuschauer in der Reihe vor Lilah um, auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Angst, Schock und Wut.
Lilah schenkte ihnen ein boshaftes Lächeln, während sie sie weiter mit brennenden Bällen bewarf. Die Schmerzensschreie der Zuschauer in den oberen Reihen übertönten die der Menschen weiter unten und die gesamte Tribüne geriet in Panik. War Chong auch hier? Lilah sah sich rasch um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Dann fletschte sie die Zähne zu einem wilden Grinsen, setzte noch einen Ball in Brand und schleuderte ihn in die Menge.
Für den Nahkampf war Sally Two-Knives zu schwer verletzt, aber sie konnte schießen. Sie schaute über den Lauf eines Scharfschützengewehrs, nahm eine der Gamelandwachen ins Fadenkreuz, drückte ab und lachte dann wie eine Hyäne.
Peng! Der Rückstoß des Gewehrs war schmerzhaft, doch Sally verwandelte diesen Schmerz in bitteres Eis in ihrem Herzen. Sie hatte während der Ersten Nacht beide Kinder an die Zombies verloren. Es war das Schlimmste, das ihr jemals zugestoßen war, und jede Nacht träumte sie davon, wie es für April und Toby gewesen sein musste, als die Monster kamen und sie holten. Die Leute hier machten aus dem Grauen der Zombieplage ein Spiel und zwangen Kinder, um ihr Leben zu kämpfen. Kinder!
Wieder drückte Sally ab. Peng! In ihren Augen war keinerlei Anzeichen von Reue zu erkennen. Nicht einmal ein kurzes Aufflackern. Der heftige Rückstoß der Waffe tat weh, aber der Schmerz befeuerte ihre Wut nur noch mehr. Sally fand weitere Ziele und drückte ab. Peng!
Benny und Nix krachten in den ersten der Zombies hinein. Rotaugen-Charlie konnte es nicht sein, dafür war der Untote zu klein – und das bedeutete, dass er weder eine Nagelweste noch einen Kopfschutz trug. Benny prallte von ihm ab und schwang zuerst den einen und dann den anderen Oberschenkelknochen. Ein leichtes Knacken war zu hören, als der erste Knüppel auf etwas traf – vielleicht eine ausgestreckte Hand – und dann ein wesentlich lauteres KNACK, als der zweite auf etwas landete, das zu massiv war für einen Kopf. Vielleicht eine Schulter? Benny hob beide Knochenknüppel über den Kopf und ließ sie auf Schulterhöhe nach unten krachen. Ein feuchtes Knirschen ertönte, dann ging der Zombie zu Boden und streifte Benny im Fall.
»Links!«, warnte Nix ihn von dieser Seite, und er hörte das sausende, krachende Geräusch ihrer Knochenknüppel. Sie trafen auf leblose Haut und zertrümmerten die untoten Knochen darunter. Wild um sich schlagend, drangen Benny und Nix vorwärts und brachen abwechselnd Arme, Handgelenke und Finger, um an Schädel und Nacken zu gelangen. Benny schmerzten die Arme, besonders der verletzte linke, aber er machte weiter und holte immer wieder aus. Nix fauchte wie eine Katze auf der Jagd und knurrte bei jedem Schlag.
Dann wurde es plötzlich hell! Allerdings nicht vom Widerschein der Fackeln am Grubenrand, sondern von einer leuchtenden gelben Lichtkugel. Ein wahrhafter Feuerball schoss in den Tunnel. Benny sah, dass es sich um einen alten Kricketball oder einen Softball handelte, der lichterloh brennend über den Boden rollte. Gleichzeitig roch Benny den Rauch und den Gestank von Pech.
Die Flammen beleuchteten die T - Kreuzung der Tunnel, und Benny sank der Mut, als er in allen Richtungen Zombies sah. Es waren mindestens 20, und fünf Reihen hinter ihnen, zu seiner Linken, ragte die riesige Gestalt von Rotaugen-Charlie auf.
