»Warum?«
Das war das vierte Mal, dass Chong diese Frage stellte. Vielleicht auch das fünfte Mal – Benny konnte sich nicht mehr genau erinnern. Chong entfernte sich ständig ein paar Schritte, kehrte dann um und ging wieder weg. Jedes Mal, wenn er zurückkam, verlangte er eine Antwort – als gäbe es eine, die das hier erklären konnte.
Benny fühlte sich wie betäubt, brachte es aber einfach nicht über sich, wegzuschauen. Irgendetwas tief in seinem Inneren verlangte, dass er stocksteif stehen blieb und sich jeden Zentimeter des toten Mannes einprägte. Dieser innere Drang ließ ihn die Bisse zählen und all das registrieren, das diesem Mann genommen worden war.
Stopp. In seinem Kopf meldete sich eine Stimme zu Wort, die sich nicht anfühlte wie seine eigene und gegen das Wort »genommen« protestierte. Die kalte Distanziertheit verlangte eine ehrliche Analyse. Belüg dich nicht selbst, mahnte die Stimme. Wenn du dich hinter schwachen Worten vor der Wahrheit versteckst, bist du selbst schwach. Und dann bist du so gut wie tot. Dem Mann war nichts genommen worden. Man hatte Teile von ihm verzehrt. Gegessen.
Das ist die Wahrheit. Das ist das, was du da siehst. Das ist das, was Zombies tun.
Als Benny dieser Stimme lauschte, hörte er gleichzeitig ein Geräusch. Ein Schluchzen. Er blinzelte und schaute sich um. Chong war wieder weggegangen und hockte jetzt zusammengekauert am Straßenrand. Er hatte den Kopf in den Armen vergraben und zitterte am ganzen Körper.
Benny warf dem toten Mann einen letzten Blick zu, wandte sich dann ab und ging hinüber zu Chong – dankbar, dass er einen Grund hatte, wegzusehen. Es würde sich nicht wie Feigheit anfühlen, wenn er sich jetzt um Chong kümmerte, statt den Leichnam anzustarren. Sei stark, flüsterte seine innere Stimme und verstummte dann. Er hockte sich neben Chong und legte ihm den Arm um die Schultern. Er wollte etwas sagen, fand aber keine Worte, die in diesem Moment irgendeinen Sinn ergeben hätten.
»Es … es tut mir leid«, murmelte Chong. Er hob den Kopf und starrte vor sich hin. Sein Gesicht war tränenüberströmt und ihm lief die Nase. »Ich … ich meine, ich kann nicht …«
»Nein«, warf eine leise, raue Stimme ein, und beide drehten sich zu Lilah um, die plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war. Der Wind spielte in ihrem schneeweißen Haar und ließ es aussehen wie blasse Rauchfahnen. »Tränen bedeuten nicht, dass man schwach ist.«
Chong schniefte und wischte sich die Nase an seinem Unterarm ab, sagte aber nichts.
Lilah kniete sich vor Chong und legte ihren Speer in das staubige Gras. »Benny«, sagte sie.
»Geh weg.«
Benny wollte etwas erwidern, verzichtete dann aber darauf. Stattdessen nickte er nur und stand auf. Er hatte keine Ahnung, was Lilah Chong sagen würde, was sie sagen konnte. Mitgefühl, Zärtlichkeit und die meisten anderen menschlichen Gefühle schienen ihr fremd zu sein. Oder irrte er sich?
Benny nickte kurz und kehrte zu Nix und Tom zurück.
»Tom … weißt du, was passiert ist? Wer das getan hat?«
»Nein«, erklärte Tom, aber irgendetwas in seinem Tonfall veranlasste Nix, ihn prüfend anzusehen.
»Was hast du?«, fragte sie.
Er zögerte.
