60

Ich renne zu unserem Felsen. Meine Füße klatschen schmerzhaft in den Sand, und obwohl ich weiß, dass das unmöglich ist, könnte ich schwören, dass sich ein paar Gäste umdrehen nach mir.

Können sie mich hören und vielleicht sogar sehen?

Sie lächeln mich an.

Aber sie sind mir alle egal. Mir ist nur der Junge wichtig, den ich nun in der Ferne sehe. Er hat mir den Rücken zugewandt und blickt aufs Meer hinaus. Sein Kopf wippt, als er einen Schwarm von Seevögeln am Himmel beobachtet.

Vögel? Aber am Soul Beach gibt es doch gar keine Tiere.

Ich will ihm etwas zurufen, beschließe aber dann, mich die letzten paar Meter anzuschleichen und ihn zu überraschen.

Doch dann, im allerletzten Moment, packt mich plötzlich Angst. Was, wenn er es sich beim Warten anders überlegt hat? Wenn ich in seinem Gesicht lese, dass er nicht dasselbe fühlt wie ich, bevor er mir etwas vorspielen kann? Wenn er sich mit mir lediglich ein wenig die Zeit in der Ewigkeit vertrieben hat?

Ich gehe weiter und kurz bevor ich ihn erreiche, dreht er sich um.

»Alice!«, ruft er, obwohl wir uns mittlerweile so nah sind, dass ein Flüstern genügt hätte.

»Danny.« Sein Name ist wie das kürzeste, wunderbarste Gedicht der Welt.

»Du hast es geschafft, stimmt’s? Du hast Triti zur Flucht verholfen.«

Ich nicke. Er sieht so schön aus, mindestens tausend Mal besser als in meiner Erinnerung. Fast real.

»Du siehst anders aus«, murmelt er. »Genauso perfekt wie immer, aber, na ja, irgendwie fast real.«

»Du auch«, erwidere ich.

Wir stehen so dicht voreinander, dass in der echten Welt schon ein Seufzer oder ein Atemzug oder ein einziges Wort genügen würde, um uns ganz zusammenzubringen. Wenn es doch nur so wäre …

»Alice, ich –«

Ich zucke zurück, als hätte man mir einen elektrischen Schlag versetzt. Seine Augen weiten sich, so als hätte er es auch gespürt.

»War das …?«

»Das kann doch nicht sein«, sagt Danny und seine Stimme klingt ein bisschen schrill.

Wir heben die Hände im selben Moment – meine rechte, seine linke –, als blickten wir in einen Spiegel. Das ist nicht wahr. Es kann nicht sein.

Sams Worte hallen in meinem Kopf wider. Es gibt eine Belohnung.

Danny und ich starren auf unsere Hände, die sich bewegen, langsam und zögerlich. Wir wollen die wundervolle Hoffnung so lange wie möglich auskosten, die unausweichliche Enttäuschung so weit wie möglich hinauszögern. Seine Handfläche ist glatt, weiß, sie gehört einem Jungen, der kurz davor stand, zum Mann zu werden. Eine lange, sanft gekrümmte Lebenslinie verläuft von seinem kräftigen Handgelenk bis zu der breiten Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger.

Er dürfte noch gar nicht tot sein. Aber wenn er noch leben würde, hätten wir einander nie kennengelernt.

Irgendwo, in einem anderen Universum, klingelt mein Handy. Aber von mir aus könnten es die Queen und der Präsident der Vereinigten Staaten höchstpersönlich sein, ich würde trotzdem nicht rangehen.

»Bereit?«, fragt Danny.

»Bereit.«

Der Abstand zwischen unseren Händen verringert sich, Millimeter um Millimeter. Im letzten Moment schließe ich die Augen, damit ich nicht mit ansehen muss, wie unsere Körper, Lichtjahre voneinander entfernt, sich verfehlen.

Jetzt … nein, jetzt … nein …

Ich spüre Wärme. Eine Berührung.

Ich reiße die Augen auf. Sein Mund ist zu einem überraschten, vollkommenen Kreis geöffnet. Wir pressen die Hände aneinander, Daumen an Daumen, Finger an Finger.

Wie kann es sich wie ein Wunder anfühlen, die Hand eines anderen Menschen an meiner zu spüren? Seine Wärme durchströmt meinen Körper und es ist, als wäre ich seit dem Tod meiner Schwester zu Eis gefroren gewesen und würde erst jetzt auftauen.

Unsere Hände schmiegen sich aneinander, während wir uns über unsere Fingerspitzen hinweg anstarren.

»Bedeutet das …?«, fange ich an, wage es jedoch nicht, die Frage zu beenden.

»Ich denke schon«, antwortet Danny.

Er beugt sich vor, ich kann seinen Atem schmecken – frisch, grün, lebendig –, und noch bevor unsere Lippen sich berühren, weiß ich: Das wird der Kuss meines Lebens.

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