Ein zweiter brennender Ball fiel 20 Meter weiter durch eine Öffnung in der Tunneldecke und landete auf dem Rücken eines Zombies im Geschäftsanzug. Er ging fast sofort in Flammen auf.
Benny warf Nix einen kurzen Blick zu. War das eine neue Wendung des Spiels? Wollte Preacher Jack sie bei lebendigem Leibe verbrennen oder sie im Rauch ersticken, falls die Zombies es nicht schafften, sie zur Strecke zu bringen? Oder versuchte Tom, ihnen auf eine Art zu helfen, die sie nicht verstanden? So oder so, es änderte nichts, denn es würde ihnen unmöglich gelingen, sich durch all die Untoten zu kämpfen, die die Tunnel verstopften.
White Bear schob seinen Vater aus dem Weg, als Magic Mike auf ihn zustürmte und aus einer Neun-Millimeter-Pistole einen Schuss nach dem anderen abfeuerte. Als eine Kugel seinen Bärenfellumhang streifte, schnappte sich White Bear einen tödlich verwundeten Zuschauer und stieß ihn in Richtung des Schützen. Magic Mike versuchte, auszuweichen, aber der verblüffte Zuschauer prallte gegen ihn, und dann stürzten beide zu Boden.
White Bear sprang über den sterbenden Mann und landete mit voller Wucht auf Magic Mike. Er packte den Kopfgeldjäger bei den Haaren und am Kinn und brach ihm mit einer tödlichen Drehung das Genick. Er grinste, als er die Knochen knacken hörte.
Im Hotel hockte Chong hinter den schützenden Ziegelsteinen der hinteren Eingangshalle. Natürlich wollte er sehen, wie Nix, Benny und Lilah sicher aus den Gruben herauskamen oder wo auch immer sie sich befanden, aber er hatte nicht die geringste Lust, an diesem Kampf teilzunehmen. Er wünschte, er wäre in Mountainside in seinem Zimmer, umgeben von Bücherstapeln, oder er würde mit Morgie am Fluss angeln.
Lilah.
Du bist ein Stadtjunge, hatte sie auf der Straße zu ihm gesagt. Hier draußen bist du nutzlos.
Plötzlich blitzte ein Licht auf, und Chong sah, wie Feuerbälle über das Feld flogen und auf die dort tobende Schlacht niedergingen. Zuerst war er beunruhigt, weil er es für einen weiteren Trick von White Bear hielt, doch dann sah er die Gestalt, die sich über der Reihe brennender Leichen oben auf der Tribüne erhob. Eine mythische Figur aus einer alten Sage – hinreißend, feingliedrig, unglaublich schön und vollkommen fremd.
Lilah!
Im nächsten Moment erschütterten Schüsse die Luft – das harte Rattern eines Schnellfeuergewehrs und einzelne laute Pistolenschüsse –, und dann sah Chong, wie das Verlorene Mädchen verschwand, wie ihr der letzte brennende Ball aus den Händen fiel und sie leblos in die Dunkelheit stürzte.
Chong schrie ihren Namen heraus: »Lilah!«
»Nein …«, flüsterte er einen Moment später. Die Männer hatten sie erschossen. Er hatte gerade zugesehen, wie sie starb. Chong griff sich sein Bokutō und rannte schreiend hinaus in den tobenden Wahnsinn.
Tom bahnte sich einen Weg durch die Menge zu White Bear. Er wollte diesen Mann und auch seinen geisteskranken Vater haben. Tom wollte die Matthias-Plage ein für alle Mal ausrotten. Sein Schwert war wie ein lebendiges Wesen in seiner Hand und bewegte sich ohne bewusste Kontrolle. Ein Mann mit einer Axt stürzte auf Tom zu, ging aber plötzlich zu Boden, sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Ein anderer hob eine Pistole, doch im nächsten Moment flogen Hand und Pistole durch die Luft, begleitet von einem durchdringenden Schrei. Dann steuerten drei Zombies auf Tom zu – zwei torkelten langsam vorwärts, aber der dritte bewegte sich mit überraschender Schnelligkeit. Eine Sekunde später waren sie verschwunden, fielen in Einzelteilen zu Boden. Das Schwert schlug eine Schneise durch das Chaos, und nichts, ob tot oder lebendig, war vor ihm sicher.
