55

»Plätzchen oder Nachos? Oder beides? Nehmt ruhig beides, wenn ihr wollt!«

Mum ist so was von peinlich. Alles, was ich will, ist Lewis’ Neuigkeiten hören – welche Snacks dazu gereicht werden, könnte mir nicht gleichgültiger sein. Aber sie leert schon eine Tüte Maischips in eine Schüssel, füllt ein Schälchen mit Hummus aus dem Supermarkt und arrangiert beides zusammen mit zwei Gläsern O-Saft und einem Teller Plätzchen auf einem Tablett.

»Wow, dich komme ich öfter mal besuchen«, sagt Lewis, als wir endlich oben sind.

»Sie denkt, du errettest mich aus meinem Elend«, erkläre ich.

»Normalerweise errette ich Leute für fünfundneunzig Pfund die Stunde plus Mehrwertsteuer«, erwidert er, »aber fürs Hacken mache ich eine Ausnahme, das ist mehr so was wie ein Hobby.«

»Erzähl schon!«

»Ach komm, lass mich wenigstens noch meine Fanfare zu Ende bringen. Ein bisschen Eigenlob schadet nie. Du weißt schon, der Held, der gegen das System kämpft und so weiter.« Dann sieht er meinen Gesichtsausdruck. »Okay. Angesichts der Umstände, wie auch immer die sein mögen, und obwohl du mir nicht die ganze Geschichte verrätst, sag ich’s dir ohne große Umschweife. Ich habe Tritis E-Mail-Konto gehackt, ihre Passwörter rausgefunden und mich in ihren Facebook-Account eingeloggt. Und dann … Na ja, guck es dir am besten selbst an.« Er holt einen winzigen, beinahe mädchenhaften Laptop aus seiner affigen Messenger Bag.

»Ich habe alles gecacht, damit wir ein komplettes Protokoll haben. Na ja, Triti hatte natürlich an einigem rumgedoktert, Sachen gelöscht oder sonst wie geändert, aber es war zum Glück alles in ihrem E-Mail-Account gespeichert, also konnte ich die Liste offline wiederherstellen, sodass du alles in chronologischer Reihenfolge sehen kannst.«

Okay, ich gebe zu, ich bin beeindruckt, aber ich werde seinem Ego bestimmt nicht schmeicheln, indem ich zum bewundernd aufseufzenden Groupie mutiere. »Danke«, sage ich nur und beuge mich vor, um zu lesen, was auf dem Bildschirm steht.

Laut ihrer Homepage hatte Triti zweihundertelf Facebook-Freunde, ziemlich normal für jemanden in unserem Alter. Obwohl die Triti, die ich vom Strand her kenne, so schüchtern ist, dass es mich wundert, dass sie überhaupt einen Account hatte.

Ihr Profilbild zeigt ein Mädchen, das fotogen sein könnte, wenn es nicht halb verhungert aussähe. Sie trägt übertriebenen Schmuck, der ihre spitz hervorstechenden Schlüsselbeine nur noch mehr betont. Große dunkle Augen blicken argwöhnisch unter schweren Lidern hervor. Ihre Nase und Lippen scheinen zu groß für ihr eingefallenes Gesicht, so als würde ich sie durch einen Türspion betrachten. Ihre Haut ist blasser, als gesund ist.

Ich klicke auf ihr Fotoalbum, und die Bilder dort, die mehr denjenigen an der Wand bei ihr zu Hause ähneln, brechen mir schier das Herz. Sie sah fantastisch aus, als sie noch nicht so dünn war. Zarte Haut und Bambi-Augen, ohne überproportional riesig zu wirken. Sie lächelt auf allen Fotos außer dem Profilbild. Bis jetzt dachte ich, Soul Beach würde einen schöner machen, als man es im realen Leben war, aber die echte Triti war viel hübscher und vor allem natürlicher. Und auch um ihre Figur kann man sie nur beneiden, sie ist kurvig an genau den richtigen Stellen und nicht im Geringsten dick.

Trotzdem hat sie das Skelettbild ausgewählt, um sich der Welt zu präsentieren. Weil sie in ihrer verzerrten Wahrnehmung vermutlich meinte, darauf am besten auszusehen.

