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Ich brauche jetzt etwas Schönes. Ruhe. Einen klaren Horizont, der mir hilft, die Dinge im richtigen Verhältnis zu sehen.

Doch als ich am Strand ankomme, geht es dort zu wie beim Glastonbury Festival. Ein Dutzend unterschiedliche Melodien dudeln mir aus verschiedenen Richtungen entgegen: Blues, Rock, klassische Musik. Vor lauter tanzenden Körpern kann ich nicht mal mehr den Sand sehen. Die Bikinis und Surfshorts sind engen Glitzerkleidchen und frisch gebügelten Leinenhemden gewichen und mir wird schon vom Hinsehen ganz heiß. Der rauchige, blutige Geruch von Grillfleisch zieht meinen Blick auf die glühenden Kohlefeuer, die in regelmäßigen Abständen am Strand verteilt sind.

Mir ist sofort klar, dass sie die Gäste abzulenken versuchen. Wer immer sie auch sein mögen.

Ich schlängele mich durch die Menge zur Bar. Sam, die Dreadlocks feucht vor Schweiß, schnippelt drinnen hektisch Zitronen und Limetten für die auf der Theke aufgereihten Gläser mit Mojito und Sangria. Immer wieder kommen Gäste herein und bedienen sich.

»Na, viel zu tun?«

Sie sieht auf und zieht eine Grimasse. »Hi, du. Jepp, es reißt einfach nicht ab. Und ich habe erst in dem Moment davon erfahren, als ich die Kids hab tanzen sehen, als gäbe es kein Morgen.«

Ich frage mich, wo sie zwischen ihren Schichten eigentlich hingeht. Ich würde sie ja fragen, aber erst mal gibt es andere, wichtigere Dinge, die ich wissen muss. »Das ist alles wegen Triti, stimmt’s?«

Sam wirft eine große Handvoll Limettenscheiben in eine Schüssel mit Zucker und fängt an, darauf einzustampfen, und verarbeitet die Früchte so aufgebracht zu Mus, dass mir ein bisschen Saft ins Gesicht spritzt. »Wie kommst du darauf?«, herrscht sie mich an.

»Das Ganze hier ist doch ein einziges großes Ablenkungsmanöver. Erst haben sie’s mit gutem Wetter versucht und jetzt das hier. Sie wollen die Leute müde machen, passiv.«

Noch während ich es ausspreche, wird mir klar, dass ich diesen Gedanken von Danny haben muss; er hat etwas davon gesagt, dass sie hier die Gäste manipulieren, indem sie deren Umwelt manipulieren. Und wenn er damit recht hatte, womit wohl noch?

Sam nimmt eine Riesenflasche weißen Rum und dreht sie auf den Kopf, sodass ein klarer Strom Alkohol in die Schüssel gluckert. In ihrem dürren Arm zuckt ein Muskel.

»Wie immer habe ich davon genauso wenig Ahnung wie du. Aber vielleicht hast du recht. Das Problem ist nur, dass es verdammt schwer ist, die Gäste müde zu kriegen. Ich bin vor Erschöpfung wahrscheinlich längst tot umgefallen, wenn die noch lustig tanzen.« Endlich sieht sie mal auf. »Entschuldige. Das war nicht witzig.«

Ich zucke mit den Schultern. »Bei deinem Job hätte ich wahrscheinlich auch einen ziemlich schwarzen Humor. Hast du sie gesehen?«

»Meggie?«

»Nein, Triti.«

»Den Gerüchten nach ist sie untergetaucht. Nicht, dass es hier am Strand besonders viele Schlupflöcher gibt, aber ein paar von den … na ja, sagen wir mal skrupelloseren Gemütern geht ihr Verhalten langsam auf den Wecker und wer weiß, was dann passiert.«

»Skrupellos?«

»Nicht jeder, der nach dem Tod hierhergekommen ist, war in seinem früheren Leben ein Engel, verstehst du? Alles, was die Leute übereinander wissen, beruht sowieso nur auf den Versionen, die die Gäste selbst erzählen.« Sie fügt der Mischung noch etwas Minze hinzu und schon bald riecht die ganze Bar wie ein Garten im Hochsommer. Dann füllt sie die Hälfte in einen übergroßen Cocktailshaker um, gibt Eis dazu und schüttelt ihn zwanzig, dreißig, vierzig Mal.

»Aber die können Triti doch nicht wirklich etwas tun, oder doch?«

»Körperlich nicht, nein«, antwortet Sam und gießt die Flüssigkeit in einen Krug mit noch mehr Eis. »Aber um es mal so zu formulieren: Ich fände es furchtbar, hier einsam zu sein. Wenn ich ein Gast wäre, wäre das Einzige, was mir noch mehr Angst machen würde, als für immer hier zu sein, die Vorstellung, diese Ewigkeit allein durchleben zu müssen.«

Mir war noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass es hier genauso wie auf der Erde Mobbing geben könnte. »Stimmt.«

Der Druck, Triti irgendwie zu retten, ist größer denn je. »Ich gehe sie mal suchen«, sage ich zu Sam.

»Nett von dir. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert. Alle anderen verlieren langsam die Geduld.«

Draußen will ich mich gerade auf den Weg nach rechts in Richtung des ruhigeren Strandabschnitts machen, wo Triti sich wahrscheinlich versteckt, als mein Blick auf Danny fällt.