Vier Wachen stürmten herbei, um Preacher Jack mit dem eigenen Körper abzuschirmen. Dann liefen sie dicht gedrängt aus der Schusslinie inmitten der Arena in den Schutz einer dunklen Ecke. Ein Knall ertönte, woraufhin einer der Männer zu Boden ging, das halbe Gesicht weggeschossen. »Lauft … LAUFT!«, brüllte Preacher Jack und die anderen zögerten keine Sekunden, und rannten los. Peng, ein weiterer Wachposten fiel, und eine Blutfontäne schoss aus seinem Oberschenkel. Die übrigen erreichten eine Lücke zwischen den Zuschauerrängen und einem Wagen, die vom Hotel aus nicht ins Visier genommen werden konnte.
Preacher Jack schnaubte wie ein wütender Drache. Er musste zusehen, wie alles, was er und seine Söhne aufgebaut hatten, zerstört wurde – schon wieder. Von Tom Imura – schon wieder!
Er wünschte sich Toms Tod so inständig, dass es wie Säure in seiner Kehle brannte. Preacher Jack packte den Wachposten, der ihm am nächsten stand, an der Schulter und drehte ihn zu der Aluminiumverkleidung des Wagens.
»Reiß sie ab«, befahl er. Und die Wachen machten sich daran, einen Ausgang aus der Todeszone freizulegen.
Es war der nackte Wahnsinn. Zombies torkelten aus dem Zirkuszelt. Sie besaßen keinen Verstand, kannten keine Loyalität und konnten Preacher Jacks Feinde nicht von seinen Verbündeten unterscheiden. Sie griffen jeden an. J - Dog und Dr. Skillz, die sich mit den letzten Tropfen ihres persönlichen Vorrats an Kadaverin bespritzt hatten, durchtrennten die Fesseln aller Untoten und befreiten Preacher Jacks gesamte Gemeinde.
Als die Zombies in die Arena hinauswankten, wischte J - Dog sich den Schweiß aus den Augen. »Alter, der Prediger wird stinksauer sein.«
»Total«, pflichtete Dr. Skillz ihm bei, während er sich bückte und zwei Gegenstände aufhob, die Tom ihm gegeben hatte. Ein Paar Holzschwerter. »Jetzt rocken wir den Laden!«
Und dann rannten sie auf die Gruben zu.
Im Laufen schlug, stieß, prügelte und trat Chong um sich und brachte sogar große Wachen zu Fall. Vor dem Moment, in dem Lilah zusammengesackt war, hatte Chong noch nie einen anderen Menschen verletzt oder seine Hand gegen jemanden erhoben, außer gegen einen Zombie. Jetzt sah er Gesichter aufplatzen, als er sein Schwert schwang, und spürte, wie er Arme zerschmetterte.
Er wusste, dass sie ihn töten würden. Der einzige Ausweg führte durch das Tor des Todes, aber das war ihm egal. Er war bereits gebissen worden und er hatte Lilah sterben sehen … was hatte er noch zu verlieren? Und so rannte Chong seinen letzten Minuten entgegen, akzeptierte den Tod, der ihn bereits umfing. Er wollte Lilah in die Dunkelheit folgen, denn sie sollte nie mehr verloren und allein sein.
Auf der anderen Seite des Hotels führten Foxhound Jeffries und Carrie Singleton, der älteste und die jüngste der Kopfgeldjäger, die sich Sally und Solomon angeschlossen hatten, eine Gruppe von Kindern im Laufschritt in den Wald. Carrie hatte eine Armbrust umgeschnallt und suchte einen Pfad aus, der so dicht von Bäumen und Hecken gesäumt war, dass er ihre Flucht verbarg. Foxhound hatte sich zwei Gürtel mit Wurfmessern quer über die Brust geschnallt. Als ehemaliger Zirkusmesserwerfer konnte er mit dem Messer eine Spielkarte in der Luft zerschneiden. Zweimal beschlossen die Wachen, sie aufzuhalten, und beide Male bereuten sie diese Entscheidung bitter.
