20

Ihre neuen besten Freunde sitzen auf den Bambusstufen einer der Strandhütten, im Schatten einer gigantischen Palme. Sie umarmen Meggie, als hätten sie sie seit Jahren nicht gesehen, mich ignorieren sie allerdings vollkommen – was ich zwar ziemlich unhöflich finde, aber immerhin verschafft mir das die Gelegenheit, sie in Ruhe zu studieren.

Sie sind zu dritt: zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen ist Inderin, sehr zierlich und hübsch. Ich würde sagen, sie ist ungefähr in meinem Alter, wirkt aber wesentlich reifer dank ihrer riesigen Brüste, die ihr orange-weiß gestreiftes Bikinioberteil fast überfordern. Eine auffällige Halskette mit Bernsteinen und Kristallen lenkt die Aufmerksamkeit zusätzlich auf ihr Dekolleté und ihre baumelnden Ohrringe bewegen sich sanft wie Windspiele in der Brise. Trotz ihrer braunen Haut scheint sie wie von einem seltsam bläulichen Schimmer umgeben, als wäre sie ganz leicht transparent. Einen Moment lang meine ich sogar, ihren Schädel zu sehen, aber es ist nur die Sonne, die auf ihre scharf hervortretenden Wangenknochen fällt.

Neben ihr sitzt ein großer dünner, italienisch aussehender Typ. Sein Baumwollhemd ist aufgeknöpft, damit man seine wohlgeformten Bauchmuskeln sieht, und seine Gesten wirken furchtbar übertrieben. Irgendwie hat er etwas sehr Oberflächliches an sich.

Aber als der andere Junge direkt durch mich hindurchsieht, überläuft mich ein Schauder. Ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er erinnert mich an irgendeine Berühmtheit. Vielleicht Leonardo di Caprio. Er ist kräftiger gebaut und ein Stück kleiner als sein Freund, mit blonden Strähnen in seinem leicht gewellten Haar. Eigentlich absolut nicht mein Typ, aber diese Augen sind so wissend, als könnte er die ganze Welt durchschauen und wünschte sich zugleich, es nicht zu können. Es sind alte Augen, obwohl der Rest von ihm jung ist.

Was ist so faszinierend an ihm? Und dann dämmert es mir. Der Junge mit den wissenden Augen ist der einzige Mensch am Soul Beach, der nicht aussieht wie ein retuschiertes Foto: Verglichen mit dem Rest dieser Klone wirkt er beinahe normal. Natürlich sieht auch er geradezu unerträglich gut aus, aber sein Haar ist zerzaust und sein ausgebeultes T-Shirt zerknittert und nicht ganz so blütenweiß wie die der anderen. Und als Meggie sich zu ihm beugt, um ihn zu begrüßen, scheint er sich bei den Luftküsschen etwas albern vorzukommen.

Meggie befreit sich aus der Umarmung des italienischen Hengstes und blickt sich dann verwirrt um. »Ach, Mist. Entschuldige, Schwesterherz, das hatte ich total vergessen. Sie können dich nicht sehen, bis ich dich nicht vorgestellt habe. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht haben die da oben Sorge, dass manche Gäste neidisch werden, wenn sie selbst nie Besuch bekommen. Du bist hier so was wie das ultimative Accessoire, glaub mir.«

Sie grinst die anderen an. »Leute, darf ich vorstellen: meine Schwester Alice.« Meggie scheint so stolz auf mich, wie ich es von früher, als wir noch beide lebendig waren, nicht von ihr gewohnt bin.

Die anderen folgen ihrer deutenden Hand, scheinen mich jedoch immer noch nicht zu sehen.

»Oh«, sagt Meggie verdutzt. »Offensichtlich habe ich da irgendwas nicht richtig gemacht.«

»Du musst unsere Namen verwenden«, erklärt der Junge im weißen T-Shirt. »Das hilft dabei, zu kontrollieren, wer sie sehen kann und wer nicht. Wie die Privatsphäre-Einstellungen bei Facebook oder so.« Seinem Akzent nach ist er Amerikaner. Ein reicher Amerikaner. Definitiv nicht mein Typ.

»Dann gehen wir nach der Länge des Aufenthalts. Das hier ist Triti oder auch Pretty Triti. Sie ist am längsten von uns allen hier.«

Das indische Mädchen macht lächelnd einen Schritt nach vorn. »Du bist ja Meggies Spiegelbild!«, ruft sie und begrüßt mich mit Küsschen links, Küsschen rechts. Nicht, dass ich davon irgendwas spüren würde. »Toller Rock.« Ich hatte einen weichen indischen Akzent erwartet, aber sie spricht ein ziemlich vornehmes Englisch mit Londoner Einschlag.

»Toller Bikini«, erwidere ich. Am liebsten hätte ich hinzugefügt, dass er ganz offensichtlich ein Konstruktionswunder ist, aber das würde vielleicht nicht so gut bei ihr ankommen.

