59

Ich sitze vor dem Bildschirm und versuche, genug Mut zu sammeln, um zum Strand zu gehen.

Es fehlt nur ein halbes Dutzend Mausklicks.

»Meggie, ich habe Angst«, flüstere ich, obwohl sie mich noch gar nicht hören kann.

Angst, nichts verändert zu haben oder alles. In den letzten paar Monaten war der Strand für mich wie ein sicherer Hafen. Ein Ort, den ich nicht beeinflussen oder ändern konnte, weil ich dort nur zu Besuch war. Gut, vielleicht gelingt es mir hin und wieder, meine Schwester aufzuheitern, und vielleicht habe ich auch Danny einen Sinn für sein Leben im Tod aufgezeigt, aber es gab keine Verbindung zwischen meiner Welt und ihrer.

Bis jetzt.

Draußen hat das Knistern und Knattern des jämmerlichen Feuerwerks in unserem Stadtteil begonnen. Die Luft ist sicher voll von feuchtem Rauch und der Parkplatz vor dem Pub voller verängstigter Babys und enttäuschter Kinder und verzweifelter Eltern, die so tun müssen, als gäbe es nichts Tolleres als Wunderkerzen, die schon erlöschen, bevor man damit auch nur den ersten Buchstaben seines Namens in die Luft geschrieben hat.

Meggie mochte keine Feuerwerke. Dad hat immer gewitzelt, dass sie es nun mal nicht ertragen könne, wenn irgendetwas die Aufmerksamkeit von ihr ablenke, selbst wenn es nur ein Knallfrosch sei.

Tja, heute ist das nicht mehr so witzig.

Na los, Alice, ermahne ich mich. Ich stehe auf, tigere in meinem Zimmer auf und ab und erhasche dabei einen Blick auf mich in der Spiegeltür des Schranks. Nach all den Dramen des heutigen Tages sehe ich ziemlich fertig aus. Okay, am Strand ist sowieso jeder wunderschön, aber es kann wohl kaum schaden, wenn ich meiner Webcam ein bisschen unter die Arme greife.

Als ich meine Haarbürste und den Schminkspiegel zur Hand nehme, ist mir klar, dass ich damit nur versuche, den Moment, in dem ich es erfahre, hinauszuzögern, aber wenn es wenigstens meinem Selbstbewusstsein einen kleinen Schubs gibt, kann ich das wohl vertreten.

Am Anfang muss die Bürste sich durch einige Knoten kämpfen, aber ich mache weiter und halte die Strähnen fest, damit es nicht an den Haarwurzeln ziept, genau wie Meggie das immer gemacht hat, wenn sie mich frisierte, als wir noch klein waren. Langsam, aber sicher kehrt der Glanz zurück. Okay, vielleicht nicht direkt Glanz, aber zumindest sehen meine Haare nicht mehr so aus, als hätte ich den letzten Monat unter einer Brücke gehaust.

Verglichen damit wirken meine Augen jetzt furchtbar müde. In der Nachttischschublade finde ich mein halbvergessenes Schminktäschchen und tusche mir die Wimpern. Wahnsinn, jetzt sehe ich ja fast wieder wach aus. Ich kippe die Lippen- und Kajalstifte auf dem Schreibtisch aus und erinnere mich, wie meine Schwester mir beigebracht hat, was ich damit alles anstellen kann. Du hast so wunderhübsche Lippen, Florrie. Wenn du dieses rosa Gloss benutzt, werden dich alle Jungs küssen wollen!

Ich lächele vor mich hin. Ich will gar nicht alle Jungs. Der Einzige, den ich will, wird mich niemals küssen können. Aber heute wird er vielleicht immerhin stolz auf mich sein.

Genug Zeit verschwendet. Bringen wir’s hinter uns. Ich greife unters Bett und ziehe die Schachtel mit Meggies Zimmerschlüssel hervor. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – dass er mir ein Lied vorsingt oder im Dunkeln leuchtet? –, aber es ist einfach nur ein Schlüssel.

Klick, klick.

