Prolog | 2051 | New York

Joseph Olivera schaute durch das kleine, runde Fenster auf das überflutete New Jersey hinunter. Der Atlantik fraß allmählich die Ostküste Nordamerikas auf, und mittlerweile waren von den einst so dicht bevölkerten Städten nur noch die Wolkenkratzer zu sehen, die aus dem glitzernden Meer herausragten. Manhattan aber, das Ziel, zu dem ihn der Drop-Copter trug, trotzte immer noch den Wassermassen. Die rundherum gebauten Dämme würden die Insel noch zehn Jahre lang oder so trocken halten. Das versicherten zumindest die Experten.

Der Copter drehte über den Dächern von Manhattans Wolkenkratzern ab und hielt auf den Times Square zu. Zur Linken konnte Joseph den Central Park ausmachen. Hier rosteten nutzlos gewordene Autos, wie Bauklötze übereinandergestapelt, vor sich hin.

Joseph ärgerte sich über seine Nervosität. Er zitterte wie ein junges Mädchen, fand er. Wegen der bevorstehenden Begegnung mit einem rätselhaften Menschen … einer lebenden Legende … Roald Waldstein.

Ich werde nicht stottern. Ich werde einen GUTEN EINDRUCK machen. Joseph schwor sich einmal mehr, dass er nicht herumstammeln würde, wie er es unter Anspannung normalerweise tat. Er würde die schwierigen Wörter vermeiden, all die Wörter, die mit einem S begannen. Er hatte sich seine Begrüßung x - mal laut vorgesagt. Sie enthielt keine S - Wörter. Er hatte sich nahezu normal angehört.

Jetzt kreiste der Copter über dem Landeplatz auf dem Flachdach des höchsten Gebäudes am Times Square, wie ein Hund, der sich in seinem Körbchen ein paarmal um sich selbst dreht, bevor er sich schlafen legt. Der Times Square sah aus wie das düstere Gespenst seiner selbst. Joseph konnte von hier oben aus Fußgänger und ein oder zwei E - Busse erkennen, sowie eine Menge von Läden, deren Fenster und Türen mit Brettern zugenagelt waren. Die Dämme würden das anschwellende Meer wohl noch eine Weile zurückhalten, doch im Grunde hatte die Stadt den Kampf gegen den ansteigenden Meeresspiegel bereits verloren.

Die Stadt liegt im Sterben.

Der Copter landete sanft auf dem Dach, und der Pilot stellte den Motor ab. Er wartete, bis die Rotoren aufgehört hatten, sich zu drehen, schob dann die Kabinentür auf und machte Joseph Zeichen, ihm nach draußen zu folgen.

»Mister Walds…s…stein ist hier abges…s…stiegen?«, stotterte Joseph. »Im Marriot?«

»Mister Waldstein wohnt hier. Er hat das Hotel letztes Jahr gekauft.«

Der Pilot begleitete ihn in ins Innere des Gebäudes. Auf einer engen Treppe ging es hinunter bis zu einem kleinen Vorraum mit Glastüren.

»Hinter den Türen liegt seine Privatsuite. Er lebt ganz alleine.« Der Pilot schaute Joseph neugierig an. »Wissen Sie, ihn persönlich treffen zu dürfen, ist eine sehr seltene Ehre. Eigentlich macht er so etwas nicht. Nie

»Er ist ganz allein in diesem Hotel?«

Der Pilot ignorierte die Frage. »Eine kleine Warnung: Er kann sehr unfreundlich und grob wirken. Aber das macht er nicht absichtlich. Er hat nur einfach keine Zeit für Small Talk.«

»O…okay.«

»Machen Sie ihm bloß keine Komplimente. Verschwenden Sie keine Zeit damit, ihm zu erzählen, dass er ein Genie, ein Visionär oder einfach insgesamt wahnsinnig toll ist. Das hat er schon Milliarden von Malen gehört. Sie verärgern ihn damit nur.«

Fantastisch. Dann kann ich meine geprobte Vorrede vergessen.

»Vor allem aber dürfen Sie nicht den ›Zwischenfall‹ ansprechen.«

»Den … Zwischenfall?«

»Chicago.«

Joseph nickte. Natürlich meinte der Mann den Unfall, der 2044 in Chicago passiert war. An dem Tag, an dem Waldstein zum ersten Mal in die Schlagzeilen kam.

»Ja. Okay.« Joseph hatte wieder angefangen zu zittern.

»Seien Sie höflich und ehrlich«, riet der Pilot mit einem ermutigenden Lächeln, »und es wird gut laufen.« Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Mister Waldstein … Doktor Joseph Olivera ist jetzt hier.«

Joseph schaute in einen kleinen Spiegel an der Wand neben den Türen. Er rückte seine Krawatte zurecht, strich eine widerspenstige Strähne seines schwarzen Haars glatt und stellte fest, dass er sich beim Zurechtschneiden seines Barts heute Morgen etwas mehr Mühe hätte geben sollen.