»Und das hier ist Javier, er kommt aus Spanien.«

Javier ist der mit dem überzogenen Gehabe. Er winkt mir träge zu, rührt sich jedoch nicht vom Fleck. »Ich würde dich ja umarmen, aber das hat hier ja eh keinen Zweck.«

»Ich hätte gedacht, du wärst Italiener«, sage ich.

Er zieht ein mürrisches Gesicht wie ein schlechter Schauspieler. »Ich hasse Italiener. Alles nur Show, keine Substanz.«

Was angesichts der Tatsache, dass diese Worte von einem Toten kommen, ziemlich ironisch wirkt.

»Und, last but not least, Danny.«

»Hi, Alice.« Er erhebt sich wie ein wohlerzogener Junge, der er mit Sicherheit auch ist. Größer, als ich erwartet hatte. Vielleicht achtzehn? Entweder im Abschlussjahr an der Highschool oder er hat gerade an irgendeiner amerikanischen Eliteuni angefangen.

Erst dann fällt mir ein, dass er nicht mehr an der Uni sein kann – schließlich ist er tot. Bei Meggie kommt es mir nicht mehr so eigenartig vor, weil ich Monate hatte, um mich an ihren Tod zu gewöhnen. Aber Leuten vorgestellt zu werden, die nicht mehr am Leben sind, muss so ungefähr das Seltsamste sein, was mir je passiert ist.

Dannys wissende Augen blicken in meine. Sie sind undurchdringlich grün, aber es ist nicht die Farbe, die meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist die Intensität seines Blicks, die Sehnsucht darin. Ich glaube nicht, dass das an meiner atemberaubenden Schönheit liegt: Ich weiß, wie Verlangen aussieht, und das hier ist etwas anderes.

Vielleicht ist es das Verlangen danach, wieder lebendig zu sein.

Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden. »Hallo zusammen«, sage ich zu ihnen allen.

Javier versucht gar nicht erst, seine Langeweile zu verbergen, aber Danny lächelt. »Deine Schwester hat uns viel von dir erzählt. Schön, dich hier zu sehen. Ich hoffe, du bist nicht allzu verwirrt über … na ja, diesen ganzen verwirrenden Kram hier.«

»Setz dich«, fordert Triti mich auf und macht mir Platz auf ihrer Stufe. »Megan freut sich ja so, dass du endlich gekommen bist. Sie dachte schon, du würdest nie auf ihre Nachrichten antworten.«

»Was aber total verständlich ist«, fügt Danny hinzu. »Krieg bloß kein schlechtes Gewissen, Alice. Ich habe meinen kleinen Bruder auf die gleiche Art zu kontaktieren versucht, aber von ihm habe ich gar nichts gehört.«

»Bei meinem Bruder brauche ich es gar nicht erst zu versuchen«, erklärt Triti. »Der konnte mich ja schon nicht leiden, als ich noch lebendig war.«

Ich sehe Javier an. Er zuckt mit den Schultern. »Einzelkind.«

Ich nicke. Das passt. »Also, wie ist das, dürfen nur Geschwister hierherkommen?«

»Tja, also es wird einem nicht gerade ein Leitfaden in die Hand gedrückt, wenn man ankommt, aber ich habe ein bisschen rumgefragt«, antwortet Danny.

»Auch ’ne Art, die langen, trägen Tage hier schneller rumzubringen«, meint Javier.

»Ich denke, es kann jeder sein, zu dem man eine starke Verbindung hat, solange er auch jung ist«, erklärt Danny, »ansonsten dürfte er nicht an den Strand.«

»Wir wollen hier ja schließlich keine Falten sehen oder gar irgendwas, das runterhängt«, witzelt Javier.

»Beachte ihn am besten gar nicht«, sagt Danny. »So machen wir das alle. Aber im Ernst, die Verbindung scheint bei Blutsverwandten einfach stärker zu sein. Ein paar Leute haben natürlich auch versucht, ihre Freunde zu kontaktieren, aber von denen ist niemand hier aufgetaucht, also wissen wir nicht, ob es überhaupt funktioniert.«

Mir fällt noch etwas anderes ein. »Ich hab hier nirgends einen Laptop gesehen.«

Meine Schwester grinst. »Es läuft ein kleines bisschen primitiver ab.« Mit dem Kinn deutet sie in Richtung Strand, wo zwei Mädchen am Wasser stehen. Die eine hält eine Flasche in der Hand, die andere versucht, etwas auf ein Stück Papier zu kritzeln, das im Wind flattert. Schließlich faltet sie den Zettel zusammen, drückt einen Kuss darauf und nimmt dann die Flasche. Sie steckt die Nachricht hinein, verkorkt das Ganze und nach einem weiteren Kuss auf die Flasche wirft sie sie ins Wasser. Dort treibt sie ein bisschen an der Oberfläche, bis eine Welle kommt und sie mit sich trägt. Das Mädchen starrt noch lange, nachdem die Flasche verschwunden ist, hinaus aufs Meer.