»Was ist da oben los?«, wunderte sich Benny. Über ihnen brandete tosender Lärm: Schreie, Schüsse und das Klirren von Stahl auf Stahl. »Das kann doch nicht alles von Tom kommen?«
Bevor Nix etwas entgegnen konnte, erfüllte ein Schrei die Luft, der sich von den anderen unterschied, weil er pure Freude auszudrücken schien, und in der nächsten Sekunde sprang eine Gestalt in die Grube hinunter: groß, dünn, einen Footballhelm auf dem Kopf und mit einem Teppichmantel bekleidet, der mit Teilen von Nummernschildern bedeckt war. Der Mann landete mit den Füßen voran auf den Schultern eines Zombies, der durch die Wucht des Aufpralls beinahe in zwei Teile zerbrach. Er hielt drei Gegenstände in den Händen: einen Speer, der fast genauso aussah wie der von Lilah, und zwei Holzschwerter. Blitzschnell wirbelte er herum und grinste Benny an.
»Hey! Kleine Samurai-Kumpel!«, rief Dr. Skillz.
»Wie …?«, fragte Nix.
»Wo …?«, setzte Benny an.
Dr. Skillz warf ihm eines der Schwerter zu. Benny ließ den Oberschenkelknochen fallen und fing es auf. Auch Nix entledigte sich des Schienbeinknochens und schnappte das andere Schwert aus der Luft auf.
»Die Wellen warten!«, rief der Kopfgeldjäger und schwang seinen Speer über ihre Köpfe. Dann drehte er sich wie ein Tänzer um die eigene Achse, und plötzlich kippten zwei Zombies zur Seite, während ihre Köpfe in die entgegengesetzte Richtung fielen.
1000 Fragen brannten Benny unter den Nägeln, aber weitere Zombies rückten nach, und ihm blieb keine Zeit mehr zum Grübeln.
Zwei von Solomons Freunden – Vegas Pete und Little Bigg, Handelswachen aus Haven – sahen Preacher Jack und seine Männer, die Schutz suchend hinter die Tribünen rannten.
»Komm, schnappen wir uns diesen Hundesohn«, knurrte Bigg entschlossen.
»Ja, genau«, stimmte Pete zu, und gemeinsam rannten sie im Zickzack über das Feld, schlugen Zombies aus dem Weg und stießen panische Zuschauer in offene Gruben. Pete feuerte eine Winchester aus der Hüfte ab, und Bigg schwang einen altmodischen Kavalleriesäbel, den er vor langer Zeit aus einem Museum geplündert hatte. Wachen und Zuschauer stürzten vor ihnen zu Boden wie Zinnsoldaten. Plötzlich machten die beiden letzten Wachen von Preacher Jack kehrt und griffen sie an. Vegas Pete verfehlte den ersten Mann zwar mit seiner letzten Patrone, zertrümmerte ihm dann aber mit seinem Gewehrkolben den Schädel. Der zweite Wachposten schnappte sich eine Mistgabel und rannte auf Little Bigg zu, doch der parierte den Angriff und setzte den Mann außer Gefecht.
Somit blieb nur noch Preacher Jack, der eingekeilt in der Ecke stand. Pete und Bigg grinsten ihn an.
»Junge, Junge, ich sitz ganz schön in der Klemme, was?«, meinte der Prediger gelassen. Man hätte erwartet, dass er sich ducken und ängstlich nach einem Ausweg suchen würde. Schließlich war er 15 Jahre älter als diese Männer, und während sie mit Muskeln bepackt waren, glich er einem Strichmännchen.
»Pfeif deine Schläger zurück, alter Mann«, riet ihm Vegas Pete, »dann kommst du vielleicht mit heiler Haut davon.«
»Na ja«, warf Little Bigg ein und zückte seinen Säbel, »vielleicht nicht mit ganz heiler Haut.«
Preacher Jacks Lippen zuckten und verzogen sich zu einem Grinsen.