Über den Türen leuchtete ein grünes Lämpchen auf. »Sie können jetzt hineingehen«, sagte der Pilot.

Joseph drückte den Türflügel nach innen und betrat einen runden, von hellem Tageslicht gefluteten Raum. Es blendete Joseph, und zuerst nahm er nur die Umrisse des Mannes wahr, der vor einem der raumhohen Glaspaneele stand, die die Wände des Penthouses bildeten.

Joseph beschattete seine Augen mit der Hand und ging langsam auf ihn zu. »Mister Wald…s…stein?«

Der Raum war groß. 15 Meter Durchmesser, oder sogar mehr. Als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnten, erkannte Joseph ein an einer Glaswand stehendes Bett, einen Schreibtisch, mehrere mit Papier gefüllte Kartons, drei kleine Sessel rund um ein Tischchen. Und sonst nichts. Ein sehr leerer Raum.

Auch Waldstein konnte er inzwischen besser sehen: das dichte, widerspenstige graue Haar, die schmalen Schultern.

»Es ist eine große Ehre für mich, Sie kennenzulernen, Mister Waldstein.«

Der Mann bewegte sich, drehte sich um. Er hatte aus dem Fenster hinunter auf New York geblickt.

»Es heißt, Miss Liberty würde jetzt über das Wasser gehen.«

Joseph hatte keine Ahnung, was er damit meinte, und zuckte unwillkürlich mit den Schultern.

Waldstein kicherte glucksend. »Tut mir leid, ich habe Sie verwirrt. Ich sprach von der Freiheitsstatue. Liberty Island und der Sockel, auf dem sie steht, befinden sich mittlerweile unter dem Meeresspiegel.« Er breitete die Hände aus. »Deshalb sieht es so aus, als würde sie über das Wasser laufen.«

»Ach … Ich versch…sch…« Joseph kämpfte mit dem verflixten Wort. Er merkte, wie seine Wangen glühten, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Er gab es auf, es fertig aussprechen zu wollen. »Ich bin … Pardon, ich habe ein Problem mit…«

»Sie stottern?« Waldstein bedeutete ihm, Platz zu nehmen.

Joseph setzte sich auf einen der Sessel. Waldstein schlug eine Mappe auf und überflog ein paar gedruckte Seiten. »Doktor José Olivera …«

»Ich habe meinen Namen in Joseph umgeändert, Mis…s…ster Waldstein. Ich … äh … Die Leute denken immer, dass man sie nicht vers…s…steht, wenn man einen ausländischen Namen hat.« Er kratzte sich verlegen am Kinn. »Ich spreche Englisch ebenso gut, wie meine Muttersch…sch…«

»Spanisch.«

Joseph nickte, dankbar dafür, dass er das schwierige Wort nicht aussprechen musste.

»Doktor Joseph Olivera … Sie sind offenbar einer der Experten für genetisch beeinflusste künstliche Intelligenz.«

Sei souverän, Joseph. »Ja, das bin ich.«

»Hier steht, dass Sie für einige führende Waffenhersteller sehr beeindruckende Arbeit geleistet haben. Sie befassen sich mit gentechnisch konstruierten Kampfeinheiten, die gerade von der US-Armee getestet werden?«

»Richtig.«

»Und Sie sind außerdem ein überzeugter Anhänger der Anti-Zeitreisen-Bewegung?«

»Ja, das stimmt.«

Waldstein rückte auf seinem Sessel an die Kante vor und schaute Joseph in die Augen. »Erklären Sie mir bitte, warum.«

»Es muss jedem klar sein, der s…sich mit Naturwissensch…scha…schaften besch…schäftigt. Die Zeitlinie zu sch…sch…schtören …« Joseph unterbrach sich, atmete tief durch und versuchte, sein Stottern wieder unter Kontrolle zu bringen. »Zeitreisen … Die Theorie der Zeitreisen ist möglicherweise die sch…schl… die tödlichste Technologie, die jemals erfunden wurde. Sie besitzt die kinetische Energie, alles – wirklich alles – zu vernichten.«

Waldstein sagte nichts darauf. Er wollte ganz offensichtlich noch mehr von ihm hören.

»Ich bin der Überzeugung, dass es Dinge gibt, mit denen man nicht herumsch…sch…spielen sollte, Mister Waldstein. Auch beim Sch…streben nach Wissen sollte man einige Türen geschlossen lassen. Wenn es einen Gott gibt … Wenn es einen Gott gibt, dann sollte diese Technologie, dieses Wissen, ihm allein vorbehalten bleiben. Daran glaube ich.«

Er machte eine Pause, und dabei wurde ihm klar, dass sich das Nächste, was er sagen wollte, unglaublich dämlich anhören würde. Hatte der Pilot ihn nicht ausdrücklich davor gewarnt, es zu erwähnen?

Und jetzt tue ich genau das?

