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Benny drängte Nix an die Wand, als sich die erste der dunklen Gestalten auf sie zubewegte. Die Grube, in der sie sich befanden, hatte einen Durchmesser von ungefähr zehn Metern, und in den Wänden waren die großen, dunklen Öffnungen von Seitengängen zu erkennen. Die Fackeln hingen zu hoch, um an sie heranzukommen.

»Matratzen!«, rief Nix. Sie rannten hinüber zu dem Stapel alter, vergammelter Matratzen und schleppten sie vor den Eingang des Tunnels mit den Zombies.

Benny ging in die Hocke, stellte eine der Matratzen hochkant und versperrte den Zombies damit die Sicht. »Das wird sie wahrscheinlich nicht aufhalten«, warnte er. »Und die Wirkung von meinem Kadaverin hat nachgelassen.«

»Besser als nichts«, meinte Nix keuchend, während sie eine weitere Matratze heranzog und aufstellte. In der Grube lagen zwar insgesamt nur drei Matratzen, aber diese blockierten immerhin die Hälfte der Tunnel. »Vielleicht verwirrt es die Zombies und sorgt dafür, dass sie langsamer werden.«

Hastig schaute Benny sich um und deutete auf einen der offenen Tunnel. Darin war keine Bewegung zu erkennen, nur der flackernde Schein einer Fackel, deren Licht hinter einer Krümmung durch eine weitere Öffnung auf den Boden fiel. Benny zog Nix in den Gang, und sie spähten hinauf zum Grubenrand, ob White Bear oder die Menge sie sehen konnten. Die Zuschauer buhten und feuerten die Untoten an, sich ihr Abendessen zu holen.

»Ich glaube, hier sind wir erst mal sicher«, flüsterte Nix. Sofort zog sie ihr Hemd aus der Hose und holte mehrere Gegenstände unter ihren Sachen hervor. Benny folgte ihrem Beispiel, und sie knieten sich auf den Boden und platzierten einige, bis dahin sorgfältig versteckte Gegenstände um sich herum. Als die Wachen sie in dem leeren Hotelzimmer eingesperrt hatten, waren sie davon ausgegangen, die beiden Teenager seien ihnen hilflos ausgeliefert. Aber Tom hatte Benny und seinen Freunden in den vergangenen sieben Monaten beigebracht, dass sie niemals hilflos waren. Er sagte, in früherer Zeit sei ein Samurai-Krieger nie unbewaffnet gewesen, auch wenn er weder Schwert noch Messer oder Speer besaß.

»Alle Waffen sind angefertigt«, hatte Tom ihnen erklärt. »Sie sind aus Dingen gemacht, die wir um uns herum finden: Holz, Metall, Seil, Leder, Stein. Die Natur hält immer alles bereit, aber nur ein kluger Krieger sieht, welche Möglichkeiten eine Situation ihm bietet, und erkennt das Potenzial.«

Während Benny und Nix darauf gewartet hatten, dass White Bear kam und sie zu den Gruben brachte, hatten sie sich umgesehen und überlegt, was das Zimmer zu bieten hatte: eine alte Lampenfassung, bröckelnden Putz, trockene Latten, ein Fenster. Und nun sortierten sie die Gegenstände, die die Situation ihnen beschert hatte: Auf dem Boden vor ihnen lagen mehrere abgebrochene Lattenstücke – dünne, schmale Leisten aus irgendeinem feinporigen Holz –, mehrere Meter Elektrokabel mit Kupferkern sowie große Fensterglasscherben, eingewickelt in Stoffstreifen, die sie von ihren Hemden abgerissen hatten, was man aber dank der Westen nicht sah. Außerdem hatten sie sich sämtliche Taschen mit abgebröckeltem Putz vollgestopft.

Irgendwo hinter der Biegung stöhnte jetzt ein Zombie, der offensichtlich das Ende des ersten Tunnels erreicht hatte. Die Menge begann zu jubeln. Benny hoffte, die Wand aus Matratzen würde die Zombies verwirren, denn jede Sekunde zählte.

»Beeil dich«, keuchte Nix.

Sie arbeiteten so schnell sie konnten, legten mehrere Glasscherben zwischen Lattenstücke und fixierten sie mit Draht, den Benny um das Holz wickelte, so fest er nur konnte. Währenddessen schnitt Nix mit einer großen Glasscherbe Stücke aus ihrer Hose heraus und verteilte den feinen weißen Gipsstaub auf die Stoffquadrate. Als sie damit fertig war, tauschten sie und Benny die Plätze. Nix nahm die provisorischen Glasscherbenbeile und umwickelte die Latten mit weiteren Streifen aus ihrer Jeans, so wie in früheren Zeiten ein Waffenmacher den Stiel einer Streitaxt umwickelt hätte. Benny verknotete die Stoffquadrate mit dem Gipsstaub darauf zu kleinen Päckchen, die er sich hastig in die Tasche steckte.

Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch, als eine der Matratzen in die Hauptgrube fiel. Eine Sekunde später umschloss eine weiße Hand den Rand der Matratzenwand und dann erschien ein lebloses Gesicht mit schwarzen Augen und schwarzem Mund. Der Zombie schob sich an dem Hindernis vorbei, wandte sich Benny und Nix zu und stieß ein hungriges Stöhnen aus, in das die anderen Untoten sofort einfielen.

Benny und Nix nahmen ihre Waffen auf und wichen zurück. Da ertönte auf einmal ein weiteres mehrstimmiges Stöhnen, dieses Mal hinter ihnen und aus einem anderen Tunnel. Benny wirbelte herum und sah, wie drei Zombies nicht weit entfernt um eine Biegung getorkelt kamen, ihre toten Gesichter gelb im Licht der Fackeln.

Oben johlte die Menge, und ein Kommentator fasste für die Zuschauer, die nicht direkt am Rand standen, die Ereignisse unten in der Grube zusammen. »Sieht so aus, als würde die erste Runde eingeläutet«, rief er mit hoher, aufgeregter Stimme. »Und was sehe ich da? Unseren beiden Wettkämpfern muss es irgendwie gelungen sein, Waffen in die Grube zu schmuggeln.«

Inzwischen schlurften acht Zombies durch die Hauptgrube und weitere drangen aus dem Seitengang. Aber noch immer befanden sich nur drei direkt vor Benny und Nix und blockierten den schnellsten Fluchtweg.

»Benny«, flüsterte Nix, »wir müssen es versuchen.«

»Okay«, antwortete er, aber seine Kehle war trocken. »Los!«

Mit den Beilen in der Hand stürmten sie vorwärts und schrien dabei aus Leibeskräften. Zwei Männer und eine Frau versperrten ihnen den Weg. Einer der Männer, ein wild aussehender Kerl mit einem von Kugeln durchlöcherten, völlig zerfetzten Teppichmantel, fletschte die Zähne und stürzte sich auf Benny. Aber gerade, als die weißen Hände ihn packen wollten, wich Benny nach rechts aus und schlug sie mit der linken Hand beiseite. Dann drehte er sich um die eigene Achse und wuchtete dem Zombie das Beil in den Hinterkopf. Die übereinandergelegten Glasscherben drangen tief in das weiche Gewebe unterhalb des Schädels ein. Es war ein guter Schlag, Benny hatte sprichwörtlich ins Schwarze getroffen. Der Zombie stürzte nach vorn.

Zur gleichen Zeit stürmte Nix links an Benny vorbei und tauchte mit einer Schulterrolle direkt unter den ausgestreckten Armen des zweiten Zombies hindurch. Sie kam aus der Rolle in den Stand, drehte sich auf den Fußballen um und ließ ihr Beil durch die Kniekehle des Zombies sausen – eine Technik, die zu Lilahs bevorzugten Kampftricks zählte. Die vertrocknete Sehne des Untoten riss wie eine zu stark gespannte Saite und er geriet ins Wanken. Nix rammte ihn mit der Schulter, woraufhin er seitlich in den dritten Zombie krachte, sodass beide zu Boden fielen.

»Los!«, schrie Benny, packte Nix hinten an der Weste und zog sie fort. Ein Zombie war ausgeschaltet, einer verkrüppelt und einer würde wieder aufstehen können. Aber das Wichtigste war, dass alle drei im Moment ausgestreckt in der Mitte des Tunnels lagen und vorübergehend eine Barriere bildeten.

Über ihnen mühte sich der Kommentator, dies der Menge zu erklären und seine Worte trafen auf einen gemischten Chor aus Buhrufen und Applaus.

»Missgeburten!«, zischte Nix verächtlich.

Benny sparte sich seinen Atem zum Laufen. Sie rannten um die Biegung, hielten dann aber abrupt inne, als zwei weitere Zombies auf sie zutorkelten. Davor ging rechts ein Seitentunnel ab, und Nix steuerte darauf zu, aber Benny war skeptisch. Im Inneren dieses Gangs war es stockfinster.

Der Erste der beiden Zombies – ein unglaublich dicker, mit den Fetzen eines blauen Krankenhauskittels bekleideter Mann, von dessen Gesicht fast nichts mehr übrig war – torkelte heran. Nix versuchte, zur Seite auszuweichen und den Mann ins Knie zu treten, verfehlte aber das Ziel, und ihr Fuß prallte vom schwabbligen Oberschenkel des Untoten ab. Er schlug nach ihr, und sie musste nach hinten springen, damit er sie nicht zu fassen bekam. Benny probierte den gleichen Tritt und traf den Mann am Knie, aber das Bein gab nicht nach. Als sich der Dicke zu seinem neuen Angreifer umdrehte, stürzte sich der zweite Zombie – eine bieder aussehende Frau mit grauen, zu einem Knoten aufgesteckten Haaren und heraushängenden Eingeweiden – auf Nix.

