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»Tim? Bist du das?«

Am anderen Ende zieht jemand scharf die Luft ein. Dann: »Nein. Hier ist Adrian. Ist ja schließlich mein Handy.« Ich kann eine Spur von Ärger in seiner Stimme hören.

»Entschuldige.«

»Aber Tim steht neben mir.«

»Oh.« Mein Zittern verwandelt sich in heftiges Schlottern. Jetzt komm aber, Alice. Du redest jeden Tag mit toten Leuten, da ist ein lebendiger Typ am Telefon wohl kaum eine große Sache. Auch wenn er womöglich ein leibhaftiger Mörder ist …

»Alice? Bist du sicher, dass du das willst?«

Adrians Stimme beruhigt mich ein wenig, aber das Grauen, diese tiefe Panik, bleibt. Es ist beinahe, als spürte mein Körper eine Bedrohung, selbst durch das Telefon. »Ja. Ich würde jetzt gern mit Tim reden, bitte.«

Ein Rascheln, dann höre ich jemand anderen atmen. »Tim?«

»Alice.« Es klingt mehr wie ein Seufzer und nicht wie ein Name. »Oh, Alice. Mein Gott, es tut mir so leid. Was für ein Schlamassel.«

Ist das etwa ein Geständnis? Erwartet er, dass ich jetzt sage: Schon okay, Tim. So was kann doch mal vorkommen. »Schlamassel ist leicht untertrieben, würde ich sagen.«

»Ich kann nicht lange reden, ich werde verfolgt.« Seine Stimme klingt schrill, nahe an der Hysterie. Früher war sie eher ein sanftes Brummen wie von einem intelligenten Braunbären.

»Wo bist du gerade?«

»In der Bibliothek. Wir … wir haben uns einschließen lassen, also, mit Absicht. Sie postieren immer einen Typen in unauffälliger Kleidung vor dem Eingang, wenn ich hier arbeite. Nach Feierabend, als ihnen klar wurde, dass sie mich nicht haben rauskommen sehen, dachten sie wahrscheinlich, ich hätte sie ausnahmsweise mal abgehängt. Aber die können ja Handys orten. Wenn sie auf die Idee kommen, dass ich das von Adrian benutze, wissen sie auf jeden Fall, dass ich noch hier bin.«

Mein Herz klopft ohrenbetäubend laut; es ist, als wäre ich plötzlich in Die Bourne Identität oder so katapultiert worden. »Aber was ist, wenn ihr den Alarm auslöst?«

»Wir sind in einem Lagerraum. Wir haben Taschenlampen, etwas zu essen und Wasser und für später auch noch was Stärkeres zu trinken. Morgen um neun macht die Bibliothek wieder auf und dann gehen wir einfach direkt in einen der Lesesäle. Niemand wird was merken.«

Ich sehe ihn vor mir. Tim, den guten Menschen. Den liebenswürdigen Kerl. Seine leuchtenden ehrlichen Augen mit den dunklen Ringen darunter, weil er ständig zu lange aufblieb, um zu lesen oder zu plaudern, und sein zaghaftes Lächeln, wenn er einen Witz machte.

»Und das alles nur, um mit mir zu reden?«

»Natürlich. Hör mal, Alice, ich weiß, für dich ist das Ganze noch schwerer als für mich. Es bedeutet mir wirklich viel, dass du überhaupt mit mir sprichst.«

»Es bedeutet gar nichts, weder in die eine noch in die andere Richtung«, unterbreche ich ihn, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. »Ich will einfach nur wissen, was an dem Abend damals wirklich passiert ist.«

»Oh.« Pause. »Ich habe sie nicht getötet. Es ist mir egal, was mit mir passiert, solange du mir glaubst, Alice.« Zum ersten Mal klingt er wieder wie der alte Tim, nicht wie ein überdrehter Möchtegern-Spezialagent.