Nicht mal ein halbes Dutzend Mausklicks. Sondern nur zwei. Die Grenze zwischen dem realen Leben und dem Strand ist immer schmaler und schmaler geworden, bis sie nun kaum noch existiert.

Nebel. Eine frische Brise. Der Duft von Kokosnüssen. Ich glaube, nach dem Tag, der hinter mir liegt, kommt mir das alles noch intensiver vor als sonst. Vielleicht liegt es auch an dem Kontrast zu der Nachtluft draußen, wo es nach durchweichtem Feuerholz und glitschigem, fauligem Laub riecht.

Ich blinzele, einmal, zweimal, denn der Bildschirm wird einfach nicht klar. Es hat sich definitiv etwas verändert, aber ich weiß noch nicht, was. Die Seite reagiert langsamer, aber die Gerüche und das Rauschen der Wellen scheinen sich verstärkt zu haben.

»Alice!«

»Hier drüben, hier drüben!«

»Florrie …«

Danny, Javier und Meggie rufen mich zu sich, aber ich kann sie nicht sehen. Ihre Stimmen scheinen mich zu umkreisen.

Doch als der Nebel sich endlich lichtet, sitze ich in der Strandbar, am Tisch, der dem Meer am nächsten ist, und außer mir ist nur Sam hier. Sie sieht anders aus. Ich erkenne Fältchen und trockene Haut um ihre Augen und Nikotinflecken auf ihren Zähnen.

Sam lächelt. »Du hast es geschafft, Schätzchen.«

»Triti?«

»Weg.«

Ich fühle mich benommen. »War das wirklich ich? Mit dem, was ich gemacht habe?«

»Ich weiß ja nicht, was du gemacht hast, Alice, aber wer oder was hätte es sonst sein sollen?«

Rieche ich da Schweiß, wenn sie sich zu mir vorbeugt?

Alles wirkt so viel klarer. Es ist, als hätte ich den Soul Beach zuvor durch verschmierte Brillengläser betrachtet, die nun endlich jemand ordentlich geputzt hat. Und ich kann spüren, wie die aus Binsen geflochtene Sitzfläche meines Stuhls an meinen nackten Beinen kratzt, obwohl ich natürlich in Wirklichkeit in einer dicken novembertauglichen Jeans auf einem mit rosa Velours bezogenen Bürostuhl in meinem Zimmer sitze.

»Wann ist sie gegangen?«

»Es hat ein Gewitter gegeben. Zuerst konnten wir sie da draußen heulen hören wie am Spieß, aber irgendwann klang ihre Stimme plötzlich anders. Es war mehr, als riefe sie jemandem etwas zu, den sie kennt. Jemandem, den sie liebt. Um ehrlich zu sein, Alice, ich habe ihre Stimme beinahe nicht erkannt, weil sie so … na ja, so glücklich klang. Zum ersten Mal seit dem Feuerwerk. Und dann, nach dem Sturm, war nichts mehr da. Kein Heulen. Keine Rufe. Nur das Rauschen der Wellen.«

Ich schließe die Augen und sehe Tritis Gesicht vor mir: nicht die skelettartige Maske, sondern das hübsche Mädchen mit den vollen Wangen, das sie einmal war. Sie lächelt. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, doch sie formt mit den Lippen ein »Danke« und ist dann verschwunden.

Ich kann kaum glauben, dass ich das geschafft haben soll. Ich bin sechzehn, ich darf nicht Auto fahren, ich darf nicht wählen, ich darf keine Kreditkarte haben und doch verfüge ich über diese Macht.

Und es ist nicht nur die Macht, Triti zu helfen. Jetzt, da ich weiß, dass Danny recht hatte mit seiner Theorie, kann ich weiter versuchen, den Mord an Meggie aufzuklären. Auch wenn ihre Freiheit bedeutet, dass ich sie für immer verliere, und ich mir nicht sicher bin, ob ich dafür schon bereit bin.

Doch was immer dafür nötig ist, ich werde Meggies Bedürfnisse über meine stellen. Ich weiß, Triti zu helfen war nur der erste Schritt, ich habe gerade erst angefangen. Doch im Moment, fürs Erste, reicht es mir, eine solch lebenswichtige Veränderung herbeigeführt zu haben – oder vielleicht eher eine todeswichtige?

