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Dann passieren verschiedene Dinge nacheinander. Ein Baby fängt an zu weinen und bricht den Bann dieses High-Noon-Moments. Dampf schießt aus der Kaffeemaschine. Und etwa ein Dutzend Schülerinnen dreht sich zum Fenster um, wo ein Mädchen in einem schwarzen, zu eng sitzenden Pulli sitzt und Lewis anstarrt.

Es können nur ein, zwei Sekunden gewesen sein, aber mir kommt es vor wie Jahre, bis sie aufsteht.

»Ich bin Demi.«

Sie hat eine raue Stimme, wie Cara, wenn sie mal wieder die Nacht durchgemacht hat. Ihre Jeans spannt an den Oberschenkeln und ihre abgekauten Nägel sind korallenrosa lackiert. Mir war sie überhaupt nicht aufgefallen, als ich ins Café kam. Für die bösartige, aber kluge Salli ist sie doch sicher viel zu gewöhnlich, oder?

Lewis deutet auf die Tür und tritt dann selbst hinaus auf die Straße. Demi zögert, aber ich sehe die Neugier in ihrem rundlichen Gesicht und weiß, dass sie ihm folgen wird. Als sie es tut, gehen drei ihrer Freundinnen hinterher. Ihre Gang.

Ich stehe ebenfalls auf und lasse meinen Becher auf dem Tisch stehen. »Mein Bruder«, erkläre ich Jade und Maria, die sichtlich verwirrt sind über den Zusammenhang zwischen diesem Racheengel und der etwas beschränkten potenziellen neuen Mitschülerin, für die sie mich gehalten haben.

Auf der Straße stehen Lewis und Demi einander gegenüber, Demis Gefolge hinter ihr wie die Backgroundsängerinnen in einem Teenie-Musical. Er wartet, bis ich nahe genug bin, um mitzuhören.

»Ich würde mich gern mit dir über Triti Pillai unterhalten.«

Ich beobachte Demis Gesicht, sehe den Anflug von Panik, der jedoch sofort wieder verschwindet und einem derart gleichgültigen Ausdruck weicht, dass ich ihr am liebsten eine Ohrfeige verpassen würde. Ihre Kumpaninnen sind nicht so schnell – eine guckt verängstigt, eine griesgrämig, eine einfach nur beschränkt. Die drei Affen.

»Über wen?«, fragt Demi. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Das will ich wohl auch meinen«, sagt Lewis. »Immerhin hast du sie zu Tode gemobbt.«

Zwei der Mädchen keuchen auf, aber Demi verzieht bloß spöttisch das Gesicht. »Hä? Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Weißt du was, das ist in der Tat gut möglich«, erwidert er und schenkt ihr ein Lächeln, das wohl auf gefährliche Stimmungsschwankungen hinweisen soll. »Aber das heißt noch lange nicht, dass du nicht für den Tod eines anderen Mädchens verantwortlich bist.«

Demis Schmollmund beginnt zu zittern. »Kommt«, winkt sie den anderen und geht los Richtung Schule.

Lewis läuft neben ihr her. »Ist doch okay, wenn wir ein Stück mitkommen, oder? Mit deinen Lehrern würden wir nämlich auch ganz gern ein Wörtchen reden. Die wollen doch nach Tritis Tod sicher keine neuen Skandale, stimmt’s?«

Demi bleibt stehen. »Wer seid ihr eigentlich, verdammt noch mal?«

»Freunde von Triti und ihrer Familie«, antwortet er.

»Was hat sie dir denn überhaupt getan?«, schalte ich mich ein.

Demi biegt scharf nach links in eine kleine Gasse ab und fängt an zu rennen. Lewis jagt ihr hinterher und hat sie schon in die Enge getrieben, bevor ich auch nur ein paar Meter zurücklegen kann.

Er muss sie gar nicht anrühren. Er steht bloß vor ihr, aber seine Botschaft ist deutlich zu verstehen. »Bitte, sie gehört dir«, sagt er zu mir.

»Und du irrst dich definitiv nicht?«, vergewissere ich mich.

»Nein. Ein Mädchen in dem anderen Café hat mir erzählt, sie alle hätten eine Vermutung gehabt, wer es war, aber es nicht beweisen können. Na ja, haben sie zumindest gedacht.« Er zieht sein iPhone aus der Tasche. »Ich habe gerade mal vier Sekunden gebraucht, um die IP-Adresse ihres Handys mit der der fiktiven Salli abzugleichen. Volltreffer.«

Als sie den Namen hört, zieht Demi ein finsteres Gesicht. Ich gehe auf sie zu und sie wendet sich von mir ab. Hinter mir kommen die anderen Mädchen näher, ich kann es spüren.

»Buh!«, ruft Lewis ihr von der anderen Seite ins Ohr. Demi zuckt zusammen und dreht sich wieder zu mir um. Alle Dreistigkeit ist jetzt aus ihrer Miene gewichen.

»Triti ist … war meine Freundin«, sage ich. »Sie war ein guter Mensch. Warum hast du das gemacht?«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, erwidert sie, klingt aber längst nicht mehr so großspurig.