Nix stieß einen Schrei aus und zog ihre Füße gerade rechtzeitig nach oben, um den Zombie an der Brust zu treffen und in die Gedärme zu treten. Die grauhaarige Frau krallte ihre weißen Finger in Nix’ Weste und reckte den Hals, um sie zu beißen.

Benny war zu beschäftigt, um Nix zu Hilfe zu eilen. Der fette Zombie taumelte auf ihn zu und blockierte mit seiner massigen Gestalt den engen Tunneleingang. Er grapschte nach Benny, während dieser den Zombie mit dem Beil bearbeitete und blutleere Fleischstücke aus seinem Gesicht und seiner Brust hackte.

Mit einem letzten Schrei unbändiger Wut holte Nix mit ihrem Beil aus und versenkte die lange, spitze Glasscherbe in der Augenhöhle der grauhaarigen Untoten. Diese wich zurück, zitterte und fiel zu Boden, wobei sie Nix den Beilgriff aus der Hand zog.

Statt wegzurennen, stieß Benny sich mit einem Fuß von der Wand ab und stürzte sich auf den anderen Zombie, traf ihn am Brustbein und stieß ihn mit beiden Händen zurück. Das Monster trat mit den Fersen auf den dritten Zombie, taumelte rückwärts und krachte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden, während Benny ihn am Hemd festhielt. Der Zombie hörte nicht auf, nach Benny zu grapschen, denn der harte Aufprall schien ihm nichts auszumachen; nur seine toten Fettschichten wackelten einen Moment, als er landete. Der Dicke biss in Bennys zerfetzten Hemdärmel, warf den Kopf hin und her und riss daran wie ein Terrier. Doch Benny hackte so lange mit dem Beil auf den Zombie ein, bis er die restlichen Sehnen in seinem Gesicht durchtrennt hatte, und der Unterkiefer einfach herabfiel.

Einen Augenblick starrte Benny das Monster entsetzt an, dann warf er sich zur Seite und rollte kraftlos ab, kam aber trotzdem wieder auf die Füße. Als er sich umdrehte, sah er, wie Nix an ihrem Beil zerrte, um es aus der Augenhöhle ihres Angreifers freizubekommen. Endlich löste es sich mit einem dumpfen, schmatzenden Geräusch, und sofort rannten die beiden weiter.

Nix warf Benny ein irres, triumphierendes Lächeln zu.

Macht ihr das etwa Spaß? Dieser unfassbare Gedanke schoss Benny durch den Kopf.

Oben am Grubenrand brach die Menge in begeisterten Beifall aus. Leute warfen Sachen auf sie herunter – Erdnüsse, Zigarettenkippen, zusammengeknüllte Wettscheine. White Bear lachte aus voller Kehle und amüsierte sich prächtig. Als sie an einer weiteren Öffnung vorbeirannten, schaute Benny schnell nach oben und sah Preacher Jack. Er kannte den Mann nicht gut genug, um die Feinheiten seines Gesichtsausdrucks deuten zu können, aber was er in diesem Augenblick sah, erforderte keine Interpretation. Es war ein Ausdruck purer, boshafter Freude.

Warum?, wunderte sich Benny. Wir gewinnen doch.

Als sie jedoch um die nächste Kurve bogen, erhielt er die schreckliche Antwort auf diese Frage. Der nächste Gang war eine Sackgasse und endete nach ungefähr sechs Metern an einer nackten Wand.

In der Sackgasse stand mindestens ein Dutzend Zombies. Aber das war nicht der Grund dafür, dass Benny abrupt innehielt und entsetzt die Augen aufriss. Und auch nicht der Grund für den gellenden Schrei, der den Tiefen von Nix’ Seele entsprang.

Die gewaltige Kreatur, die vor ihnen in der Dunkelheit aufragte, verwandelte die Welt in ihren schlimmsten Albtraum. Der riesige, furchterregende Zombie war größer als alle, die sie je gesehen hatten. Er war mit Muskeln bepackt und zahllose Kämpfe zu Lebzeiten hatten auf seinem ganzen Körper tiefe Narben hinterlassen. Aus seiner Lederweste ragten Hunderte von scharfen Stahlnägeln, wie aus einem tödlichen Kaktus. Um Hals und Handgelenke trug er Eisenringe mit Stahlspitzen, und ein Helm aus glänzendem Stahl bedeckte seinen Kopf und seinen Nacken, um Verletzungen des Hirnstamms zu verhindern. Als er die Lippen zurückzog, sahen Benny und Nix, dass irgendein Wahnsinniger seine Zähne zu messerscharfen Spitzen gefeilt hatte.

Doch all das – von seiner Größe bis zu seiner grausamen Rüstung – war nicht das Schlimmste an diesem Zombie. Schließlich nannte Nix das Grauen beim Namen.

»Charlie …«