»Alice? Bist du noch da?«

»Entschuldige, ich bin nur … überrascht, dass es funktioniert hat.«

»Hör zu«, sagt Sam sanft, »ich habe dich erst mal hierhergeholt, um dich zu warnen, dass das vielleicht nicht alles ist, was sich verändert hat. Soweit ich weiß, hat zuvor noch nie ein Besucher derart hier eingegriffen, aber jetzt, nachdem du es getan hast, gibt es … eine Belohnung.«

»Was denn für eine Belohnung?« Dass ich Triti glücklich gemacht habe, reicht doch vollkommen aus.

»Ist wohl besser, wenn du das selber rausfindest. Ich wollte bloß nicht, dass du einen Schock kriegst.« Sam lächelt mich an. »Los, du willst bestimmt nicht länger hier mit mir rumhängen als nötig. Geh es dir angucken.«

Ich stehe auf. Hinter der Strandbar liegt das Meer. Und dort, im nassen Sand, die Füße von Wellen umspielt, steht meine Schwester.

Jeder Schritt, den ich jetzt mache, fühlt sich viel realer an als vorher. Es ist ein bisschen so wie damals, als Dad unseren alten Fernseher durch ein HD-Gerät ersetzt hat. Unter meinen Fußsohlen kribbeln tausend Sandkörnchen.

Meine Schwester winkt und strahlt mich an. »Du bist die Beste, Alice, ganz im Ernst! Alles ist jetzt anders hier. Nicht nur, weil wir wissen, dass Triti nicht mehr leiden muss, sondern … na ja, du wirst schon sehen, was sich noch verändert hat.«

Ich nicke.

»Aber das ist nicht die Hauptsache. Am schönsten ist, dass wir jetzt wissen, dass jeder von uns vielleicht eines Tages von hier wegkommt. Das macht das alles«, sie deutet auf den Strand ringsum, »tja, es macht das Paradies erträglicher. Vielleicht sogar zu einem Ort, den wir genießen können, solange wir hier sind.«

»Ich fasse es immer noch nicht.«

»Danke tausendmal, Florrie. Ich glaube, du hast uns alle vor einem Schicksal bewahrt, das schlimmer ist als der Tod.«

Ihr Haar weht hinter ihr im Wind und ihre Augen sind genau wie das Wasser: klar, blau, lebendig.

Ich bin außer mir vor Freude darüber, dass ich meine Schwester so glücklich gemacht habe. Für den Bruchteil einer Sekunde vergesse ich, dass wir uns am Strand befinden, und will sie umarmen. Aber ich halte noch rechtzeitig inne, bevor sie es merkt. Ich darf diesen Augenblick nicht verderben, indem ich uns beide daran erinnere, dass wir, so nahe wir uns auch stehen, in Wirklichkeit Lichtjahre voneinander entfernt sind.

»Ach, das war doch nichts«, winke ich ab.

»Wir beide wissen, dass das nicht wahr ist. Was du getan hast … das ist fast so was wie ein Wunder.«

Ich spüre, wie ich rot werde. Natürlich will ich gern hier bei ihr bleiben, aber ich will auch, dass jemand anderes erfährt, was ich geschafft habe. »Meggie?«

»Mmh?« Sie sieht auf und dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck, als ihr klar wird, was als Nächstes kommt. »Deine Gefühle für ihn haben sich nicht geändert, stimmt’s?«

»Nein, haben sie nicht. Ich bin mir nur noch sicherer geworden, dass er … na ja, dass er der Richtige ist.«

Sie starrt mich an. Mit dem Rücken zum Meer wirkt sie beinahe transparent, als schimmerten das Wasser und der Himmel durch sie hindurch und erfüllten sie mit ihrem Licht.

»Geh zu ihm, Florrie.«

»Was?«

»Na, geh schon. Wenn es jemals einen falschen Zeitpunkt gab, um dir eine Predigt darüber zu halten, wie dumm du dich benimmst, dann ja wohl jetzt.«