Benny konnte nicht hinsehen, wollte Nix aber auch nicht hängen lassen. Sie bestand jedoch darauf, dass er verschwand, also trollte er sich hinüber zu Tom, der im Schatten eines Baums wartete.
»Ein toller Start«, meinte Tom leise.
»Ich würde ja sagen ›könnte schlimmer sein‹, aber irgendwie stimmt das nicht. Auf alle Fälle ist es zum Kotzen«, bemerkte Benny.
»Das kannst du laut sagen«, pflichtete Tom ihm bei.
Sie starrten in das satte Grün des Waldes.
»Sie ist stark«, meinte Tom nach einer Weile.
»Nix? Und ob.«
Die Minuten vergingen, und Benny versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als daran, wie es sich wohl anfühlte, wenn einem eine gebogene Nadel – die aussah wie einer von Morgies Fischhaken – durch die Gesichtshaut gestochen wurde, gefolgt von dem Faden, der dann langsam festgezogen wurde. Das Zittern, während man auf den nächsten Stich wartete. Und den nächsten.
Benny war sich ziemlich sicher, dass er total durchdrehen würde. Angespannt lauschte er auf Nix’ Schreie. Aber mit jeder Sekunde, die verstrich, begriff er weniger, warum sie nicht schrie. Er hätte geschrien und er suchte auch gar keine Entschuldigung dafür. Zu schreien erschien ihm als eine ziemlich gute Reaktion auf das, was Nix da gerade durchmachte.
Doch die Schreie blieben aus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wiederholte Tom, was er vorhin gesagt hatte: »Sie ist stark.«
»Und ob«, bestätigte Benny erneut. Er hatte die Fäuste so fest geballt, dass seine Fingernägel kleine, halbmondförmige Kerben in seine Handflächen gruben.
»Mädchen sind stärker als Jungs«, bemerkte Tom.
»Ist ja nichts Neues«, sagte Benny.
»Ich mein ja nur.«
Sie starrten in den Wald.
»Tom? Wenn das noch lange dauert …«
»Was dann?«
»Dann erschieß mich.«
Tom lächelte.
Benny schaute zuerst zu Tom und dann hinüber zu Chong, der noch immer im hohen Gras hockte. »Ist das wirklich alles Chongs Schuld?«
Tom zuckte die Achseln.
»Nein, bitte sag es mir.«
»Wenn du wirklich eine ehrliche Antwort willst«, sagte Tom leise, »… ja. Chong hat nicht zugehört, als ich ihn aufgefordert habe, still zu sein, und er hat nicht getan, was ich ihm sagte, als das Nashorn hinter uns her war.«
»Er hat Angst.«
»Doch, klar«, gab Benny widerstrebend zu, »aber ich bin schon mal hier draußen gewesen.«
»Nimm ihn nicht in Schutz. Du hast auf mich gehört, als wir das erste Mal hierhergekommen sind«, erinnerte Tom ihn. »Und dabei konntest du mich damals überhaupt nicht leiden.«
»Ich weiß.«
»Nicht alle Menschen sind wirklich taff«, stellte Tom fest. »So ist das nun mal im Leben. Chong gehört zu den nettesten Menschen, die ich kenne. Seine Familie auch. Wenn es unserer Spezies gelingen sollte, der Ausrottung zu entgehen und etwas Besseres aufzubauen als das, was wir vorher hatten, dann brauchen wir mehr Menschen wie ihn. Es wäre eine gesündere, klügere und wesentlich zivilisiertere Welt.«
»Aber …?«
»Aber ich glaube nicht, dass er für das hier geschaffen ist.«
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Es wäre besser, wenn er nicht mit uns kommt.«
Benny erwiderte nichts.
»Siehst du das auch so, Kleiner?«
»Keine Ahnung«, seufzte Benny. »Chong ist mein bester Freund.«
»Und genau deshalb ist er hier. Er ist nur mitgekommen, weil er dein Freund ist und weil er nicht so recht weiß, wie er sich verabschieden soll«, erklärte Tom. »Abschied nehmen ist so ziemlich das Schwerste im Leben eines Menschen. Ich erinnere mich genau, wie schwer es mir damals, noch vor der Ersten Nacht, gefallen ist, mich nach der Highschool von meinen Freunden zu verabschieden. Wir haben uns gegenseitig ins Jahrbuch geschrieben und versprochen, dass wir immer in Verbindung bleiben werden. Aber schon damals wussten wir, dass das eigentlich eine Lüge war. Eine gut gemeinte und hoffnungsvolle Lüge, aber trotzdem eine Lüge.«
»Das war was anderes.«
»Mag sein, aber alles ist relativ. Genau wie Schmerzen. Was Nix gerade durchmacht, sind nicht die schlimmsten Schmerzen, die sie je gehabt hat. Deshalb kann sie damit umgehen. Für mich war es schrecklich, mich von meinen Highschool-Freunden verabschieden zu müssen. Wir gingen jeder auf ein anderes College. Die alte Clique, mit der ich aufgewachsen war, fiel auseinander. Es war, als würde etwas sterben. Ich habe wirklich getrauert.«
Benny dachte daran, wie er mit Morgie auseinandergegangen war und nickte. »Ich glaube, es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, dass Fortgehen so endgültig ist.«
»Das muss es nicht sein«, meinte Tom.