»Versprichst du mir das?«

»Ich könnte nichts und niemanden töten, Alice. Was in aller Welt würde mir das Recht geben, jemandem das Leben zu nehmen?«

Diese Antwort ist so präzise, so typisch Tim, dass ich ihm unendlich gern glauben will. Aber was ist mit der Polizei und meiner Mum, von den Klatschblättern ganz zu schweigen? Ach, und Mr Bryants Statistiken, laut denen die meisten Frauen von ihren Partnern ermordet werden?

Und dann ist da noch Meggies eigene Aussage, dass Leidenschaft und Hass dicht beieinanderliegen. Ich bemühe mich, nicht mehr wie jemand zu denken, der ihn kennt, sondern wie der Rest der Welt. Vermutlich ist das hier meine einzige Chance überhaupt, ihn zu befragen.

»Aber warum ist die Polizei dann so überzeugt davon, dass du es getan hast?«

»Sie wollen die Sache schnell zu Ende bringen. Oder vielleicht ist es auch ein abgekartetes Spiel.«

»Ach, Tim, wer sollte sich denn die Mühe machen, dir so eine Falle zu stellen?«

»Der wahre Mörder. Alice, es ist doch ganz logisch, mir alles in die Schuhe zu schieben, weil die Polizei immer zuerst die Leute unter die Lupe nimmt, die dem Opfer am nächsten gestanden haben.«

»Und die, die es als Letzte lebendig gesehen haben!«, rufe ich.

»Ich war der Zweitletzte. Ich schwöre es.«

»Aber die Leute in der Bar haben gesehen, wie ihr euch gestritten habt.«

»Sich mit seiner Freundin zu streiten, heißt noch lange nicht, dass man sie auch gleich umbringt!« Der Zorn in Tims Stimme überrascht mich. So habe ich ihn noch nie reden hören.

»Du klingst wütend.«

»Natürlich bin ich wütend. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du den Menschen verloren hättest, der dir auf der ganzen Welt am meisten bedeutet, und dann auch noch jeder glaubt, du wärst der Mörder? Hm? Wie fändest du es, wenn jedes Mal, sobald du über die Straße gehst oder einen Hörsaal betrittst, alle anfangen würden zu flüstern und dich anzustarren, ohne dass dir jemand offen sagt, was er denkt? Wenn dir, wann immer du dich umsiehst, die Polizei auf den Fersen wäre und darauf lauert, dass du einen Fehler machst?«

Mittlerweile schreit er regelrecht und ich halte das Telefon ein Stück von meinem Ohr weg. Ich blinzele und muss mir in Erinnerung rufen, dass er eingeschlossen in Greenwich hockt und ich in meinem sicheren Zimmer. Der sanfte Tim, der sogar Spinnen das Leben rettet, hat also auch eine furchterregende Seite. Aber bedeutet das auch …

Nachdem wir eine Weile geschwiegen haben, sagt er: »Tut mir echt leid. Du bist die Letzte, die ich anschreien sollte. Jetzt stehe ich in deinen Augen wahrscheinlich nicht unbedingt besser da, oder?« Er versucht es mit einem Lachen, aber es klingt gekünstelt.

»Nein.« Wenn er auf mich so wütend werden kann, warum dann nicht auch meiner Schwester gegenüber? Sahara hat gesagt, dass er zum Jähzorn neigt, und Meggie kann … Sie konnte kokett und eigensinnig und mit geradezu bösartigem Vergnügen grausam sein: Hat ihn das vielleicht ausrasten lassen? Eifersucht ist ein machtvolles Gefühl. Bis ich das Video mit Danny und diesem Mädchen gesehen habe, war mir gar nicht klar, wie machtvoll. »Wirst du oft so wütend?«, frage ich, immer noch fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.

»Bevor Meggie gestorben ist, nicht. Ich verstehe, warum du das fragst, aber ich war eigentlich nie ein launenhafter Mensch. Daran musst du dich doch erinnern.«

»Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie irgendetwas vorher war.«

Ich höre einen Seufzer. »Ich weiß, Alice. Gott, und wie ich das weiß. Ich habe mein Glück als selbstverständlich hingenommen. Wie dumm kann man eigentlich sein?«

Es ist so schwer, ihm nicht einfach zuzustimmen.