»Schön, dass du das lustig findest«, sagte Pete, »denn wir werden …«
Aber weiter kam er nicht, denn Preacher Jack trat ihm gegen das Schienbein und ließ gleichzeitig seine Handkante gegen Petes Kehle sausen. Das Geräusch klang wie eine aufplatzende Eierschale. Pete taumelte nach hinten, fasste sich an den Hals und versuchte, Luft zu bekommen. Sein Gesicht lief zuerst rot und dann blau an, bevor er zu Boden ging.
Little Bigg hatte den Schock schnell überwunden und holte zu einem tödlichen Schlag gegen Preacher Jack aus. Doch der alte Mann sprang vorwärts, in die Ausholbewegung hinein. Er verpasste Bigg einen Kopfstoß, schlug ihm gegen die Brust und den Bizeps und riss ihm den Säbel aus der Hand. Ein silberner Blitz durchschnitt die Luft, und dann sackte Little Bigg zusammen, die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen. Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert.
»Amateure«, schnaubte Preacher Jack verächtlich. Er legte den Säbel in Reichweite auf die Tribüne und machte sich wieder daran, die Aluminiumverkleidung abzureißen.
Chong erreichte die Tribüne, wo er Lilah hatte fallen sehen. Er schwor sich, ihre Leiche zu verteidigen, bis das hier vorbei war, und dann … Oh Gott, dachte er, was dann?
Er würde sie befrieden müssen. Aber … war er dazu überhaupt in der Lage? Die Vorstellung machte ihn noch wahnsinniger. Er schlug einem Mann, der auf der Tribüne stand und gerade seine Pistole nachlud, mit voller Wucht in die Kniekehlen. Während der Mann nach vorn fiel, stieß Chong bereits einem Wachposten das stumpfe Ende des Schwerts in den Unterleib. Mit einem Schrei brach auch er zusammen, und Chong verpasste ihm einen Schlag, der ihn in eine Reihe von fünf Zombies katapultierte. Die Monster waren bereits blutüberströmt; zwei von ihnen hatten vor nicht einmal drei Minuten noch als Zuschauer auf der Tribüne gesessen.
Chong schwang sein Schwert wie im Rausch. Irgendwann kämpfte er fast Seite an Seite mit Solomon Jones. Der Kopfgeldjäger hielt in jeder Hand eine Machete, die wie die Flügel einer Windmühle durch die Luft sausten. Zombies und Menschen fielen um ihn herum zu Boden wie gemähtes Korn.
»Geh in Deckung, Junge!«, schrie Solomon, aber Chong ignorierte ihn. Dann trieb das Gedränge der Schlacht sie auseinander.
»Lilah«, stieß Chong hervor. Und dann brüllte er ihren Namen wie einen Schlachtruf: »Lilah!«
Benny und Nix kämpften Rücken an Rücken und ließen ihre Schwerter auf Beine, Hälse und Köpfe niedersausen. Dr. Skillz arbeitete sich durch den anderen Tunnel und trotz seiner lässigen Art kämpfte er mit der Schnelligkeit und der Präzision eines erfahrenen Killers. Mit dem verstärkten Griff des Speers zerschmetterte er Knochen und mit der Klinge trennte er Hände und Köpfe ab.
Zwei weitere Untote waren gegen einen bereits brennenden Zombie gerempelt und gingen nun ebenfalls in Flammen auf. Hitze und Rauch entwickelten sich allmählich zu einem echten Problem.
»Wir müssen hier weg!«, schrie Benny und erlitt einen Hustenanfall.
»Ich warte auf ’ne günstige Welle!«, rief Dr. Skillz.
»Was?«
Die Antwort auf Bennys Frage kam in Form eines verknoteten Seils, das in die Grube herabgelassen wurde. Dann streckte J - Dog den Kopf über den Rand. »Hey … Leute. Macht euch vom Acker. Das geht hier langsam echt krass ab.« Und schon war er wieder verschwunden. Eine Sekunde später ertönte ein Schrei und eine von White Bears Wachen fiel leblos in die Grube.