»Aber für Nix ist es das.«
Tom nickte.
»Was sollen wir mit Chong machen?«, fragte Benny.
Tom deutete mit dem Kinn nach Südosten. »Da drüben verläuft ein Seitenweg zur Raststätte von Bruder David. Meine Freundin Sally Two-Knives kommt heute oder morgen hier durch. Ich werde an der Raststätte warten, bis sie auftaucht, und sie dann bitten, Chong nach Hause zu bringen.«
Benny besaß die Zombiekarte von Sally Two-Knives. Die Kopfgeldjägerin arbeitete überwiegend außerhalb der Städte, weiter im Norden: eine große Frau mit dunkler Haut und Irokesenschnitt, die ein Paar zueinander passender Armeebajonette um die Oberschenkel geschnallt trug. Der Text auf ihrer Zombiekarte lautete:
Karte Nr. 239: Sally Two-Knives. Die ehemalige Roller-Derby-Spielerin ist heute eine der taffesten und zuverlässigsten Kopfgeldjägerinnen und Fährtensucherinnen im Leichenland. Verscherzt es euch nicht mit ihr, sonst müsst ihr schmerzlich feststellen, wie gut sie mit ihren beiden rasiermesserscharfen Bajonetten umgehen kann!
Wie die meisten Zombiekarten enthielt auch diese nicht viele Informationen, aber Benny gefiel das Lächeln auf dem Gesicht der kämpferischen Frau. Sie war keine Schönheit, doch ihre braunen Augen verrieten, dass sie Humor besaß.
Bruder David hingegen war ein Raststättenmönch, der zu den Kindern Gottes gehörte, im Leichenland lebte und sich so gut er konnte um die lebenden Toten kümmerte. Er und die anderen Mitglieder seines Ordens bezeichneten die Zombies als die Kinder Lazarus’ und sahen in ihnen die »Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen werden«, wie es in der Bibel stand. Benny konnte diese Vorstellung nicht so recht nachvollziehen – besonders nicht nach alldem, was er und Nix auf dem Feld erlebt hatten.
»Du kannst dich morgen früh von Chong verabschieden.«
»Wird Chong in Sicherheit sein? Ich meine … kann Sally Two-Knives ihm auch genug Schutz bieten?«
Tom lachte. »Mehr als genug. Sie tötet nicht gern Zombies und kennt deshalb alle freien und sicheren Wege.«
Beide schwiegen eine Weile und warfen mehrmals einen Blick hinüber zu Lilah, die noch immer an Nix’ Gesicht arbeitete.
Als Tom fortfuhr, wirkte er betont fröhlich: »Wenn wir Glück haben, holen wir den Greenman ein und bleiben vielleicht ein paar Tage bei ihm.«
»Den Greenman, echt? Cool! Ich kann es gar nicht erwarten, ihn kennenzulernen«, sagte Benny. Er besaß auch eine Greenman-Karte. Darauf war ein großer, dünner Mann zu sehen, dessen Kleidung vollständig mit grünen Blättern, Beeren und Kiefernzapfen bedeckt war. Der Künstler hatte ihn mit einer Maske aus Eichenlaub und Eicheln dargestellt. Der Text auf der Karte lautete:
Karte Nr. 172: Greenman. Über diese mysteriöse Gestalt, die in den Wäldern zwischen Magoon Hill und Yosemite umherstreift, ist nur wenig bekannt. Gibt es ihn wirklich oder ist er ein Geist? Oder gar ein gefährlicher Irrer, der darauf wartet, über arglose Reisende herzufallen?
Nehmt euch in Acht vor dem Greenman!
»Hört sich an wie eine Romanfigur.«
»Er ist sehr real«, sagte Tom, »allerdings auch ein bisschen eigen. Sein richtiger Name ist Artie Mensch. Früher war er Ranger im Yosemite-Nationalpark, aber seit der Ersten Nacht ist das Leichenland seine Heimat. Er kommt nie in die Stadt und redet nur mit ganz wenigen Leuten. Bleibt lieber für sich.«
»Zieht er sich wirklich so an?«
»Manchmal schon. Wenn er sich getarnt hat, kann man direkt an ihm vorbeilaufen, ohne ihn zu sehen. Damit hält er sich auch die Zoms vom Hals. Und er hat mit Kräutermixturen experimentiert, um den gleichen Effekt zu erzielen wie mit Kadaverin. Ich weiß nicht, ob es ihm inzwischen gelungen ist.«
»Auf der Zombiekarte steht, dass er vielleicht verrückt ist«, sagte Benny.