»Fang bei der Pinnwand an, von unten«, fordert Lewis mich auf. »Die wichtigen Sachen habe ich markiert.«

Ich klicke zurück zu ihrem Profil und scrolle nach unten. Weiter und weiter und weiter. Lewis hat es so eingerichtet, dass alle Einträge aus dem Jahr, bevor sie starb, auf derselben Seite stehen. Zuerst sehe ich nur die üblichen Nachrichten über Partys und Ergebnisse von Persönlichkeitstests und darüber, wer welchen Filmstar süß findet. Dann leuchtet der erste Post, den Lewis markiert hat, in giftigem Gelb auf:

TRITI IST SO FETT, SIE BRAUCHT IHRE EIGENE POSTLEITZAHL!

Er stammt von einem Mädchen namens Salli Patterson und darunter folgen Kommentare von einem halben Dutzend weiterer Mädchen, die sich alle einig zu sein scheinen, dass das der lustigste Witz ist, den sie je gehört haben.

Drei Tage später schlägt Salli wieder zu.

TRITI IST SO FETT, SIE BEKOMMT IM KINO GRUPPENRABATT!

Wieder erhält der dämliche Post jede Menge Likes und so geht es immer weiter: Lewis’ gelbe Markierungen dominieren langsam, aber sicher die Seite. Triti wird mit einem Wal, einem Berg, einem Bus verglichen. Nichts davon ist sonderlich lustig oder clever und wenn man hier sitzt und diese Möchtegern-Witze liest, fällt es leicht, sie als ziemlich erbärmlich abzutun.

Aber einen nach dem anderen an sich selbst adressiert zu sehen, jedes Mal, wenn man sich einloggt?

»Die sind echt gemein, aber glaubst du, das ist wirklich der Grund, warum sie gestorben ist?«, frage ich Lewis.

»Guck dir erst mal die privaten Nachrichten an«, erwidert er und beugt sich vor, um eine andere Seite aufzurufen.

Oh Mann, Salli hat wirklich nichts dem Zufall überlassen. Der gesamte Posteingang ist voll von Nachrichten, die mit einzelnen Wörtern überschrieben sind: Sau, Schlampe, Dummbrot.

»Jeden Tag eine. Manchmal sogar mehr«, sagt Lewis. »Die sind alle so.« Er öffnet eine davon.

Hey, Triti,

warum bleibst du nicht einfach zu Hause?

Ich hab dich heute in der Schule gesehen mit deinem blöden Zopf. So ’n Schleifchen machen sie den Schweinen auch an die Schwänze, wenn sie zum Schlachter gebracht werden. Das lenkt auch nicht davon ab, wie potthässlich du bist. Das Einzige, was dagegen helfen würde, wäre ein großer Sack über dem Kopf, und dann bleibt da immer noch dein Gestank!

Wir wollen dich nicht an unserer Schule. Wahrscheinlich bist du so doof, dass du das noch nicht kapiert hast. Aber das hier hört nicht auf, bis du’s endlich tust, klar?

Wir sehen uns, du Bratze.

Salli!

»Was für eine fiese Kuh.« Sallis Profilbild zeigt nur einen rosa Teddy, sodass ich nicht sehen kann, ob sie selbst dick oder dünn ist.

Wahllos klicke ich ein paar der anderen Nachrichten an. Einige davon sind nicht ganz so offensichtlich grausam und enthalten gute Tipps, wie zum Beispiel, dass Triti ja Wattebäusche essen könne, um ihren Hunger zu stillen, oder zeigen das Bild eines magersüchtigen Mädchens aus dem Internet, mit dem Untertitel: Ist sie nicht wunderschön?

Außerdem gibt es noch ein paar Mails, die von einer echten Freundin stammen könnten. Wie die arme Triti sich nach einer solchen Freundin gesehnt haben muss. Aber die hätte sie nicht in so jemandem wie Salli gefunden, die schreibt:

Bald hast du’s geschafft, Triti. Du wirst diesen Sommer am Strand super aussehen in deinem Bikini. Und dann hast du es den ganzen Schlampen gezeigt, die behaupten, du wärst fett. Dann kannst du ihnen ins Gesicht sehen und stolz auf das sein, was du erreicht hast.

Diese letzte Nachricht wurde in den Sommerferien gesendet, weniger als einen Monat bevor Triti starb.

»Diese Salli ist wirklich ein Monster.«

Lewis nickt.

»Und sie muss das Ganze mehr oder weniger Vollzeit betrieben haben. Ich meine, wir haben ja online alle schon mal den einen oder anderen biestigen Spruch abgekriegt, aber so was? Jemanden … na ja, wirklich in den Tod zu treiben.«

»Das ist eine der extremsten Hetzkampagnen, die ich je erlebt habe.«

»Also, dann sollten wir Salli wohl mal einen Besuch abstatten, was?« Vielleicht findet Triti ja nun Frieden, denke ich. Vielleicht findet sie sogar einen Weg, Soul Beach zu verlassen. Was mir wiederum mehr Anhaltspunkte verschafft, wie ich meiner Schwester helfen kann.