»Klettert rauf«, rief Dr. Skillz Benny und Nix zu. »Ich halte sie so lange auf.«
Benny wich vor den vorwärtsdrängenden Zombies zurück. Nur vier der Monster befanden sich zwischen ihm und Charlie. »Nix, komm!«
Sie drehte sich halb um, warf einen Blick auf das Seil und schüttelte den Kopf. Mit neu entfachter Wut wirbelte sie herum und drosch weiter auf die Zombies ein.
»Was tust du?«, fragte Benny sie entsetzt, aber dann verstand er: Während er sich gegen die Zombies verteidigt hatte, war Nix regelrecht auf sie losgegangen und hatte ihr Schwert wie eine Furie geschwungen, um sich zu Charlie vorzukämpfen. »Mein Gott, Nix … nicht!«
Nix rammte einem der Untoten das Schwert in den Hals und brachte ihn mit einem Fußtritt zu Fall.
»Hey, Kids!«, knurrte Dr. Skillz. »Nehmt das Seil … und das ist keine Bitte!«
Benny griff nach dem hin und her schwingenden Seil, doch Nix schlug sich weiter eine Schneise zu Charlie. Vier Zombies standen ihr jetzt noch im Weg, und Charlie schaufelte diese von der anderen Seite fort, um an Nix heranzukommen.
»Das werde ich bereuen«, murmelte Benny und warf Dr. Skillz das Seil zu.
»Was zum Teufel …?«, fragte der Kopfgeldjäger aufgebracht, wurde dann aber von zwei Zombies angriffen, um die er sich kümmern musste.
Benny sprang über einen gestürzten Zombie hinüber zu Nix. Sie mähte gerade den nächsten Zombie nieder, als ihr ein weiterer aus dem toten Winkel gefährlich nahe kam. Benny schwang sein Bokutō wie einen Baseballschläger nur wenige Zentimeter über Nix’ Kopf und traf das Monster mitten ins Gesicht. Durch den Schlag schnellte der Kopf des Untoten zurück, und er fiel mit solcher Wucht gegen Charlie, dass er mit Hinterkopf und Rücken in dessen Nagelweste landete und Charlie einen ganzen Schritt nach hinten trieb.
Nix erledigte einen weiteren Zombie mit derselben unbarmherzigen Präzision. Ihr Gesicht glühte von Anstrengung, Panik und Wut, und ihre Sommersprossen zeichneten sich wie ein braunes Sternbild auf ihrer Haut ab. Charlie torkelte weiter vorwärts, die ausgestreckten weißen Hände kaum zwei Meter von Nix entfernt.
Der letzte Zombie war fast so groß wie Charlie, aber nur halb so breit. Sein Gesicht glich dem eines ruhigen, freundlichen Lehrers, aber als er den Mund öffnete, verrieten seine abgebrochenen gelben Zähne alles über die schreckliche Kluft, die zwischen dem klaffte, was er im Leben gewesen war und was der Tod aus ihm gemacht hatte.
Benny formte mit den Lippen die Worte »Tut mir leid«, als er mit seinem Schwert ausholte. Die Klinge traf den Mann mitten auf dem Scheitel und er ging sofort in die Knie. Wieder hob Benny die Arme, um auszuholen, doch der Zombie kippte schlaff nach vorn und fiel direkt auf ihn, sodass sie gemeinsam auf dem Boden landeten.
In den wenigen Sekunden, bevor es Benny gelang, sich von dem leblosen Körper zu befreien, beobachtete er etwas, das ebenso Ehrfurcht gebietend und großartig wie herzzerreißend und schrecklich war. Nix Riley stand vor Rotaugen-Charlie. Er war beinahe zwei Meter groß, sie gerade einmal 1,50. Er wog fast 150 Kilo, sie weniger als ein Drittel davon. Nicht nur Nägel und eine Rüstung schützten ihn, er war auch unempfindlich gegen Schmerz – eine düstere Gabe der Zombieplage. Nix hingegen trug nur eine Weste, Jeans und ein Hemd, nicht einmal einen Teppichmantel, der ihr ein wenig Schutz geboten hätte.