Los, stell ihm mehr Fragen, ermahne ich mich. Ich hätte mir vorher welche aufschreiben sollen. »Warum sollte ich glauben, was du mir erzählst?«

»Weil mir deine Schwester einfach alles bedeutet hat, Alice. Sie … sie hat meine ganze Welt zum Leuchten gebracht. Und nicht nur meine. Meggie war wie eine strahlend helle Flamme, und jetzt, ohne sie, ist alles nur noch dunkel. Ergibt das irgendeinen Sinn?«

»Mmh.«

»Du glaubst mir doch, dass ich sie geliebt habe, oder?«

Dannys Gesicht taucht vor meinem geistigen Auge auf. Liebe. Bin ich wirklich in ihn verliebt oder ist es nur eine harmlose Schwärmerei, wie meine Schwester hofft? Ich weiß, dass ich Danny vor allem beschützen würde, wenn ich könnte. Dass ich ihm niemals wehtun würde.

Ich vermeide es, Tim eine Antwort zu geben. »Aber wenn du es nicht warst, wer dann?«, frage ich stattdessen.

»Jemand, der sie nicht wirklich gekannt hat, denn niemand, der sie kannte, hätte so etwas gewollt. Jemand, der dachte, dass sie ihm gehört. Du weißt doch, dass der Mörder nachher noch bei ihr geblieben ist? Und ihr die Haare gebürstet hat?«

Ich halte die Luft an. Ja, das weiß ich. Aber die meisten anderen Leute nicht. Zoe hat zwar der Presse von Meggies Heiligenschein aus Haaren erzählt, aber eigentlich wissen nur die Polizei und ihre Familie, dass dieser nicht zufällig entstanden war.

Ich muss mich korrigieren. Die Polizei, wir. Und der Mörder. Oder haben sie es Tim erzählt, als sie versuchten, ihn zum Reden zu bringen?

»Und was jetzt, Tim?«

Lange höre ich nichts außer seinem Atem. Dann: »Keine Ahnung. Ohne sie scheint alles so hoffnungslos, und selbst wenn die Polizei denjenigen findet, der es getan hat, wird das Glotzen und Fingerzeigen trotzdem nicht aufhören. Für mich wird es nie vorbei sein.«

Ich weiß, er hat recht. Keiner von uns wird je wieder derselbe sein. Auch wenn es natürlich meine Schwester ist, die von uns allen am meisten verloren hat.

Dieses Telefonat war ein schrecklicher Fehler. Ich fühle mich nicht besser, sondern schlechter und noch dazu verwirrter denn je. Was Tim sagt, klingt so glaubhaft, und doch war nichts darunter, was ihn entlastet, und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.

»Wir könnten uns treffen, Alice, wenn du das willst.«

Vor diesem Telefonat hätte ich sofort eingewilligt, jetzt aber jagt mir die Vorstellung einen Schauder über den Rücken. »Warum sollten wir das tun?«

»Es gibt da … na ja, ein paar Dinge, die ich dir am Telefon nicht sagen kann. Aber jetzt sollte ich besser auflegen, falls sie deine Anrufe auch zurückverfolgen. Das ist gut möglich.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Ich melde mich bald wieder, versprochen. Und ich überlege mir, wie wir uns sehen können, ohne dass uns jemand hinterherschnüffelt. Aber egal, ob wir das schaffen oder nicht, bitte verzeih mir, dass ich sie nicht beschützen konnte.«

Genau das sagt mein Vater auch immer. Aber was soll ich darauf antworten? Tim ist nicht der, für den ich ihn einmal gehalten habe, aber macht ihn das gleich zu Meggies Mörder?

»Ruf einfach wieder an. Bitte.«

Doch meine Worte erreichen niemanden mehr.