Ich schlucke, als ich daran denke, dass ich Meggie, wenn sie den Strand verlässt, nie wiedersehen werde. Zu wissen, wie sehr sie es sich wünscht, sollte eigentlich ausreichen, aber bin ich wirklich so selbstlos?

»Ich fürchte, so ganz einfach wird es leider nicht werden.«

»Ach komm, Lewis. Wenn du ihren Facebook-Account knacken kannst, dann kannst du ja wohl auch rausfinden, wo diese Schule ist. Die müssen doch immer noch da sein, oder? In der Oberstufe. Wir werden Salli und ihre verdammte Gang damit konfrontieren und ihnen klarmachen, was sie angerichtet haben.«

»Wo die Schule ist, weiß ich«, erwidert Lewis leicht genervt. »An der Südküste und ich fahre auch gern mit dir da hin. Die Sache hat nur einen Haken.«

»Und zwar?«, entgegne ich, mittlerweile selbst genervt und ungeduldig.

»Salli Patterson existiert überhaupt nicht.«

Nachdem Lewis weg ist, lege ich noch einen winzigen Zwischenstopp am Strand ein. Mum hat mich zu einem Kinobesuch zwangsrekrutiert, sie will sich irgendeine romantische Mutter-Tochter-Komödie ansehen, die schmalziger zu sein scheint als ein Swimmingpool voll Fritteusenfett.

Ich will keine Fantasiewelten sehen oder geliftete Schauspielerinnen, die weniger Falten haben als der Teenie, der ihre Tochter spielt. Ich will zurück zum Strand, zu meiner Schwester und zu Danny, und mich daran erinnern, dass manche Dinge tatsächlich einen Sinn haben, obwohl Tritis Geschichte immer seltsamere Züge annimmt.

Doch während ich mich freue, meine Schwester zu sehen, heißt sie mich nicht gerade begeistert willkommen. Meggie scheint sich zu meinem neuen Bodyguard ernannt zu haben. Wann immer ich mich einlogge, ist sie gleich zur Stelle, selbst wenn ich meine Besuchszeiten variiere und doppelt so oft hereinschaue wie sonst, in der Hoffnung, Danny wenigstens ein Mal allein zu erwischen.

»Das ist doch albern, Meggie.«

Sie lächelt mich an. »Jedes brave Mädchen braucht eine Anstandsdame.«

»Ja, klar, weil Danny und ich ja so viel Gelegenheit haben, uns unanständig zu benehmen, obwohl wir noch nicht mal Händchen halten können.« Ich gehe zum Felsen. Unserem Felsen.

Sie folgt mir. »Ohne mich wärst du überhaupt nicht hier. Ich fühle mich verantwortlich für alles, was passiert. Alles, was du tust.«

»Bist du sicher, dass du nicht eifersüchtig bist?«

Sie bleibt stehen. Ich ebenfalls.

»Spinnst du?«

»Nein. Als ich dir das von Danny und mir erzählt habe, hast du ein Gesicht gemacht, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Vielleicht kannst du mir einfach nur nicht gönnen, was du selbst nicht hast?«

Mit bestürztem Gesicht lässt sie sich in den Sand sinken. »Ach, Florrie, wie kannst du so was sagen? Ich will dich doch nur beschützen!«

»Du kannst mich aber nicht davor beschützen, meine eigenen Fehler zu machen, Meggie«, erkläre ich ihr sanft. »Das passiert einfach, es sei denn, ich schließe mich für immer in meinem Zimmer ein. Und selbst dann … So habe ich Danny schließlich überhaupt erst kennengelernt.«

Schon seinen Namen auszusprechen fühlt sich an, als würde ich mir selbst einen herrlichen kleinen Elektroschock verpassen.

»Liebe ist beschissen, Florrie. Sie zerstört dich nur. Sieh mich an. Wäre ich hier, wenn ich mich nicht auf die Liebe eingelassen hätte?«

Ich trete auf sie zu. »Erinnerst du dich wieder an den Abend?«

»Es ist weniger so, dass ich mich an etwas erinnere, sondern mehr wie … ein Gefühl.«

»Die Sache mit dem Lebendig-begraben-Sein?«

Sie verzieht das Gesicht. »Ja, aber … das Seltsame daran ist, dass ich, während ich versuche, aus der Erde rauszukommen, genau weiß, dass derjenige, wer immer es auch ist, mir das nur antut, weil er mich liebt. Oder zumindest glaubt er das.«

»Tim?« Ich denke daran, wie wütend er am Telefon geklungen hat. Vielleicht hat er mir die Geschichte mit der Verleumdung ja nur aufgetischt, um mich auf die falsche Fährte zu locken.