Mit aller Kraft versuchte Benny, sich unter dem schlaffen Körper des Zombies hervorzuwinden, aber sein Bein war eingeklemmt, und überall um ihn herum lagen Leichen. »NIX!«, rief er verzweifelt.
Nix Riley schaute ihn kurz an. Der Wahnsinn brannte in ihren Augen und ein erschreckendes Lächeln spielte um ihre Lippen. Dann drehte sie sich blitzschnell wieder um, genau in dem Moment, als Charlie nach ihr griff.
Und plötzlich ging alles sehr schnell …
Ihr Bokutō sauste nach vorn und schlug Charlies Hände zur Seite. Fingerknochen knackten und sprangen aus den Gelenken. Ohne innezuhalten, machte Nix einen Schritt zur Seite, schwang das Holzschwert und ließ es gegen Charlies linkes Knie krachen. Durch die Wucht des Aufpralls spritzten Schweißtropfen von ihrem Gesicht und ihren Armen. Gipsstaub platzte aus ihren Taschen und hüllte den Gang in einen Dunst, der an Friedhofsnebel erinnerte. Charlie wollte sich auf sie stürzen, aber er knickte um und landete auf dem zertrümmerten linken Knie. Nix’ Schwert schwirrte durch die Staubwolke – ein geisterhaftes, seltsam schönes Bild. Die spitz zulaufende Klinge aus Hartholz traf Charlie so hart am Mund, dass kurz darauf etliche seiner abgebrochenen Zähne durch die Luft flogen und sich bis zur Hälfte in die Lehmwand bohrten. Dann änderte Nix ihre Position und holte gegen die andere Seite von Charlies Mund aus, zerschmetterte seinen Kiefer und zerstörte den Rest der abgefeilten Zahnstümpfe.
Dennoch streckte der gewaltige Zombie weiterhin die Hände nach Nix aus. Er war zwar verkrüppelt und hatte zersplitterte Knochen, aber er konnte sie noch immer herunterziehen und töten.
Mit der zarten Anmut einer Tänzerin machte Nix einen Schritt nach hinten, sodass Charlie ins Leere griff und nach vorn auf sein Gesicht stürzte. Dann trat sie ein paarmal gegen seinen Stahlhelm, der schließlich scheppernd in die Dunkelheit rollte.
»Das ist für meine Mutter, du dreckiges Schwein!«, zischte Nix und holte immer wieder mit ihrem Bokutō aus und schlug mit aller Kraft, allem Hass und aller Liebe, die in ihr waren, auf ihn ein. Als das Schwert auf Charlies Schädelbasis landete, zerbrachen sowohl die Klinge als auch der Knochen. Der große Mann, das Monster ihrer schlimmsten Albträume, brach zusammen und blieb dann reglos liegen.
Endlich gelang es Benny, sein Bein unter dem Zombie herauszuziehen. Mühsam rappelte er sich auf, hielt inne und schaute zuerst auf Charlie und dann zu Nix.
Auch sie blickte hinunter auf das, was sie getan hatte und was es bedeutete … als sich ihr Gesicht plötzlich verzerrte und sie zu weinen begann. Benny eilte zu ihr, nahm sie in den Arm, hielt sie fest, und sie klammerte sich an ihn. Ihre Tränen rannen heiß an seinem Hals herab. Das Feuer des Wahnsinns, das so lange in ihren Augen gebrannt hatte, flackerte noch einmal kurz auf, bevor es endgültig erlosch. Auf Nix’ Gesicht spiegelten sich tiefer Schmerz und unendliche Erleichterung.
»Ich … ich hab ihn umgebracht!«, wimmerte sie.
»Ja, das hast du«, murmelte Benny in ihre zerzausten roten Locken. »Du hast das Monster getötet.«
Benny warf einen kurzen Blick in Dr. Skillz’ Richtung, und als er nach oben schaute, sah er, wie sich J - Dog wieder über die Grubenöffnung beugte. »Hey, wenn ihr euch da unten lange genug ausgeruht habt, könnten wir hier oben ein bisschen Hilfe gebrauchen.«
