26

Wenn Meggie eine Ahnung davon hat, dass sich zu Hause irgendetwas verändert hat, dann zeigt sie es jedenfalls nicht.

Ich entdecke sie auf dem Steg, wo sie auf dem Rücken liegt und verträumt zu der dünnen Mondsichel hochblickt, während drei Typen sie anglotzen wie eine an den Strand gespülte Meerjungfrau. Ich halte nach Danny und Javier Ausschau, aber sie sind nicht unter ihren Bewunderern. Diese Jungs sind durchtrainiert und gestylt und ihre Haut schimmert im bläulichen Mondschein wie Marmor. Außerdem wirken ihre Posen bemüht, so als hätten sie sich extra so hingelegt, um ihre Muskeln ins rechte Licht zu rücken. Es ist schon ulkig: Ich kenne Danny kaum, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er so was machen würde – bei Javier bin ich mir allerdings nicht so sicher.

Ich rufe mir in Erinnerung, dass die Typen im echten Leben vermutlich nicht halb so süß waren, deswegen versuchen sie jetzt so viel Kapital wie möglich aus ihrem neu erworbenen Sex-Appeal zu schlagen. Schätze mal, ich würde dasselbe machen, wenn ich so gut aussähe.

Na ja, vielleicht tue ich das ja sogar, während ich hier bin.

»Meggie?«

Sie blickt auf und zieht einen Augenblick lang die Stirn kraus, wie sie es früher immer getan hat, wenn ich, ohne zu klopfen, in ihr Zimmer geplatzt bin und sie dabei erwischt habe, wie sie in Unterwäsche vor dem Spiegel herumtanzte, eine Banane als Mikro in der Hand. Aber dann lächelt sie so liebenswürdig, dass ich mir sicher bin, es mir nur eingebildet zu haben.

»Hey, Alice, du bist schon wieder da, das ist ja super!«

Die Muskelprotze sehen sich nicht mal um und ich will gerade einen Kommentar zu ihrer Unhöflichkeit abgeben, als mir wieder einfällt, dass sie mich ja gar nicht sehen können.

Megan steht auf. »Den dreien hier stell ich dich gar nicht erst vor«, sagt sie und tritt auf mich zu, um mich mit Luftküsschen zu begrüßen. Sie flüstert: »Die sind weder besonders intelligent noch sonst wie interessant, und um ehrlich zu sein, hab ich ihre Namen auch schon wieder vergessen. Ich hatte, ich weiß auch nicht, Lust auf was Neues. Wollte mal raus aus der üblichen Gang, mit denen war’s mir heute zu anstrengend.«

Sie marschiert vor mir her, zurück Richtung Bar. »Schön, dich schon so bald wiederzusehen, Schwesterchen. Kleine Pause von den Hausaufgaben?«

»So was in der Art. Du weißt ja, wie es zu Hause ist«, sage ich, aber das weiß sie nicht, nicht mehr. Wenn sie jetzt die Auffahrt zu unserem Haus hinaufginge, sähe sie zwar keinen Unterschied: Die Farbe am Garagentor blättert immer noch ab und die Skulptur des Pärchens, das sich küsst, steht immer noch an dem Pfad, der durch den Vorgarten führt. (Nicht gerade nach dem Geschmack meiner Eltern, aber der Vorbesitzer hat sie einbetoniert und sie lässt sich keinen Millimeter verrücken.)

Im Haus allerdings scheint alles wie auf den Kopf gestellt, eine Parallelwelt, in der eine böse Macht alles umgekrempelt hat, sodass glücklich und Familie zu traurig und Fremde geworden sind.

»Erzähl mir, was im Fernsehen läuft«, bittet Meggie.

Während ich versuche, mir die neusten Entwicklungen in ihrer Lieblingssoap in Erinnerung zu rufen, kann ich nur mit Mühe den Anschein aufrechterhalten, dass das alles eine Rolle spielt. Aber ich muss, um ihretwillen. Komisch, wie selig ich noch vor einem Monat darüber gewesen wäre, überhaupt mit ihr über irgendwas reden zu können, so banal es auch sein mochte.

»Hallo, Mädels.«

Ich weiß, dass er es ist, noch bevor ich mich umdrehe. Danny Cross. Im Halbdunkel wirkt er älter, ernsthafter. Er ertappt mich dabei, wie ich ihn anstarre, und ich werde rot. Mein einziger Trost ist, dass er das nicht sehen kann, weil ich ja nicht in Wirklichkeit dort bin.

»Immer noch ganz schön heiß, was?«

Oh. Mein Blick wandert zum verräterisch glimmenden Licht der Webcam. Offensichtlich kann Danny mein Gesicht sehr wohl sehen. Ich hoffe nur, es wurde auch der magischen Soul-Beach-Verschönerungskur unterzogen, sodass ich genauso fantastisch aussehe wie die Gäste. »Ach ja?«

Meine Schwester seufzt. »Pff, hier ist es immer heiß, sogar nach Sonnenuntergang. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir mal Regen wünschen würde.«

Ich drehe mich um und spähe aus meinem echten Fenster in meinem echten Zimmer: Ein Gewitter ist aufgezogen und ich hatte es noch nicht einmal bemerkt. Der dicht bewölkte Himmel wird immer wieder von Blitzen aufgerissen und Sekunden später folgt der Donner. Das Auge des Sturms muss ganz nah sein.