Er ist von einer Menschentraube umgeben. Zwei Mädchen halten ein Seil straff zwischen sich gespannt und Danny … ja, Danny, unser ach so sensibler Einzelgänger, tanzt Limbo darunter hindurch, während ein paar Jungs mit Bongos einen schnellen Rhythmus dazu trommeln.

Er wirkt ziemlich betrunken, so wie er die Augen verdreht, als er sich zurücklehnt und seinen Körper zu einem unnatürlichen rechten Winkel verbiegt.

Sein Hemd ist aufgeknöpft und hat dunkle Schweißflecken, und als er seinen Körper verdreht, entdecke ich Muskeln, die mir zuvor noch nie aufgefallen sind. Keinen Sixpack – ich hasse diese eitlen Typen, die jeden einzelnen Muskel in ihren übertrieben durchtrainierten Bäuchen benennen können –, aber wohldefiniert und genau an den richtigen Stellen. Ein dunkler Flaum verläuft von seinem Bauchnabel runter zum Hosenbund.

Ich sehe die Gesichter der Mädchen und bin ganz offensichtlich nicht die Einzige, die bemerkt hat, dass an Danny mehr dran ist als seine Schlagfertigkeit und sein gutes Herz. Oh ja. Was ich jetzt spüre, ist definitiv Eifersucht. Wenn die Sonne untergeht, könnte er schon einer von ihnen gehören.

Während ich noch nicht mal mit ihm Händchen halten kann.

Jede Spur von Zynismus und Sehnsucht ist aus seinem Gesicht gewichen und er sieht jetzt viel mehr so aus wie in dem Video, das ich gefunden habe. Ein liebenswerter, lebensfroher Teenager, der zufällig auch noch Millionenerbe ist und ein Mädchen für die Kamera küsst, nur um dessen Gefühle nicht zu verletzen. Ein junger Mann, dem eine strahlende Zukunft bevorstand und dem mit einem letzten tiefen Sturz zu Boden alles genommen wurde.

Der Trommelrhythmus wird schneller, Danny hält die Augen halb geschlossen und zuckt im Takt. Plötzlich fällt mir auf, dass ich die Bongos gar nicht mehr höre, sondern nur noch eine Art Surren, und als ich hinschaue, ist sein Körper verdreht und windet sich krampfhaft, als versuchte Danny verzweifelt, sein Gleichgewicht wiederzufinden, während er fällt … und fällt … und fällt …

Im letzten Moment zwinkert das rechte Mädchen dem linken zu und die beiden senken das Seil ein Stückchen, bis es seine Haut berührt. Er schreckt zusammen, als hätten sie ihm ein Messer in den Bauch gestoßen, und kippt dann rückwärts mit einem eigentümlichen, tiefen Stöhnen und einem Klatschen in den Sand, sodass die Körnchen aufstieben wie Rauchschwaden.

Rings um ihn wird gelacht und applaudiert, doch keiner der anderen Gästen hilft ihm auf, während schon der nächste Limbotänzer ins Rampenlicht tritt.

Er versucht sich aufzurichten und sieht sich um, als wüsste er nicht so recht, wo er ist.

»Danny?«, rufe ich und eile auf ihn zu. »Alles okay?«

Die anderen können mich natürlich nicht hören, doch als Danny mich sieht, überzieht ein unglaublich breites Lächeln sein Gesicht. »Alice! Wie cool!«

»Ich würde dir ja hochhelfen, aber, na ja …« Ich hebe die Hände und komme mir absolut nutzlos vor.

»Kein Problem. Das krieg ich gleich schon allein hin. Kann ja nicht so schwer sein.« Er versucht es und scheitert wieder. »Puh, ist mir schwindelig. Liegt sicher am Limbo.«

»Und nicht etwa an Sams Mojitos?«

»Okay, vielleicht auch ein bisschen an denen. Sie macht die immer viel zu stark.« Beim dritten Mal gelingt es ihm, stehen zu bleiben, und er wischt sich den Sand von der goldbraunen Haut. »Aber ich hätte trotzdem gern noch einen. Kommst du mit?«

»Eigentlich bin ich auf der Suche nach meiner Schwester. Und nach Triti.«

Jetzt verdüstert sich seine Miene. »Klar doch. Ich weiß, wo die beiden sind. Weißt du schon, ob du Triti helfen kannst?«

»Ich arbeite dran.«

»Du schaffst das ganz bestimmt. Wie sagt man so schön? An dir ist mehr dran als nur ein hübsches Gesicht.« Und er sieht mich so eindringlich an, dass ich wegsehen muss, bevor ich rot werde oder irgendwas sage, das ich hinterher bereue.

»Du bist ja betrunken.«

Er starrt mich immer noch an. »Weißt du, da könntest du recht haben.«

»Ich sollte jetzt wirklich Triti suchen gehen.«

Danny macht ein unglückliches Gesicht. »Noch nicht«, sagt er und in seiner Stimme schwingt Panik mit. »Ich meine«, fügt er dann hinzu und lächelt wieder, »holen wir uns doch erst mal was zu trinken, ja, Alice? Das wirst du auf jeden Fall brauchen, wenn du mit ihr redest.«

»Aber ich kann doch gar nicht …« Ich beende den Satz nicht. Danny scheint den Unterschied zwischen uns vergessen zu haben: Er ist ein Gast hier und ich bin nur zu Besuch. Und als ich neben ihm durch den Sand stapfe und sich unsere Schritte aneinander anpassen, wünschte ich, ich könnte ihn auch vergessen.