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Ich wollte allein fahren, aber das hat Lewis nicht zugelassen.

»Ist ein raues Pflaster da oben«, erklärte er. »Irgendwie fühle ich mich für dich verantwortlich.«

Wir nehmen die U-Bahn und unterwegs denke ich darüber nach, was wohl hinter Tritis Tod steckt. Eine drohende Zwangsheirat? Misshandlung durch die Eltern? Ich stelle mir eine Wohnung im obersten Stockwerk eines trostlosen Hochhauses vor, einen Ort, an dem selbst ein Selbstmord auf Raten erstrebenswerter erscheint als ein langes Leben, in dem einen nichts als dasselbe Grau-in-Grau erwartet.

Dann sind wir da. Tritis Straße ist ungefähr hundertmal schicker als die, in der ich wohne: solide Doppelhäuser mit jeder Menge deutscher Autos in den frisch markierten Parkbuchten davor.

»Jetzt kannst du mich wohl auch allein weitermachen lassen, Lewis. Wie ein Getto sieht das hier ja nicht gerade aus.« Ich greife in meine Handtasche und ziehe fünf Pfund heraus. »Hier, hol dir doch irgendwo einen Kaffee. Ich rufe dich an, wenn ich mit ihnen geredet habe.«

Falls ich überhaupt so weit komme.

»Steck das weg, du Scherzkeks. Wie viele Wochen musstest du dafür dein Taschengeld sparen? Ich brauche dein Geld nicht. So viel verdiene ich innerhalb von zehn Minuten, während ich einfach nur hier stehe. Außerdem würde ich dann doch ganz gern wissen, wofür ich eigentlich riskiert habe, in den Knast zu wandern.«

»In den Knast?«

»Na ja, sich in die Datenbanken der Regierung einzuhacken, ist alles andere als legal, Alice. Aber was soll’s, jedenfalls bin ich gespannt, wie du vorhast, diese Leute zu bequatschen.«

Ich sage ihm nicht, dass er da nicht der Einzige ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.

Tritis Haus wirkt sehr gepflegt, mit Töpfen voller herbstlicher Pflanzen, die wie Wächter auf den Stufen vor der geschmackvollen graugrünen Eingangstür stehen. Ich kann nicht durch die Fenster sehen, weil die Jalousien heruntergelassen sind, diese aber sind cremefarben und haben eine raue Textur, wie handgeschöpftes Papier. Alles hier wirkt so erlesen. Mir wird klar, dass ich etwas Bollywood-Mäßigeres erwartet hatte, ein Zuhause passend zu einem Mädchen mit einer Vorliebe für Feuerwerk und Glitzerohrringe.

Ich hole tief Luft und klingele. Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit zum Vorbereiten nehmen sollen. Aber heute ist Sonntag und damit unsere beste Gelegenheit, Tritis Familie zu Hause zu erwischen.

Außerdem fürchte ich, dass sie nicht mehr lange durchhalten wird. Als ich Meggie gestern am Strand besucht habe, konnte ich Triti im Hintergrund weinen und schreien hören. Ein paar von den anderen redeten schon davon, ihr einen Knebel zu verpassen, nur um mal eine Weile Ruhe zu haben.

»Keiner da«, sage ich, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch abzuhauen, bevor doch noch jemand kommt, und der Gewissheit, dass dies hier im Augenblick das Einzige in meinem Leben ist, was wirklich zählt.

»Ich kann hören, dass jemand im Haus ist«, erwidert Lewis. »Mensch, Alice, jetzt kneif doch nicht im letzten Moment. Ich hab bestimmt nicht meinen Sonntag geopfert, um gleich an der ersten Hürde zu scheitern. Versuch’s noch mal.«

Verdammt, hat der Kerl einen Kommandoton am Leib.

Aber leider hat er recht. Was soll ich Meggie und Danny erzählen, wenn ich jetzt gehe? Und wie kann ich mich weiterhin im Spiegel ansehen, wenn ich diese Gelegenheit verschenke, Triti zu helfen und dem Geheimnis von Soul Beach auf die Spur zu kommen? Das hier ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für schwache Nerven.

Ich drücke abermals fest auf die Klingel und diesmal hören wir sie laut und deutlich durchs Haus schallen, unmöglich zu ignorieren.