»Komm schon, Tom«, beharrte Benny. »Wenn wir zusammen hier draußen unterwegs sind, darfst du uns nicht so behandeln. Du kannst uns vor so einem Anblick nicht beschützen.«
»Darum geht es nicht«, entgegnete Tom bedächtig. »Aber … zuerst musst du mir eine Frage beantworten.«
»Okay.« Benny nickte.
»Letztes Jahr, in jener Nacht, als wir die Kinder vor den Kopfgeldjägern gerettet haben … Wie sicher bist du dir, dass du Rotaugen-Charlie wirklich getötet hast?«
Es hätte Benny kaum mehr geschockt, wenn Tom ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst hätte.
»W…was?«, keuchte er.
»Was willst du damit sagen?«, hakte Nix nach.
»Noch gar nichts. Beantworte meine Frage, Benny.«
Benny schloss die Augen und die Erinnerung an diese schreckliche Nacht kehrte schlagartig zurück. Im Glauben, Tom sei tot, hatten Nix, Benny und Lilah es selbst in die Hand genommen, eine Gruppe von Kindern zu retten, die Charlie Matthias und seine Kopfgeldjäger-Kumpane entführt hatten. Es war ein leichtsinniger und riskanter Plan gewesen, der ebenso gut hätte schiefgehen können. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und heftigen Regen und gewaltige Blitze über Charlies Lager oben auf dem Berg niedergehen lassen. Auf Bennys Vorschlag hin hatte Lilah Hunderte von Zombies befreit, die Charlie im Hungrigen Wald an Bäume gefesselt hatte. Mit ihrem eigenen lebendigen Fleisch als Köder hatte das Verlorene Mädchen mit der geisterhaften Stimme die Legionen von lebenden Toten dazu gebracht, ihr den Berg hinauf in das Lager der Kopfgeldjäger zu folgen. Tom war etwa zur gleichen Zeit wieder aufgetaucht, nachdem er durch eine glückliche Fügung einem furchtbaren Tod entronnen war. Bei den anschließenden Kämpfen waren alle Kopfgeldjäger umgekommen. Lilah hatte den Motor City Hammer getötet – in einem Akt eiskalter Rache, auf den sie seit jenen schrecklichen Tagen vor vielen Jahren gewartet hatte, als ihre kleine Schwester Annie bei einem Fluchtversuch aus Gameland gestorben war.
Charlie Matthias war dem Gemetzel in seinem Lager entkommen und hatte die flüchtenden Kinder verfolgt. Er hatte Lilah und Nix zu Boden geschlagen und war kurz davor gewesen, sie alle umzubringen. Benny war es gelungen, sich das schwarze Eisenrohr zu sichern, mit dem der Hammer Morgie schwer am Kopf verletzt hatte – und mit dem Charlie und der Hammer Nix’ Mutter erschlagen hatten. Als Charlie auf ihn losgegangen war, hatte Benny ihn getäuscht und ihm dann einen heftigen Schlag mit dem Rohr verpasst. Das Bild, ja sogar das Gefühl des Schlags waren in seine Erinnerung eingebrannt.
Benny wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Charlie ist von ganz oben den Berg hinuntergestürzt, Tom«, erklärte er nun.
»Aber du hast nicht gesehen, wie er unten aufgeschlagen ist? Oder hast du es vielleicht gehört?«
»Nein …«, räumte Benny nachdenklich ein.
»Verdammt.«
Nix packte Tom am Ärmel. »Warum stellst du diese Fragen, Tom?«
Tom seufzte. »Ich habe bisher nur zwei Männer gesehen, die auf diese Art umgebracht wurden – vor etlichen Jahren, drüben am Hogan Mountain. In beiden Fällen handelte es sich um Kopfgeldjäger, die versuchten, sich ein Stück von diesem Revier zu sichern.« Er ging hinüber zu dem Toten und schaute in sein blutleeres Gesicht. »Ich war mir nie ganz sicher, wer das getan hatte, aber es hieß, Rotaugen-Charlie habe beide Männer auf dem Gewissen.«
