38

Als Lou Chong das erste Mal aufwachte, glaubte er, er sei in der Hölle. Als er das zweite Mal aufwachte, wusste er, dass es die Hölle war.

Doch vor allem hatte er Schmerzen. Die Knochen in seinem Gesicht taten so weh, dass er es bis ins Zahnfleisch spürte. Als er den Kopf zu drehen versuchte, schossen stechende Schmerzen wie Pfeile durch seine angespannten Halsmuskeln. Er wollte sein Gesicht berühren, um zu überprüfen, wie schlimm die Verletzungen waren, konnte aber die Hände nicht bewegen. In dem Moment spürte er auch die Schmerzen in seinen Hand- und Fußgelenken.

»W…was…?«, wollte er fragen, brachte aber kein Wort hervor. Ein dicker, ekelerregender Lumpen war um seinen Kopf gewickelt und ein verknoteter Zipfel steckte als Knebel in seinem Mund. Er konnte nur stöhnen. Wie ein Zombie.

Er zwinkerte mit den Augen, um klarer zu sehen, doch es dauerte lange, bis er alles erkannte. Zuerst sah er nur Dreck und ein paar bucklige Grasklumpen, dadurch gelang es ihm aber, sich zu orientieren. Er lag auf der Seite auf dem Boden. Und er war gefesselt und geknebelt. Panik erwachte in seiner Brust wie ein zitterndes Wesen. Er wollte laut schreien, die Aufmerksamkeit auf sich lenken und ruhig und vernünftig erklären, dass das alles ein Fehler sei. Sich entschuldigen für das, was auch immer er getan hatte, und womit er wen auch immer so unglaublich wütend gemacht hatte. Hatte Captain Strunk ihn ins Gefängnis geworfen? Hatten er, Benny und Morgie irgendwo ein Fenster eingeworfen? War er schon wieder dabei erwischt worden, wie er auf der Lamba-Farm Eier gestohlen hatte? Oder hatte eine der Stadtwachen gesehen, wie er Eier auf das alte Pettit-Haus geworfen hatte? Schmerzen wogten in ihm auf und ab wie Ebbe und Flut, unablässig und allumfassend. Es war ihm unbegreiflich, dass sein Körper an so vielen Stellen auf einmal wehtun konnte.

»Hilfe!«, versuchte er zu rufen, doch das Wort kam nur als schwacher, sinnloser Grunzlaut heraus.

»Sieh mal an«, sagte plötzlich eine Stimme. »Er ist wach.«

Ein paar Zentimeter vor seiner Nase sah Chong jetzt einen Stiefel.

»Du warst so lange weggetreten, dass ich schon dachte, ich müsste dich befrieden.«

Der Mann besaß eine tiefe Stimme, die fremd und gleichzeitig seltsam vertraut war. Aber Chongs Kopf schmerzte zu sehr, um klar denken zu können. Er versuchte, den Hals zu drehen und nach oben zu sehen, konnte aber den Kopf nicht weit genug bewegen. Der Knebel schien irgendwie mit dem verbunden zu sein, womit man seine Hand- und Fußgelenke gefesselt hatte. »Bitte …« Es war nur ein Laut, aber der Mann lachte leise in sich hinein, als würde er verstehen.

»Willst du was sagen, kleiner Mann?«

Chong sah kurz etwas Silbernes aufblitzen, spürte kalten Stahl auf seiner Wange … und dann fielen die Enden des Knebels ab. Der harte Stoff teilte sich wie feine Gaze, als die scharfe Klinge ihn durchtrennte. Befreit von dem Druck, hustete und spuckte er, um den Knebel aus dem Mund zu bekommen. Seine Mundwinkel waren überdehnt und eingerissen, die Haut auf seinen Wangen abgeschürft. Er wand sich hin und her und versuchte, die Fesseln an Armen und Beinen abzuschütteln, doch die Knoten saßen zu fest.

»Keine Sorge, kleiner Mann. Ich schneide dich schon los. Aber erst, wenn es mir passt.«

Chong wollte nach oben schauen, aber der Mann trat so dicht an ihn heran, dass der saure Gestank des Stiefelleders in Chongs Augen und Nase drang. Er versuchte, zu sprechen, aber seine Kehle war so trocken wie Staub. »W…warum?«, krächzte er. »Wer sind Sie?«

Wieder lachte der Mann in sich hinein. Das Lachen wirkte freundlich und passte so gar nicht zu dem, was gerade passierte. Und es war unerträglich vertraut. Es klang fast wie …

Aber … nein … das war unmöglich!

Der Mann hob den Fuß und ließ den Stiefel auf Chongs Gesicht herab. Allerdings handelte es sich nicht um einen Tritt, stattdessen platzierte der Mann die Sohle auf Chongs Wange und verstärkte langsam den Druck. »Schhh, gib jetzt Ruhe. Ich hab den Knebel durchgeschnitten, damit du atmen kannst. Aber das war keine Einladung, einen Haufen Fragen zu stellen, deren Antwort du eh schon kennst.«

Chong runzelte die Stirn und versuchte, ihm mitzuteilen, dass er sich irrte – dass er, Chong, nicht alle Antworten kannte und dass das Ganze eine Verwechslung sein musste. Doch der Druck des Stiefels auf seinem Gesicht nahm beständig zu, bis der Mann schließlich so viel Gewicht hineinlegte, dass Chongs Kiefer knackte. Dann wurde der Druck so stark, dass Chong aufschrie vor Schmerz und glaubte, ohnmächtig zu werden.