Durch die Glaseinsätze in der Tür sehe ich eine Bewegung. Eine schlanke Gestalt nähert sich mit demselben raschen, aber fließenden Gang, wie ich ihn von Triti kenne, und bevor ich noch mal Luft holen kann, geht die Tür auf.

»Ja, bitte?«

Kein Zweifel, wir haben das richtige Haus erwischt. Das kann nur Tritis Bruder sein. Er hat ein schmales, beinahe katzenhaftes Gesicht. Und obwohl er sonntäglich lässig gekleidet ist – Jeans und ein knittriges T-Shirt –, wirkt er unheimlich elegant.

»Ich möchte nicht stören –«, setze ich an.

»Nicht schon wieder«, unterbricht er mich mit einem Stöhnen. »Ich habe doch schon beim letzten Mal gesagt, wir sind nicht interessiert an ewiger Erlösung, okay? Und außerdem klingt es auch so, als würde die Verdammnis viel mehr Spaß machen.« Seine Stimme klingt vornehmer als die seiner Schwester, aber auch spitzer.

»Wir wollen dich nicht bekehren oder so was«, sagt Lewis und legt die Hand an die Tür, sodass der Junge sie uns nicht vor der Nase zuknallen kann.

Ich trete vor. »Es geht um deine Schwester. Triti. Triti Pillai, das ist doch richtig, oder? Sie ist … sie war eine Freundin von mir.« Da sind sie wieder, Meggies goldene Regeln des Lügens. Dieser Teil meiner Geschichte entspricht beinahe der Wahrheit, aber der nächste tut es nicht. »Wir kannten uns aus der Schule.«

Argwöhnisch sieht er mich an. »Du bist jünger als sie.«

»Triti war zwei Stufen über mir«, sage ich. »Und immer nett zu mir.«

Er runzelt die Stirn und mustert mich. »Du warst aber nicht bei der Gedenkfeier.«

»Nein, ich wäre gern gekommen, aber ich war … im Urlaub. Bitte, können wir vielleicht kurz reinkommen?«

»Aber du warst definitiv nicht bei ihr auf der Schule«, sagt Tritis Bruder zu Lewis.

»Ich bin Alice’ Freund«, erwidert er und ich unterdrücke ein Schnauben. »Wir halten dich auch nicht lange auf, versprochen.«

Der Junge zögert, öffnet die Tür jedoch ein Stück weiter. »Okay. Aber wirklich nur kurz, meine Eltern kommen bald zurück und ich will nicht, dass Mum sich wieder aufregt.«

Lewis macht heimlich eine Daumen-hoch-Geste, als wir das Haus betreten, das nach Vanille-Lufterfrischer riecht. Wir folgen Tritis Bruder durch den breiten Flur in einen Wintergarten auf der Rückseite des Hauses. Es ist kühl und schummrig und die Oktoberwolken hängen so tief, dass ich das Gefühl habe, ich könnte den Finger ausstrecken und ein Loch hineinstechen. Er bedeutet uns, uns zu setzen. Die Rattanmöbel quietschen unter unserem Gewicht.

»Lewis«, stellt Lewis sich vor und gibt dem Jungen die Hand.

»Rafi.«

»Ich bin Alice.«

»Ja. Hat er ja schon gesagt.« In Rafis Augen liegt genauso viel Misstrauen wie in Tritis und das kann ich ihm auch kaum übel nehmen. »Was willst du hier? Warum kramst du die Geschichte nach so langer Zeit wieder hervor?«

»Ich …« Oh Gott, das Ganze war eine schreckliche Idee. Ich will einfach nur hier weg, denn von allen Leuten sollte ich doch wohl am besten verstehen, wie entsetzlich es ist, eine Schwester zu verlieren. Wahrscheinlich hatte er gerade, ein Jahr danach, endlich einigermaßen damit abgeschlossen und jetzt tauche ich hier auf, mit meinen Lügen, und zerre alles wieder ans Tageslicht.

Aber ich tue es ja für sie. Das darf ich nicht vergessen. Wenn ich herausfinde, warum Triti am Strand ist, kommt sie vielleicht von dort weg. Und danach vielleicht meine Schwester …

Lewis stößt mich mit dem Ellbogen an.

