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Mit meiner Anfrage, ob er mir bei meinen Studien helfen könne, habe ich Mr Bryant vermutlich den Tag gerettet.

»Recherche ist eins der heimlichen Vergnügen im Leben, Alice. Worum geht’s denn bei deinem Projekt?«

Ich habe lange darüber nachgedacht: Wenn ich ihm erzähle, dass ich etwas über ein Mädchen herausfinden will, das sich zu Tode gehungert hat, lande ich in der Olavotherapie, bevor ich auch nur »Todessehnsucht« sagen kann, das ist sicher. Aber wenn ich das hier richtig anpacke, wird sich meine neue positivere Einstellung binnen einer Millisekunde im Lehrerzimmer herumsprechen.

»Um Berühmtheit und Körperideale«, antworte ich.

»Berühmtheit und Körperideale. Klingt hochinteressant. Ich habe zufällig einen alten Studienfreund, der ein kleines, aber sehr gut ausgestattetes Zeitungsarchiv betreut.« Er schreibt mir eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer auf.

Als ich mich zum Gehen wende, lächelt er vor sich hin wie eine moderne Mary Poppins.

Am Freitag muss ich nach der Schule direkt zu dem Archiv fahren, weil es bereits um fünf Uhr schließt. Die Fahrt dauert eine Stunde, also ist es schon ganz schön dunkel, als ich das gedrungene Gebäude zwei Straßen hinter der U-Bahn-Station erreiche.

Mr Bryants alter Kumpel ist alles andere als zuvorkommend. »Du hast vierzig Minuten«, sagt er und führt mich in einen niedrigen, fensterlosen Raum mit fünf Apparaten, die aussehen wie diese alten Autorennspiele zum Reinsetzen, wie es sie früher immer in Spielhallen gab.

»Mikrofiche-Lesegeräte«, erläutert er, als er meine Reaktion sieht. »Man muss nur den Mikrofilm einlegen, das Licht einschalten und schon steht einem die Welt offen.«

»Ich hatte eigentlich mit Zeitungen gerechnet.«

»Zeitungen vergilben und zerfallen irgendwann zu Staub. Mikrofilm hält ewig. Also, um welche Publikation und welchen Veröffentlichungszeitraum geht es?«

»Ähm … ja, also, ich untersuche das Thema Körperideale, insbesondere Magersucht. Ich, äh, bin durch einen bestimmten Fall darauf gekommen – vor ungefähr anderthalb Jahren hat sich ein indisches Mädchen zu Tode gehungert. Irgendwo in London.«

»Irgendwo in London?« Er runzelt die Stirn. »Vor ungefähr anderthalb Jahren? Du weißt schon, dass es in der Stadt über dreißig reguläre Zeitungen gibt und dann noch mal genauso viele Gratisblätter? Da bist du auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«

»Kann ich es denn bitte trotzdem probieren?«

Der Archivar seufzt. »Wenn’s denn sein muss. Okay, wo wollen wir anfangen? Norden, Süden, Osten oder Westen?«

»Äh.« Ich rate blind drauflos. »Norden.«

»Bitte sehr. Du hast noch fünfunddreißig Minuten.«

Nach einer halben Stunde verstehe ich schon besser, warum der Archivar so ein griesgrämiger Paragrafenreiter ist.

Bis jetzt habe ich gerade mal zwei Monate der North London Gazette durchgesehen, aber trotz der deprimierend hohen Anzahl toter Teenager darin haben Motorradunfälle und der verlorene Kampf gegen Leukämie eben nichts Ungeklärtes an sich. Von so vielen Todesfällen zu lesen ist verstörend: Wo gehen diese jungen Leute hin? An einen anderen Strand oder ist die Belohnung für ihre geordneten Todesumstände ein himmlischer, ewiger Schlaf?

Konzentrier dich, Alice. Wenn ich in dem Tempo weitermache, sitze ich Weihnachten noch hier und selbst dann besteht die Gefahr, dass ich Triti einfach nicht finde.

»So, Feierabend«, sagt Mr Sonnenschein. »Soll ich notieren, wie weit du gekommen bist, oder hast du genug?«

Ich blicke auf meine Füße. »Es ist doch schwieriger, als ich dachte.«

»Hmm. Ja. Ich habe mein Leben lang in Archiven gearbeitet und es tut mir in der Seele weh, dir das hier vorzuschlagen, aber: Hast du’s schon mal mit Google versucht?«

Als ich nach Hause komme, unterbrechen Mum und Dad ihren Streit für ungefähr zwanzig Sekunden, um mich zu begrüßen und mir zu sagen, dass in der Küche Essen vom Inder für mich steht, nur um dann gleich zum Für und Wider dieser verdammten Fernseh-Hommage zurückzukehren.

Mein Curry ist kalt, aber ich habe sowieso keinen Hunger.

Ich nehme mein Cinderella-Schmuckkästchen und setze mich damit aufs Bett. Darin bewahre ich die Sachen auf, die mir am wichtigsten sind: das flauschige, hässliche Schlüsselanhängerpüppchen, das meine Mutter als kleines Mädchen hatte, das Medaillon mit einer Locke meines Babyhaars. Meggies goldenen Ring. Dazwischen liegt ein neuerer Schatz auf dem abgewetzten rosa Samt: der Schlüssel zu Meggies Zimmer. Ich nehme ihn heraus und lege ihn auf meine Handfläche.

Unzählige Fragen schwirren durch meinen Kopf: Wer hat Meggie getötet, warum ist Triti am Strand, bin ich in Danny verliebt? Und wenn ja, bedeutet das, dass ich jetzt komplett durchgeknallt bin?

Zuerst hat sich der Schlüssel eiskalt angefühlt, jetzt aber ist er heiß. Glühend heiß.

So heiß, dass ich ihn fallen lasse und anschließend den Teppich danach absuchen muss. Ich taste unter dem Bett herum, aber ich finde ihn nicht. Schließlich legen sich meine Finger um etwas anderes. Etwas, von dem ich sicher war, es weggeworfen zu haben.

Lewis’ Visitenkarte mit ihrer teuren, leicht samtigen Textur und der auf die Rückseite gekritzelten Nachricht.

Ruf mich an, jederzeit. Ich weiß, ich könnte dir helfen. L.

Ach ja, meinst du, du Nerd? Tja, vielleicht bist du tatsächlich meine letzte Hoffnung.