»Ich kann die ganze Nacht hier stehen«, sagte der Mann so beiläufig, als würde er übers Wetter reden. »Und ich höre erst auf, wenn du still bist und den Mund hältst. Kannst ja mal eine Minute drüber nachdenken, kleiner Mann. Ein Knebel ist nicht die einzige Möglichkeit, dich vom Quasseln abzuhalten. Ich kann dir auch die Zunge rausschneiden und sie an einen Baum nageln. Glaub ja nicht, dass ich scherze. Wär nicht das erste Mal, dass ich das mache … und glaub mir, das waren viel zähere Burschen als du.«

Am liebsten hätte Chong laut geschrien, stattdessen presste er den Mund noch fester zu, als es der Knebel gekonnt hätte. Der Druck des Stiefels nahm stetig zu. Chong kniff die Augen zusammen und versuchte, einen Ort in seinem Kopf zu finden, an dem er sich verstecken konnte. Er wollte zu Hause in seinem Zimmer sein, umgeben von seinen geliebten Büchern. Wenn ein Monster in einer Geschichte allzu gruselig wurde, konnte er einfach das Buch zuklappen. Aber hier ging das nicht. Nicht in der Dunkelheit, nicht mit diesen Schmerzen, den Fesseln und dem Knebel.

Der Mann hielt einen Moment inne und hörte, ob Chong irgendwelche Geräusche von sich gab. »Geht doch«, meinte er dann und nahm seinen Fuß weg … aber nicht, ohne den Druck noch ein letztes Mal kurz zu verstärken.

Irgendwie jagte das Chong noch mehr Angst ein. Dieses Verhalten wäre nicht nötig gewesen, denn der Mann hatte ihn ja bereits besiegt und seine Stärke und Überlegenheit klar demonstriert. Diese letzte kurze Verstärkung zeugte von einer tieferen, primitiven Boshaftigkeit, einer verschlagenen, dreckigen Engherzigkeit. Chong war außer sich vor Angst. Ein paar endlos lange Minuten passierte gar nichts. Kein neuer Schmerz, keine Regung des Mannes, kein Geräusch seiner Schritte. Stand er irgendwo außer Sichtweite und beobachtete ihn? Chong wusste, dass es so war. Und das steigerte seine Angst noch mehr.

Dann sagte der Mann: »Ich wette, deine Mami und dein Papi haben dir erzählt, dass es hier draußen im Ödland böse Menschen gibt. Leute, die dir schlimme Dinge antun … die dummen kleinen Jungen, die im weiten Leichenland herumlaufen, übel mitspielen. Böse Männer, die böse, böse Sachen machen.«

Chong hörte ein kurzes Rascheln, und plötzlich war der Mann auf Händen und Knien und beugte sich so tief hinunter, dass sein Kopf nur Zentimeter von Chong entfernt auftauchte. Sein Gesicht war ein Anblick wie aus einem Albtraum, die Haut eine einzige Horrorshow. Jeder Zentimeter verbrannt und vernarbt. Ein Auge fehlte und an seiner Stelle befand sich nur noch ein schwarzes Loch in der pockigen geröteten Mondlandschaft. Haare so weiß wie Schnee rahmten das Gesicht ein.

Dann flüsterte der Mann Chong fünf Worte zu: »Ich bin der böse Mann.« Er lachte und stand auf. »Weißt du, was wir jetzt machen?«

Chong traute sich nicht, zu antworten. Er schloss die Augen, in der Hoffnung, das alles passiere nicht wirklich, und er flehte das Universum an, es möge nur ein Traum sein.

»Ich werde dir die Fußfesseln aufschneiden, damit du laufen kannst. Und bei Gott, du wirst laufen. Wir haben noch viele Meilen vor uns, werden bis Mitternacht unterwegs sein. Du wirst jeden Zentimeter laufen und die ganze Zeit kein Sterbenswörtchen sagen. Keinen Mucks, nicht mal ein Winseln will ich von dir hören. Solltest du auch nur einen Furz lassen, werde ich dich in Stücke schneiden. Nick mit dem Kopf, wenn du mich verstanden hast.«

Chong nickte wie wild.

»Dann, etwa um Mitternacht – zur Geisterstunde, wie es früher hieß – kommen wir irgendwo an. Und weißt du auch, wo, kleiner Mann?«

Chong schüttelte den Kopf, aber nur ganz zaghaft. Der Mann kniete sich wieder hin und sein heißer, von Whiskey getränkter Atem brandete an Chongs Ohr.

»Ich bringe deinen dürren Arsch nach Gameland, kleiner Mann. Na, ist das nicht spannend?«

Fast hätte Chong aufgeschrien, aber er wagte es nicht.