Sein Herz klopfte schneller. »Was Sie gemacht haben … Das, was ’44 in Chicago passierte, war extrem gefährlich. Aber s…s…seither, Mister Waldstein, haben Sie genau das Richtige getan. Ich glaube, dass Ihre Kampagne zur Verhinderung weiterer Experimente alles, buchstäblich alles ist, was die Mensch…h…heit retten kann, vor … vor …«

»Vor dem Ende?«

Joseph nickte. »Ja, genau. Vor dem Ende.«

Waldstein schwieg. Er saß vollkommen reglos da, und auch seine entzündeten, geröteten Augen verrieten keinerlei Gefühlsregung. Er sah aus, als würde er für alle Zeiten weiterschweigen.

Joseph fing gerade an, sich zu fragen, ob er durch die Erwähnung des Vorfalls in Chicago alles verdorben hatte, als sich Waldstein endlich wieder regte. »Joseph«, begann er. »Ich habe … Wie soll ich es nennen? Ein … Projekt, an dem ich hier arbeite. Und ich würde Sie gerne bitten, sich daran zu beteiligen.«

»Ein Projekt?«

Waldstein nickte. »Etwas, das absolute Geheimhaltung erfordert. Ein Projekt von extremer Wichtigkeit.«

Joseph öffnete überrascht den Mund. »Mit Ihnen zusammenarbeiten? Es wäre … es wäre eine unglaubliche Ehre für mich …« Ihm fehlten die Worte.

»Willigen Sie nicht zu schnell ein, Joseph. Das hier wird eine Reise ohne Wiederkehr. Absolute Geheimhaltung. Sie dürften mit niemanden darüber reden, niemals. Wir beide wären hier vollkommen isoliert.«

Joseph spürte, wie Waldstein ihn konzentriert beobachtete und nach Anzeichen von Unsicherheit forschte. »Sobald Sie hier mit drin stecken – falls ich überhaupt beschließe, Ihnen zu vertrauen – dann kommen Sie nicht mehr davon weg.«

Joseph war sich nicht sicher, was »nicht mehr davon wegkommen« bedeuten sollte. Lag darin eine Drohung verborgen? Waldstein war ein Milliardär, ein sehr mächtiger Mann. Niemand, den man gegen sich aufbringen sollte.

Nicht, dass das für ihn von Bedeutung war. Joseph hatte keinerlei Absichten, Geheimnisse zu verraten, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Seine einzige Leidenschaft war die Wissenschaft. Wissen war das Einzige, wonach er sich sehnte.

Und dieser Mann, dieser Waldstein … Er war ein Visionär. Ein Genie. Das Glück zu erleben, einem derartigen Menschen zu begegnen … und die Chance, mit ihm zusammenzuarbeiten … Nein, er hatte keine Zweifel, er spürte keinerlei Verunsicherung. Er wusste, wofür er sich entscheiden musste.

Er hatte keinerlei Zweifel, und doch war da eine nagende Neugier, die ihn dazu trieb, eine letzte Frage zu stellen: »Könnten Sie mir über dieses Projekt irgendetwas erzählen, Mister Wald…s…stein? Die ungefähre Richtung, vielleicht?«

Waldstein presste seine Fingerspitzen zusammen, schloss die Augen und versank in stummer Konzentration. Joseph nutzte den Moment, um sich noch einmal in dem weitläufigen, aufallen Seiten von Glaswänden umgebenen Raum umzuschauen. Dank seiner großen Zahl an Patenten war Waldstein auf dem besten Wege, zu einem der reichsten Männer des Landes aufzusteigen. Und dennoch schien er sehr einfach zu leben.

Ein Bett.

Ein Schreibtisch.

Ein paar Sessel.

Das war alles. Aber was brauchte ein Genie auch mehr? Der Geist ist ein Palast, in dem sich alle wahren Schätze, alle Kunstwerke, alle Freuden finden.

Nun senkte Waldstein die unter dem Kinn gefalteten Hände und öffnete die Augen. »Joseph, dieses Projekt … Eigentlich handelt es sich um eine ganz einfache Sache. Es geht einzig und allein darum, die Menschheit vor sich selbst zu retten.«

Hinter Waldsteins Schulter konnte Joseph die grüne Silhouette der Freiheitsstatue sehen. Sie war so weit weg, dass sie ein wenig flimmerte. Ein bisschen so, als tanze und winke sie. Und ja, Waldstein hatte recht: Es sah wirklich so aus, als stünde sie auf der Wasseroberfläche.

Sie wandelt über das Wasser. So wie Jesus.

»Also, Joseph, wie sieht es aus? Werden Sie mir helfen? Werden Sie mir helfen, die Menschheit vor sich selbst zu retten?«

Von dem Augenblick an, in dem Joseph diesen Raum betreten und dem berühmten Mann zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, war ihm klar, wie er auf diese Frage antworten würde.

»Ja.«