Sal starrte es durch die schmutzige Schaufensterscheibe hindurch an. Sie stand vor dem Kostümverleih und Bühnenausstatter Weisman’s Stage Surplus inmitten von Dingen, die aussahen, als seien sie aus dem Laden auf den Bürgersteig gequollen: eine alte, bemalte Indianerfigur aus Holz, eine Piratentruhe voller Kinderkostüme und Obstkisten mit alten Büchern.
Es war der 15 Minuten vom Eisenbahnbogen entfernte Laden, in dem sie die Sachen gefunden hatte, die Liam, Bob und Becks auf ihrer letzten Mission getragen hatten. Bei jenem Besuch war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie dort etwas finden konnte, mit dem man Liam und die anderen guten Gewissens ins 12. Jahrhundert schicken konnte. Doch zu ihrer großen Überraschung hatte sie in den überfüllten, nach Mottenkugeln und Lavendel riechenden Regalen Sachen gefunden, in denen die drei wie arme Bauern ausgesehen hatten – und im mittelalterlichen England nicht aufgefallen waren.
Den Laden muss ich mir merken, hatte sie damals auf dem Rückweg zur Einsatzzentrale gedacht.
Heute aber war sie nicht gekommen, um Verkleidungen für die anderen einzukaufen. Sie war wegen dem einen Gegenstand hier, den sie gerade durch die Glasscheibe hindurch betrachtete. Das Ding auf dem Schaukelstuhl gleich neben dem Fenster. Auf der abgenutzten Sitzfläche waren Stofftiere und Puppen wie für ein Familienfoto aufgereiht. Alte Puppen, ein Clown, von dem wohl jedes Kind Albträume bekommen würde, ein Elefant mit überdimensional großen Ohren, ein Frosch, dem aus einer geplatzten Naht die Füllung quoll … und ein kleiner, himmelblauer Teddybär mit einem einzigen Knopfauge. Von dem fehlenden Auge war nur noch ein Rest des Fadens übrig, mit dem es angenäht gewesen war.
»Ich kenne dich«, flüsterte Sal.
Der Teddybär war ihr bei ihrem letzten Besuch hier im Laden aufgefallen. Aber dann war so viel passiert, und sie hatte ihn ganz vergessen.
Neulich war er ihr jedoch wieder eingefallen, und jetzt stand sie hier. Etwas hatte sie hierhergezogen, etwas zwang sie dazu, den traurig aussehenden Bären anzuschauen. Er erinnerte sie an etwas. Eine Digi-Stream-Show aus ihrer Zeit? Eine Figur aus einem alten Zeichentrickfilm? Irgendetwas, der Schatten einer Erinnerung, der sich ihr entzog, wann immer sie versuchte, ihn zu fassen zu kriegen.
Letzte Nacht dann hatte sie wieder diesen Traum gehabt. Nein, keinen Traum. Einen Albtraum. Sie hatte wieder den Moment durchlebt, in dem der alte Mann – Foster – sie dem sicheren Tod entrissen und zur Einsatzzentrale der Agentur gebracht hatte. Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern gelebt hatte, einer dieser himmelhohen Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, die dieser Tage überall in Mumbai wie Pilze aus dem Boden schossen, brannte, sein Stahlskelett hatte bereits begonnen, sich zu verbiegen und stand kurz davor, einzustürzen.
Dieser Tage? Sie verbesserte sich in Gedanken. Sie kam aus dem Jahr 2026. Dieser Tage, das war hier, wo sie sich jetzt befand, im Jahr 2001. Ihre neue Heimat … irgendwie.
Foster hatte sie aus der allerletzten Sekunde ihres Lebens herausgeholt. Er hatte sie vor die Wahl gestellt: Sie konnte für die Agentur arbeiten – oder aber gemeinsam mit ihren Eltern in den Flammen sterben.
Eine tolle Wahl.
Nicht dass sie tatsächlich dazu gekommen wäre, ihre Entscheidung zu treffen. Dada hatte für sie entschieden, und sie auf den alten Mann zugeschoben. Während Mama geweint und geschrien hatte, weil sie ihr Kind noch ein letztes Mal umarmen wollte.
Halt! Hör damit auf!
