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Am Strand riecht es so stark nach Rauch, dass ich erst mal nachsehe, ob sich mein Laptop überhitzt hat.

Nein. Nur wieder eine Halluzination.

Über dem Meer liegt eine Art Dunst, den ich zunächst der Hitze zuschreiben will, aber dann sehe ich, dass er eine gelbliche Tönung hat.

Das erste bekannte Gesicht, das mir auf dem Weg zu Meggies Palme begegnet, ist Tritis. Sie sitzt stocksteif im Sand und ignoriert alles um sich herum. Ich überlege, ob sie vielleicht Yoga macht, aber dann bemerke ich die Tränen, die ihr die Wangen hinunterrinnen.

»Triti! Was ist passiert?«

Sie starrt weiter vor sich hin. »Nichts.«

»Das sieht aber nicht aus wie nichts. Soll ich einen von den anderen holen gehen?«

Sie wirft mir einen gehetzten Blick zu. »Nein! Nein, die habe ich mit meinen Problemen sowieso schon zu Tode gelangweilt.«

Ich setze mich neben sie in den Sand. »Aber mich noch nicht.«

Ihre Hände liegen ineinandergekrampft in ihrem Schoß. »Es ist nichts.«

»Hey, hat deine Schallplatte einen Sprung, oder was?«, frage ich lächelnd.

Sie sieht mich mit ihren großen braunen Augen ausdruckslos an. »Hier. Das alles. Dasselbe Nichts, jeden einzelnen Tag, in alle Ewigkeit. Ich ertrage es einfach nicht mehr.«

Ich blicke in den Sand hinunter, versuche verzweifelt, dem Nichts eine positive Seite abzugewinnen. Der Rauchgeruch wird immer stärker und ich begreife, was der Ursprung ist: Schwarzpulver. »Aber es ist doch gar nicht immer dasselbe, Triti. Was ist denn mit dem Feuerwerk? So glücklich habe ich dich noch nie gesehen.«

»Ja, ganz genau.« Sie speit die Worte geradezu aus. »Hin und wieder mal ein paar Raketen. Toll! Vielleicht kriegen wir ja zu Weihnachten sogar einen Truthahn, wenn wir nur laut genug danach schreien.« Sie starrt rauf in den Himmel, als befände sich dort die Macht über das alles.

Ich würde ihr so gern Fragen über ihre Vergangenheit stellen, aber ich wage es nicht, aus Angst, von der Homepage verbannt zu werden. Meine Schwester steht nun mal an erster Stelle, obwohl ich am liebsten selbst in Tränen ausbrechen würde, wenn ich Triti so sehe.

Schließlich sage ich: »Meggie hat es mir erzählt. Das, was mit dir passiert ist.«

»Tja, hier hat eben jeder seine ganz persönliche Tragödie. Meine ist auch nicht schlimmer oder weniger schlimm als die von allen andern. Nur, dass ich mir das selbst angetan habe, stimmt’s? Ich habe überhaupt kein Recht, hier rumzujammern.«

»Aber irgendwas hat dich doch dazu getrieben, Triti. So was tut man nur, wenn man sehr verzweifelt ist.«

Bin ich zu weit gegangen? Beinahe rechne ich damit, dass der Strand in der nächsten Sekunde verschwindet.

Triti lacht sarkastisch. »Verzweifelt? Oder nur so egoistisch, dass man daran verzweifeln könnte? Ich bin kein Opfer, außer vielleicht das meiner eigenen Eitelkeit. Oder Blödheit.«

»Aber so simpel kann es doch nicht sein. Vielleicht würde es dir ja helfen, mit ein paar von den anderen Leuten hier darüber zu reden, denen dasselbe passiert ist?«

»Anderen Magersüchtigen? Die sind mir noch nicht begegnet.«

»Aber wenn du hier bist, muss es doch noch andere geben! Oder vielleicht Selbstmörder?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ja, die gibt es schon. Aber nicht so viele, wie ich anfangs gedacht habe. Nur weil man sich selbst um die Ecke bringt, kriegt man noch lange keinen Platz in der Ewigkeit, aber ich hab bis jetzt noch nicht raus, was der X-Faktor ist, der einem ein Ticket ins Paradies einbringt.« Es tut weh, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu hören.

»Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht etwas mit Berühmtheit zu tun hat? Oder zumindest Bekanntheit.«

»Ich bin nicht berühmt. Warum sollte irgendwer von mir gehört haben? Streberhafte Inderin stirbt an Magersucht. Bei uns an der Schule war Magersucht fast so verbreitet wie Akne. Damit wäre man wohl kaum in die Schlagzeilen gekommen.«

Ich will ihr sagen, dass man das aber sollte, dass ihre Geschichte einfach furchtbar ist. Aber mir ist klar, dass das zu vereinfacht, zu klischeehaft wäre.

Sie stößt einen erstickten Laut aus, ein unterdrücktes Schluchzen.

Wenn ich ihr doch nur helfen könnte.

Dannys Worte fallen mir wieder ein: Hier kommt man nur weg, wenn das, weswegen man hier gelandet ist, aufgeklärt wird. Drüben in der wirklichen Welt.

Und wenn ich versuche, die Umstände um Tritis Tod aufzuklären? Und rausfinde, indem ich die Theorie überprüfe, ob ich dasselbe auch für meine Schwester tun kann?

»Triti. Wenn es einen Weg hier raus gäbe, würdest du ihn dann nehmen?«

Das Schluchzen hört auf. »Sofort«, flüstert sie.

»Bitte mach dir keine große Hoffnungen oder so, aber vielleicht gibt es wirklich etwas, das ich versuchen kann. Wenn du dir ganz sicher bist. Ich glaube nämlich nicht, dass du dann noch umkehren könntest.«

»Oh, Alice.«

Zu spät wird mir klar, dass sie mir um den Hals fallen will, und wir beide sehen entsetzt zu, wie ihre Hand ins Leere greift und mit einem schmerzhaften Klatschen auf dem Sand aufkommt.

»Ich hab’s vergessen«, sagt Triti und ihre Stimme klingt so klein und verzweifelt, dass sich eine tiefe Leere in mir auftut. »Aber glaub mir, ich war mir noch nie in meinem Leben so sicher.« Sie bringt ein angestrengtes Lächeln zustande. »Oder in meinem Leben nach dem Tod.«

Vielleicht bin ich ja verrückt, ihr so ein Angebot zu machen – zu glauben, dass eine Sechzehnjährige überhaupt irgendetwas ändern könnte –, aber ich weiß, dass ich sie nicht so weiterleiden lassen kann. »Es gibt keine Garantie, Triti, ich könnte auch total falschliegen. Dann passiert gar nichts. Aber ich werde es versuchen, das verspreche ich dir.«

»Danke.« Sie nickt und schließt die Augen und wirkt plötzlich sehr weit weg, obwohl wir immer noch direkt nebeneinandersitzen. Wahrscheinlich sollte ich sie um mehr Informationen bitten, doch die Angst, vom Strand verbannt zu werden, ist allgegenwärtig. Und wenn ich nicht mehr wiederkommen darf, kann ich weder Triti noch Meggie noch mir selbst helfen. Ich muss die Sache langsam angehen.

Ich stemme mich vom Sand hoch, um nach den anderen Ausschau zu halten. Sie warten bestimmt schon auf mich. Doch als ich mich auf den Weg Richtung Steg mache, wünsche ich mir, ich könnte mir einfach mal einen Abend freinehmen.

Nach diesen wenigen Minuten mit Triti kommt mir hier alles anders vor. Trostloser. Ich werde meine gesamten Schauspielkünste aufbieten müssen, um zu lachen und zu scherzen, als wäre Soul Beach ein einziges Paradies.