Sie sieht zur Seite. »Niemand hat mich je so geliebt wie er.«

Ich spüre, wie mich glühender Zorn erfüllt. »Na, wenn das seine Art ist, es zu zeigen, dann soll er dafür in der Hölle schmoren!«

Meggie lächelt. »Irgendwie komisch. Ich werde gar nicht mehr wütend über die Dinge, die ich sowieso nicht ändern kann. Aber du und Danny … Sei einfach vorsichtig, ja? Ich könnte es nicht ertragen, wenn meiner kleinen Schwester das Herz gebrochen würde.«

»Ich …« Ich öffne den Mund, um ihr zu sagen, dass es mein Herz ist und ich es mir brechen lassen kann, wann immer ich will. Aber ich möchte ihr nicht wehtun, also wechsle ich das Thema. »Ich glaube, was Triti angeht, mache ich langsam Fortschritte.«

Und erst, als ich ihr das erzähle, kommt mir der Gedanke, dass Triti vielleicht sogar schon heute Nacht verschwinden könnte. Lewis und ich wissen jetzt, warum sie gestorben ist – das muss doch als eine Art Aufklärung gelten, oder nicht?

Meggie sieht mich an. »Im Ernst? Das ist auch bitter nötig. Sie ist immer noch da drüben«, meine Schwester deutet ans Ende des Strandes, »und versteckt sich. Wir waren noch mal bei ihr und … ich habe noch nie jemanden so verzweifelt gesehen.«

»Meggie, glaubst du, sie kommt frei? Wenn ich rausfinde, was wirklich passiert ist?«

Sie versucht zu lächeln. »Das hoffe ich wirklich, Florrie. Denn wenn sie es kann, gibt es Hoffnung für uns alle.«

»Hoffnung?« Danny hat auch gesagt, ich hätte ihm neue Hoffnung gegeben.

Meggie blickt hinaus aufs Meer. »Nicht, dass ich überhaupt noch irgendwohin wollen würde. Jetzt, wo ich meine kleine Schwester wiederhabe.«

Ich möchte so schrecklich gern zu Danny, aber wie kann ich jetzt gehen, nachdem Meggie so etwas gesagt hat? Ich drehe seinen Namen in meinen Gedanken hin und her wie einen kostbaren Edelstein. Er ist nur zwei-, dreihundert Schritte entfernt. Und wartet auf mich.

»Alice!« Meine Mutter steht vor der Tür. »Wir müssen langsam los.«

»Okay, ich bin in zwei Minuten unten.«

»Florrie?«

Hat meine Schwester Mums Stimme gehört?

»Ich muss los, Meggie. Aber zuerst …« Ich sehe den Strand hinunter. Auch wenn er dort wartet, ich darf nicht riskieren, dass Mum reinkommt. Ich lege die Hände um den Mund – und stelle mir einen Augenblick vor, es wären seine Lippen –, dann beuge ich mich direkt über das Mikrofon und rufe hinein: »Danny Cross!«

Meine Stimme hallt über den Strand. Es ist ein komisches Gefühl zu wissen, dass nur vier Menschen mich hören können: meine Schwester, Triti, Javier … und Danny. Keiner von den anderen Gästen weiß auch nur, dass es mich gibt.

»Alice Forster!«

Seine Stimme tönt von unserem Felsen zu mir herüber. Sie klingt anders, wenn er schreit, aber es ist immer noch mein Danny.

»Ich muss jetzt gehen, aber morgen komme ich wieder, das verspreche ich! Und am Tag danach und am Tag danach.«

»Hmm. Weißt du, es schadet nicht, wenn man sich ein bisschen rarmacht, Schwesterherz. Auch wenn dein Freund tot ist«, merkt Meggie an.

»Ich warte hier, Alice. Immer. Der Strand ist nichts ohne dich!«, ruft Danny zurück.

Ich muss so breit grinsen, dass mir das Gesicht wehtut.

Meine Schwester stößt einen Seufzer aus. »Schätze mal, mich der jungen Liebe in den Weg zu stellen wird schwieriger, als ich dachte.«