Sal biss sich auf die Unterlippe. Sie sollte diese Erinnerung nicht immer wieder abspulen. Die Bilder in ihrem Kopf waren ohnehin noch frisch genug. Und gleichzeitig war der entsetzliche Moment vorbei, ihre Eltern waren tot, von ihnen war nur noch Asche übrig. Und sie war hier, in New York, anstatt in Mumbai. Es war vorbei. Oder, besser gesagt: Es würde eines Tages vorbei sein. Denn es passierte erst in 25 Jahren.
Es würde erst noch passieren … Das machte den Verlust ihrer Eltern etwas erträglicher: Denn jetzt im Augenblick waren sie am Leben. In diesem Augenblick waren sie Kinder, junge Leute ihres Alters, und hatten einander noch nicht einmal kennengelernt. Das würde erst 2013 passieren, in zwölf Jahren. Sie würden einander zum ersten Mal auf einer Elektronikmesse in Neu Delhi begegnen. Die Familien von beiden würden sich mit der Verbindung einverstanden erklären, und noch im selben Jahr würde Sals Existenz in Form eines Embryos im Bauch ihrer Mutter beginnen.
Und jetzt starrte sie auf einen kleinen, blauen Teddybär, der eigentlich unmöglich hier sein konnte – hier, im New York des Jahres 2001. Denn es war ein Bär … Im Grunde: der unverwechselbare Bär, den Rakesh, der jüngste Sohn ihrer Nachbarn, Mr und Mrs Chaudhry, ständig fest in der Hand gehalten, geherzt und besabbert hatte.
Er war es, ganz bestimmt. Genau derselbe Teddy.
Das war das Letzte, was sie in der letzten Sekunde ihres alten Lebens im Jahr 2026 gesehen hatte … dieser Teddybär, der wirbelnd in den Abgrund gestürzt war, der sich dort aufgetan hatte, wo noch im Augenblick zuvor Fußboden gewesen war.
Danach war sie hier aufgewacht, im New York des Jahres 2001.
»Es ist derselbe, ich bin mir ganz sicher«, flüsterte sie mit gerunzelter Stirn. Auf ihre Augen und ihr fotografisches Gedächtnis konnte sie sich hundertprozentig verlassen. Sie sah die kleinen Dinge, die winzigen Details: der Winkel, in dem das Knopfauge vom Kopf abstand, die Fäden, die sich nur durch drei der vier Löcher des Knopfs zogen. Die abgenutzten Stellen am linken Arm des Bären und der Umstand, dass der rechte Arm neuer aussah, so als sei er irgendwann ersetzt worden.
Die winzigen Details. Ihre Augen und ihr Verstand wurden von solchen Dingen magisch angezogen. Schon fast mehr ein Zwang, als eine Gewohnheit. Sie schob ihr langes Pony hinter ein Ohr und beugte sich vor, bis ihre Stirn sachte gegen die Glasscheibe stieß. Sie hatte schon immer die kleinen Einzelheiten bemerkt, die andere übersahen, in einem scheinbaren Chaos die Muster erkannt. Deshalb war sie bei dem Spiel Pikodu immer so gut gewesen.
»Es ist derselbe«, flüsterte sie wieder.
Shadd-yah, wie konnte das nur sein?
In ihrer Jackentasche vibrierte ihr Handy. Sie fischte es heraus. »Ja?«
»Hast du es vergessen?« Maddy seufzte ungeduldig.
»Vergessen? Was?«
»Heute? Heute Vormittag? Ein Besuch im Museum? Erinnerst du dich nicht?«
Autsch!, dachte Sal, und stieß sich dann auch noch aus Versehen den Kopf am Schaufenster an. Ja, natürlich, sie hatten gestern Abend vor dem Schlafengehen darüber gesprochen. Aber sie hatte wieder den Traum gehabt … den Albtraum… und hatte es dadurch vollkommen vergessen. Sie fluchte leise. »Ich bin schon auf dem Weg.«
»Wir können uns auch dort treffen. Auf den Stufen vor dem Eingang?«
»Okay.« Sal klappte ihr Handy zu. Sie musste wieder darüber lächeln, wie altmodisch es aussah – wenn man es mit den T - Buds verglich, die sich die Leute in Mumbai einfach über die Ohren gestülpt hatten.
Sie sah erneut den blauen Bären an. Den blauen Teddy, der eigentlich nicht hier sein dürfte.
Er starrte mit seinem einen Knopfauge zurück. Ein herausfordernder Blick, fand sie. Als wolle der Teddy sie herausfordern, zu erklären, warum sie meinte, dass er hier nichts zu suchen hätte.