»Per Flaschenpost?«, frage ich ungläubig.

Und dann fällt mir wieder ein, wie seltsam Meggies Handschrift in der letzten Mail ausgesehen hatte. Als wäre die Tinte verlaufen.

»Die Geschäftsleitung hält das anscheinend für witzig«, sagt Javier.

Danny beachtet ihn nicht. »Meistens hören wir gar nichts. Vielleicht gehen die Flaschen bei der Meerespost verloren, aber wahrscheinlicher ist es, dass unsere Hinterbliebenen nicht glauben können, dass die Nachrichten echt sind. Doch manchmal wird tatsächlich eine Flasche mit einer Antwort angeschwemmt.«

»Wie bei dir«, erklärt Meggie.

»Wir denken, es hat etwas damit zu tun, wie stark die Verbindung zwischen dem Gast und demjenigen ist, den er zu erreichen versucht. Je stärker, desto größer ist die Chance, dass er oder sie irgendwann hier auftaucht.«

»Genau, so eine starke Verbindung, dass wir die meisten Besucher von Soul Beach nach ein, zwei Wochen nie mehr wiedersehen«, schnaubt Javier.

»Javier, halt die Klappe«, warnt ihn meine Schwester.

Er zuckt mit den Schultern. »Ist doch besser, wenn sie es gleich erfährt, oder?«

»Warum kommen sie nicht zurück?«, frage ich.

Jetzt machen alle nervöse Gesichter. Triti runzelt die Stirn. »Vielleicht werden sie von der Homepage verbannt, weil sie die Regeln gebrochen haben. Oder weil sie einen Gast unglücklich gemacht haben. Das kommt vor.«

»Ja, oder die Verbindung ist eben doch nicht so stark, wie sie dachten. Vielleicht hat man gar nichts mehr miteinander gemeinsam. Muss doch hart sein, uns hier im Paradies leben zu sehen, während man sich selber mit den langweiligen Pflichten der echten Welt rumschlagen muss«, überlegt Javier. »Und außerdem sind wir auch nicht gerade die unterhaltsamste Truppe. Wir tun doch nichts anderes als poppen, planschen und Blödsinn plappern.«

»Da sprichst du nur für dich selbst, Javier«, sagt Meggie. »Mann, du bist vielleicht ein grummeliger Blödmann.«

Javier steht auf. »Vielleicht brauche ich einfach Schlaf.« Er lacht sarkastisch und schlendert dann davon Richtung Wasser.

»Was war daran jetzt so lustig?«

»Wir müssen überhaupt nicht schlafen«, erläutert Danny. »Klar, die Sonne geht auf und unter und die meisten von uns legen sich auch an den Strand oder in eine Hütte, wenn es dunkel wird, aber eigentlich mehr aus Gewohnheit. Nötig ist das nicht, wir werden nie müde. Ein paar Leute haben es mit stundenlangem Joggen versucht, bis der Körper schlappmacht, aber der Kopf schaltet nie ganz ab. Müdigkeit können wir also nicht für unsere Launen verantwortlich machen.«

»Was ist dann seine Entschuldigung?«, frage ich.

Triti zieht die Stirn kraus. »Das kriegst du schon noch raus.«

Meggie schüttelt den Kopf. »Ach, entspann dich mal, Triti. Ich schwebe im Moment jedenfalls auf Wolke sieben, weil meine Schwester, die ich höllisch vermisst habe, endlich hier ist. Mit ihr kommt dieser Ort schon ziemlich nahe ans Paradies ran, also sei bitte nett, ja?«

»Tut mir leid, normalerweise bin ich immer nett«, lenkt Triti mit entschuldigendem Lächeln ein. »Nett ist mein zweiter Vorname. Tschüss, Alice. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder.« Sie zockelt davon und ihre Ohrringe klimpern beim Gehen. Von hinten sieht sie dünner aus, mehr wie ein langer, schmaler Schatten und weniger wie ein Mensch, aber das ist wohl auch kein Wunder, wenn hier keiner was isst.

Danny steht auf. »Wahrscheinlich wollt ihr beiden jetzt ein bisschen allein sein. War schön, dich kennenzulernen, Alice. Ich red mal mit Javier und sorg dafür, dass er sich nächstes Mal an seine Manieren erinnert. Normalerweise sind wir echt ganz okay, versprochen.« Er sieht mich an und in seinen grünen Augen liegt wieder diese Sehnsucht.

Ich versuche, den Blick nicht zu erwidern, aber zu spät. Es ist, als würde ich fallen, und nichts und niemand kann mich auffangen.