»Na schön«, meint Lewis. »Ich habe genug Beweise, um sie der Schule vorzulegen oder vielleicht auch der Polizei. Keine Ahnung, was für eine Strafe es gibt, wenn man jemanden zu Tode mobbt. Was meinst du, Alice? Ein Jahr? Zwei? Na ja, als Internatsschülerin wird sich die Gute bestimmt prima in einem Jugendknast eingliedern. Da sind lauter Mädchen wie du, Demi. Ich wette, die können dir sogar noch einiges über Mobbing beibringen.«

Ich weiß nicht, ob das, was er sagt, stimmt, aber das geht Demi sicher auch so.

»Was wollt ihr?«, fragt sie und ihre Stimme klingt erstickt, nach unterdrückten Tränen.

»Sag uns, was du getan hast und warum«, verlange ich.

Hinter mir erklingt ein Geräusch. Zwei ihrer Freundinnen sind immer noch da: Grummel und Blödi. Die Verängstigte hat sich schon aus dem Staub gemacht. Ich warte darauf, dass sie sich auf mich stürzen oder Demi zumindest verteidigen, aber sie stehen bloß da und warten ab.

»Wissen die da Bescheid?«, frage ich Demi und deute auf ihre Freundinnen. »Wissen sie, was du getan hast? Haben sie mitgemacht?«

Sie starren mich einfach nur weiter an. Und mir kommt der Gedanke: Vielleicht quält sie die beiden ja auch …

»Ich bin nicht gerade für meine Geduld bekannt«, droht Lewis und lässt die Fingerknöchel knacken. Für meinen Geschmack gefällt er sich ein bisschen zu gut in seiner neuen Rolle als wortgewandter Psychopath, obwohl ich persönlich ihn etwa so Furcht einflößend finde wie Kermit den Frosch.

Lewis schaltet sein iPhone ein und liest vor: »›Du wirst diesen Sommer am Strand super aussehen in deinem Bikini. Und dann hast du es den ganzen Schlampen gezeigt, die behaupten, du wärst fett.‹ Na, kommt dir das bekannt vor?«

Demi starrt stur vor sich hin.

Blödi tritt einen Schritt vor. »Darf ich mal sehen?«

Lewis wirkt etwas nervös bei der Vorstellung, ihr sein Handy zu geben, aber ich nicke. Das Mädchen liest. Nach einer Weile reicht sie das Telefon ihrer Freundin, die ebenfalls liest, was dort steht – sehr langsam, den Zeigefinger auf dem Display.

»Du hast nie erzählt, dass du ihr auch private Nachrichten geschickt hast«, sagt Blödi zu Demi. »Du meintest doch, das wäre alles bloß ein Scherz. Ein paar Witze, damit sie sich nicht mehr so aufspielt.«

»Das ist doch alles gelogen!«, ruft Demi. »Die haben das selber geschrieben.«

Grummel schüttelt den Kopf. »Nein. Du warst Salli. Das wusste jeder. Und wir fanden alle, dass du mit den Sprüchen auf der Pinnwand schon zu weit gegangen bist. Aber das hier …«

»Warum sie, Demi?«, will ich wissen. »Warum hast du ausgerechnet auf Triti rumgehackt?«

Demi sagt nichts. Vielleicht war sie mal hübsch, bevor der Hass ihre Augen getrübt und ihren Mund so verkniffen gemacht hat.

Grummel gibt Lewis das Handy zurück und reibt dann ihre Hände aneinander, als wollte sie irgendwelchen unsichtbaren Schmutz loswerden. »Das warst du.« Sie blickt Demi ins Gesicht und ich glaube, ich kann genau sehen, in welchem Moment ihr klar wird, dass sie die Macht hat zu entscheiden, was als Nächstes geschieht. Etwas wie Triumph breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Zum ersten Mal in ihrem erbärmlichen kleinen Leben hat sie nun die Oberhand.

Sie tritt dicht vor Demi und speit ihr die Worte förmlich ins Gesicht. »Du hast Triti umgebracht.« Dann dreht sie sich um, ohne Demis Antwort abzuwarten, und marschiert die Gasse zurück.

Blödi zögert, als Demi ihr in die Augen sieht. Steht sie immer noch unter ihrem Bann?

Blödi wendet sich ab.

»Bitte!«, ruft Demi ihnen hinterher. Und in diesem Moment ist jedem von uns klar, dass sie alles verloren hat.

Lewis wartet, bis die beiden Mädchen wieder auf der Hauptstraße und ihre Schritte verklungen sind. »Also, Demi, wo waren wir?«

Sie wimmert. Anscheinend fürchtet sie wirklich, er könnte ihr wehtun, obwohl er sie bisher noch nicht mal angerührt hat. »Ich dachte doch nicht …« Demi stockt. Schüttelt den Kopf.

»Ja?«, ermutige ich sie.

»Es war nur ein Scherz. Sie war eine blöde verwöhnte Tussi. Dachte wohl, sie könnte alles haben – und jeden. Ich wollte ihr doch bloß eine kleine Lektion erteilen. Ich wusste doch nicht, dass sie es so ernst nimmt.«

»Also warst du es wirklich?«

Sie nickt.

»Sprich es aus, Demi. Sag, dass du Triti dazu getrieben hast, sich zu Tode zu hungern.«

Sie schluckt mehrere Male. Wir stehen so dicht voreinander, dass ich den Kaffee in ihrem Atem rieche und das Kratzen in ihrer Kehle höre, als sie sich zu räuspern versucht.

»Ich habe Triti Pillai dazu getrieben, sich zu Tode zu hungern.«