»Ich bin gekommen, weil ich Angst habe, dass mit mir dasselbe geschieht wie mit Triti.«

Rafi mustert mich kurz von oben bis unten. Gott sei Dank habe ich seit Soul Beach nicht viel Appetit gehabt – vorher hätte mir die Geschichte mit der Magersucht kein Mensch abgenommen.

»Du hast also einen Herzfehler, oder was?« Seine Stimme klingt höhnisch.

»Das war nicht der einzige Grund, dass sie gestorben ist. Oder, Rafi?«

Sein Gesicht wirkt plötzlich verschlossen. Er erinnert mich so sehr an seine Schwester. Nur, dass er für mich irgendwie sogar noch wichtiger ist: Immerhin ist er der erste Mensch, der mir definitiv die Existenz von Soul Beach beweist.

»Der Arzt hat gesagt, es waren natürliche Ursachen. So wollen wir sie im Gedächtnis behalten.«

»Aber warum ist sie ursprünglich ins Krankenhaus eingeliefert worden, Rafi?«, fragt Lewis, gerade als ich aufgeben will.

Eine Ewigkeit lang sagt niemand von uns etwas, dann aber sehe ich, dass Rafi Tränen in die Augen treten. Ich weiß genau, wie er sich fühlt. Ich wünschte, ich könnte ihm von Soul Beach erzählen, aber selbst wenn er mir glauben würde, wäre es für ihn wohl kaum tröstlich zu erfahren, dass seine Schwester heute genauso sehr leidet, wie sie es zu Lebzeiten getan hat.

»Sie war erst ganz am Ende dort. Als es sowieso schon fast vorbei war. Davor … na ja, du wirst das ja selbst am besten wissen, aber im Internat lässt sich so was leicht geheim halten. Und an einer reinen Mädchenschule ist das ja sowieso ziemlich verbreitet. Essen verstecken. Essen klauen. Ich glaube, sie hat überhaupt erst damit angefangen, um mit den anderen mitzuhalten.«

»Hmm«, sage ich. Im Internat. Das wusste ich nicht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, es könnte wichtig sein.

»Als sie im Sommer, kurz bevor sie sechzehn wurde, nach Hause kam, war sie auf einmal total verändert. Dünner natürlich, aber auch distanzierter. Mum ist es auch aufgefallen, nur Dad nicht. Na ja, ganz am Ende dann schon. Vorher war sie einfach eine typische kleine Schwester, wisst ihr?«, fragt Rafi, scheint jedoch keine Antwort zu erwarten. Es wirkt eher, als wären es gar nicht mehr wir, mit denen er spricht. Geistesabwesend starrt er hinaus in den herbstlich öden Garten. »Aber in dem Sommer hat sie auf gar nichts reagiert, was ich gesagt oder gemacht habe. Ich hätte sie kneifen können und sie hätte keinen Mucks von sich gegeben.« Plötzlich scheint ihm wieder einzufallen, dass wir hier sind. »Hab ich natürlich nicht. Sie gekniffen, meine ich. Klar konnte ich sie zwischendurch auch mal nicht ausstehen, aber ich habe sie geliebt. Tja, Geschwister eben, ihr wisst schon.«

Ich nicke. Ja, ich weiß, wie das ist. »Also glaubst du, es lag an der Schule, dass Triti sich so verändert hat?«

Rafi vergräbt das Gesicht in den Händen. »Hör zu, wir waren eine glückliche Familie. Vielleicht ein bisschen langweilig, aber glücklich. Ich merke doch, wie uns die Leute jetzt angucken. Mum und Dad werden nirgends mehr zum Essen eingeladen. Dabei wissen nur die wenigsten davon. Stellt euch mal vor, wie es gewesen wäre, wenn es in den Zeitungen gestanden hätte: Tochter von indischem Geschäftsmann hungert sich zu Tode. Die hätten doch alle das Schlimmste angenommen.«

»Wie meinst du das?«

»Das Übliche eben. Dass sie zu so einer komischen arrangierten Ehe gezwungen werden sollte oder dass Dad und ich sie zu unserer Haussklavin machen wollten, statt sie die Schule fertig machen zu lassen und so weiter.«

Ich werde rot. So etwas in der Art hatte ich ja auch vermutet. »Verstehe.«

»Also, ist es da ein Wunder, dass wir das alles lieber unter Verschluss halten wollten? Für Triti spielt es schließlich jetzt keine Rolle mehr.«