»Wir könnten in die Bar gehen. Da gibt es wenigstens Deckenventilatoren«, schlägt Danny vor.

Als wir hereinkommen, quält Sam sich von ihrem Stuhl hoch, um den beiden ihre Cocktails zu mixen, mich dagegen beachtet sie abgesehen von einem unauffälligen Nicken gar nicht. Das soll wohl bedeuten, dass unser Gespräch streng privat war. Aber ich würde sowieso keinem davon erzählen. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel steht.

Ich beobachte meine Schwester ganz genau, als sie sich mit ihrem Mojito hinsetzt, und versuche, mir jeden einzelnen Millimeter einzuprägen. Denn wenn ich tatsächlich Tim auf die Sache anspreche und damit womöglich irgendetwas aufkläre, dann könnte ich sie wieder verlieren.

Aber wohin geht sie dann? Existiert sie gar nicht mehr oder gibt es einen anderen Ort jenseits des Strandes?

»… war sie schon immer so eine Tagträumerin?«

Javier und Triti haben sich zu uns an den Tisch gesetzt und Javier wedelt mir mit der Hand vor dem Gesicht herum.

»’tschuldigung. Ich war meilenweit weg.«

»Du meinst wohl Lichtjahre, oder?«, erwidert Javier und die anderen lachen.

Vor meinem Zimmerfenster blitzt es so grell, dass es mich blendet. Das Gewitter muss jetzt direkt über mir sein; der Donner folgt sofort. Von den anderen am Strand zuckt natürlich niemand zusammen.

Irgendwie fühle ich mich auf den Arm genommen. »Weißt du, für mich ist das alles auch nicht so leicht.«

»Was? Am Leben zu sein? Ach, du armes Ding.« Javier lässt mich nicht aus den Augen, wie ein Jaguar, der seine Beute taxiert. Ich sehe meine Schwester an, aber sie lächelt ihn bloß an.

»Lass sie in Ruhe.« Es ist Danny, der schließlich für mich eintritt.

Ein verschlagenes Grinsen huscht über Javiers unrasiertes Gesicht. »Wie süß.«

»Was?«, will Danny wissen.

»Liebe über alle Grenzen hinweg. Das ist ja wie im Märchen. Es waren einmal ein Prinz und eine Prinzessin, die hatten sich furchtbar lieb«, trägt Javier klagend vor und Triti und Meggie ziehen Gesichter, aber es sind Du-bist-einfach-zum-Totlachen-Gesichter.

Jetzt prasselt der Regen gegen mein Fenster, laut wie Gewehrkugeln.

»Beachte ihn einfach nicht. Er ist ein Arschloch«, sagt Danny.

»Und du bist der Beweis, dass Amerikaner keinen Humor haben«, entgegnet Javier, streckt seine langen Beine aus und gähnt.

Meggie lächelt mir zu. »Kümmer dich einfach um keinen von beiden, Florrie. Die zwei haben sich anscheinend schon in den Haaren, seit sie hier sind.«

»Das würde ich so nicht sagen«, bemerkt Javier.

»Seid ihr denn zur selben Zeit angekommen?«, frage ich.

Danny nickt. »Ja. Vor einem Jahr. Fast wie Zwillinge.«

»Zwillinge?«

Die Idee scheint mir grotesk, dass es einen zu Zwillingen machen soll, wenn man zur gleichen Zeit stirbt. Obwohl dieser Tag wahrscheinlich genauso wichtig ist wie der, an dem man geboren wird.

Javier steht auf und geht um den Tisch herum zu Danny, legt ihm die Arme um den Hals und verpasst ihm einen Kuss. »He can do anything, anything, anything, he’s my soul brother«, singt er. Dann wirft er mir einen Luftkuss zu. »Brich ihm nicht das Herz«, sagt er zu mir und verlässt die Bar. Triti folgt ihm wie ein treues Schoßhündchen, ohne ein Wort zu sagen.

Mehr Blitze – eins, zwei, drei hintereinander – lassen den Himmel grell aufflammen. Normalerweise habe ich ein bisschen Angst vor Gewitter, jetzt aber nicht, denn es fühlt sich bei Weitem nicht so wirklich an wie der Strand.

»Tut mir leid, der Junge spinnt einfach«, meint Danny. »Ich, äh, sollte dann jetzt wohl auch mal los. Aber komm bald wieder, ja, Alice?« Sein Lächeln ist warm wie ein träger Sommernachmittag und er sieht mir einen Moment zu lange in die Augen. Ich senke den Blick.

Dann verschwindet er.

Meine Schwester guckt mich komisch an. Das ist der Gesichtsausdruck, den sie immer bekommt, wenn sie etwas Geistreiches sagen will. »Du magst ihn«, sagt sie gedehnt. »Und ihr zwei würdet auch ein tolles Paar abgeben. Wenn da nur nicht das offensichtliche Problem wäre –«

Ich unterbreche sie. »Sag es nicht. Nicht heute Abend.«

»Häh?« Sie verzieht überrascht das Gesicht. »Ach so, das«, sagt sie und wedelt die ganze Leben-Schrägstrich-Tod-Geschichte mit einer Handbewegung weg. »Nein, das habe ich nicht gemeint. Sondern das viel grundlegendere Problem, dass Danny Cross noch schwuler ist als Javier.«