Tom zuckte die Achseln. »Die meisten Menschen sind ein bisschen verrückt, besonders seit der Ersten Nacht, und ganz besonders, wenn sie hier draußen im Leichenland leben. Aber der Greenman ist ein guter Kerl und ein Freund der richtigen Art von Reisenden.«
»Und was ist ›die richtige Art von Reisenden‹?«
»Sagen wir mal so: Greenman hätte Charlie oder den Hammer nicht zum Tee eingeladen.« Tom schaute in die Ferne, als würde er in seine eigenen Gedanken blicken. »Ich habe so manche lange Nacht mit ihm verbracht, über die alten Zeiten geredet und alles gelernt, was er zu lehren hatte.«
»Du hast von ihm gelernt?«
»Aber ja. Vielleicht ist er der weiseste Mensch, der noch in dieser Welt herumläuft. Auf jeden Fall der weiseste, den ich kenne.«
Ein paar Minuten später deutete Benny in Richtung Wald. »Wie weit bist du schon da draußen gewesen?«
»Seit der Ersten Nacht? Bis zur anderen Seite des Yosemite, aber ich gehe selten so weit. Sobald wir den Park durchquert haben, ist es für mich genauso Neuland wie für euch.«
»Und wir werden die ganze Zeit total spartanisch leben?«
»Ach was. Vor ein paar Wochen habe ich bei Bruder David ein paar Vorräte deponiert. Dazu ein paar Teppichmäntel, weiteres Kadaverin, Waffen, Zelte und so weiter. Was wir sonst noch benötigen, bekommen wir von den Händlern in Wawona. Das Pfadfinderlager haben wir nur heute Nacht aufgeschlagen. Für die echte Expedition sollten wir so gut wie möglich ausgerüstet sein.«
Benny schaute zu den beiden Mädchen hinüber und sah, dass Lilah dabei war, Nix einen Verband anzulegen. Lilah hatte die Schnittwunde genäht, ohne dass Nix auch nur einen Ton von sich gegeben hatte.
»Apropos verrückt«, murmelte Benny.
»Nix oder Lilah?«, fragte Tom, während er zu den beiden Mädchen hinüberblickte.
»Such’s dir aus«, sagte Benny.
Tom schnaubte. »Hast du jemals versucht, dich in Nix’ Lage hineinzuversetzen?«
»Andauernd.« Benny schüttelte den Kopf. »Ich kenne sie schon mein ganzes Leben, und wir sprechen über alles Mögliche … aber dann, wenn wir trainieren, sehe ich etwas in ihren Augen oder sie sagt irgendwas Komisches, und ich frage mich, ob ich sie überhaupt kenne.«
»Aber wieso ist sie deswegen verrückt?«
»Ich weiß es nicht. Ich … finde nicht die richtigen Worte dafür. Seit letztem Jahr hat sie sich verändert. Sie ist geradezu besessen von dieser Expedition. Wenn wir darüber sprechen, ist sie die meiste Zeit konzentriert und logisch, aber sobald ich irgendwelche Bedenken äußere, motzt sie mich entweder an oder sie tut so, als hätte ich überhaupt nichts gesagt.« Er schaute hinüber zu Tom. »Du hast es doch auch bemerkt, oder?«
»Ja, stimmt«, räumte Tom ein, »aber ich weiß nicht, ob sie deshalb verrückt ist. Sie hat ihre letzten Familienbande verloren, Benny, und sie fühlt sich in vieler Hinsicht vollkommen allein auf dieser Welt.«
»Aber sie ist nicht allein!«
»Doch. Jeder ist in seinem Inneren allein – die einen mehr, die anderen weniger. Lilah lebt seit Jahren auf diese Weise für sich allein und vielleicht wird sie sich nie ganz öffnen.«
»Du meinst, dass Nix einfach nur auf die Expedition fixiert und einsam ist?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich stimme dir zu, dass in ihrem Leben bestimmte Kräfte am Werk sind. Ich weiß nicht, ob sie wirklich verrückt ist, also eine Gefahr ist für sich und andere, aber ich fürchte, dass sie sehr labil ist. Behalte sie gut im Auge.«
Er schlug Benny auf die Schulter, und gemeinsam gingen sie zu Nix, um sich zu erkundigen, wie sie sich fühlte. Sie wirkte blass, fast schon grün, und ihr Gesicht – zumindest das, was Benny unter dem Verband davon erkennen konnte – war schweißüberströmt. Lilah saß auf einem Baumstumpf und reinigte ihre Nadel sorgfältig mit Alkohol.
»Ich weiß, die Frage ist bescheuert«, wandte Benny sich an Nix, »aber wie fühlst du dich?«
»Als hätte Mrs Laffertys Handarbeitskreis sich auf mich gestürzt.« Ihr Gesicht war aufgedunsen und sie konnte beim Sprechen kaum die Lippen bewegen. Ihre Augen schimmerten glasig vor Schmerzen und der Erschöpfung vom Kampf gegen diese Schmerzen. »Danke«, sagte sie in Lilahs Richtung.
»Ich will auch nicht in diese Stadt zurück«, entgegnete Lilah und ging davon.
Benny und Nix schauten Tom an.
Er seufzte und meinte dann: »Okay. Wir ziehen weiter.«