Genau da könntest du falschliegen, denke ich. Vielleicht war es gerade die Tatsache, dass niemand sich mit dem auseinandersetzen wollte, was wirklich mit ihr passiert ist, und aus diesem Grund ist Triti am Strand gelandet. »Hat sie denn nie erzählt, was passiert ist? Was sich an der Schule verändert hat?«

»Hat sie dir was erzählt?«

Ich wende den Kopf ab. »Nicht direkt.«

Sein Gesicht nimmt einen harten Ausdruck an. »Tja, dann weiß ich, wie schon gesagt, nicht, was du hier überhaupt willst. Und jetzt hätte ich gern, dass ihr beide geht, bevor meine Eltern zurückkommen.«

Lewis berührt meine Hand. »Wir sollten wirklich gehen, Alice.«

Ich stehe auf. Das war nicht alles, da bin ich mir sicher. Aber ich folge ihnen trotzdem durch den Flur und dort fällt mir eine Reihe von Fotos an der Wand auf. Alle ganz normal: Triti und Rafi in unterschiedlichen Schuluniformen oder bei Kostümpartys, im Urlaub in Frankreich und Spanien und einmal auch an einem exotischen Strand, der ein wenig an Soul Beach erinnert. Bei einem Feuerwerk. Ganz normale Alltagsfreuden. Triti ist kein Hungerhaken, aber das unterstreicht ihre Hübschheit nur noch mehr. Und sie hat eine große Oberweite, aber längst nicht so extrem wie am Strand.

Es gibt keine Bilder von ihr, auf denen sie über fünfzehn ist.

»Ihr seht glücklich aus. Auf den Fotos«, sage ich zu Rafi, der uns bereits die Tür aufhält.

Er denkt darüber nach. »Waren wir auch. Vielleicht dachte Triti ja, sie würde damit nur sich selbst verletzen, aber sie ist nicht mehr hier. Wir sind diejenigen, die den Schmerz noch immer ertragen müssen.«

»Tut mir leid, dass ich das alles wieder an die Oberfläche gebracht habe, Rafi«, sage ich im Gehen.

»Tja, na ja, ich weiß auch nicht, es war irgendwie ganz schön, mal über sie zu reden. Das tun wir nie. Ich wünschte nur, ich wüsste, warum du gekommen bist. Hoffentlich hast du erfahren, was du wissen wolltest.«

Am liebsten würde ich seine Hand drücken, ihm sagen, dass ich genau weiß, wie es ihm geht. Aber ich gehe nur die Eingangsstufen hinunter und er sieht uns nach, bis wir um die Ecke verschwunden sind. Zwischen Lewis und mir scheint eine unausgesprochene Übereinkunft zu bestehen, nicht zu reden, bis wir wieder an der U-Bahn sind.

»Das war ganz schön heftig«, sagt er schließlich.

»Ja. Und sinnlos«, erkläre ich. »Alles, was ich erreicht habe, ist, den armen Kerl traurig zu machen. Und wofür? Ich weiß kaum mehr als vorher. Noch nicht mal, auf welcher Schule Triti war.« Ich laufe voran, ich will weg von Lewis und allem, was mich daran erinnert, was ich gerade getan habe.

Er hält mich am Arm fest. »Hör mal, ich weiß ja nicht, was du überhaupt erreichen willst, aber eins merke sogar ich. Und zwar, dass dir das hier wirklich wichtig ist. Du trauerst, Alice, was dazu führt, dass ich dir viel mehr nachsehe als anderen Leuten, wenn es um Fehler geht.«

»Auch, wenn ich damit anderen Leuten wehtue, die auch trauern?«

Er hat meinen Arm immer noch nicht losgelassen. »Vielleicht nicht. Aber trotz deiner gelegentlichen Anfälle von Griesgrämigkeit glaube ich nicht, dass du jemand bist, der so was tut, ohne zumindest zu glauben, einen guten Grund dafür zu haben. Ich durchblicke das alles sowieso nicht, aber falls du es tust, dann mach, was nötig ist.«

Ich ziehe meinen Arm weg, aber nach seinen Worten geht es mir schon ein winziges bisschen besser. Auch wenn ich im Moment überhaupt nichts mehr durchblicke, weder was den Strand betrifft noch das normale Leben.