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»Schwul?«

Sie gähnt. »Das ist zumindest meine Theorie. Würde immerhin erklären, warum er und Javier so zickig zueinander sind. Und warum Danny hier niemals eins von den Mädchen anquatscht.«

Aus irgendeinem Grund bin ich enttäuscht, was wiederum dazu führt, dass ich mich über mich selbst ärgere: Wieso sollte mich das überhaupt interessieren? Und außerdem könnte es ja auch sein, dass Danny nicht mit den anderen Gästen flirtet, weil ihm das Dasein am Strand so sinnlos vorkommt. Das hat er mir doch schon mehr oder weniger so gesagt. Ich könnte versuchen, es Meggie zu erklären, aber die würde sich in ihrer dämlichen Behauptung, ich würde ihn mögen, nur bestätigt fühlen und mich noch mehr aufziehen.

Na ja, natürlich mag ich ihn, aber nicht auf die Art. In Gegenwart ihrer anderen Freunde habe ich mich immer so unbeholfen und beschränkt gefühlt, genau wie damals, als sie fünfzehn war und ich zwölf, und ich hören konnte, wie ihre gehässigen Freundinnen über mich lachten.

Ob Javier und Triti das wohl auch tun, wenn ich nicht am Soul Beach bin?

Plötzlich bin ich nur noch erschöpft. Es war ein ziemlich harter Abend, mit dem Drama um Tim und allem, aber das kann ich Meggie gegenüber wohl kaum äußern. »Hör mal, ich weiß, das klingt wie ’ne blöde Ausrede, aber ich hab für die erste Stunde morgen die Hausaufgaben noch nicht gemacht. Ich muss mich langsam ausloggen.«

»Das sieht dir ja gar nicht ähnlich, so was erst auf den letzten Drücker zu machen, Florrie.«

»Tja, vielleicht bin ich mittlerweile einfach nicht mehr so eine Streberin.«

Ich sehe ihn in ihrem Gesicht – den Moment, in dem sie begreift, warum die Schule so ungefähr das Letzte ist, was mich interessiert, dass ihr Tod mein Leben wie eine Farce erscheinen lässt. Aber sie sagt nichts.

Ich will ihr gerade den üblichen Luftkuss zuwerfen, als mir wieder einfällt, was Sam in der Bar gesagt hat. »Ich hab dich lieb, Meggie. Auch wenn ich nicht hier bei dir sein kann. Das weißt du doch, oder?«

»Natürlich, du dumme Nuss.«

»Ich weiß, das klingt schmalzig, aber ich werde es ab jetzt jedes Mal sagen, wenn wir uns sehen. Wir wissen schließlich nicht, was noch alles passiert, stimmt’s?«

»Hui, wir sind aber ernst heute.« Doch sie nickt. »Hör zu, es reicht schon, dass du nur hier bist. Das ist doch eigentlich Beweis genug, oder? Ich bin die Einzige von meinen Freunden, die Besuch bekommt. Das bedeutet doch etwas, Florrie. Also musst du es mir nicht ständig sagen. Ich weiß es.«

Und ich weiß, dass es nichts bringt, weiter darüber zu diskutieren, also verabschieden wir uns auf die gewohnte Weise.

»Komm bald wieder, Florrie. Du fehlst mir jetzt schon.«

Ich logge mich aus und bereue es sofort. Am liebsten würde ich noch mal zurückgehen und ihr doch alles erzählen. Ist mir egal, wenn sie sich über mich lustig macht. Doch als ich es versuche, lässt sich die Seite nicht öffnen.

An Soul Beach werden Wartungsarbeiten durchgeführt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.

Vielleicht befreien virtuelle Reinigungskräfte gerade den virtuellen Sand von virtuellem Müll. Oder vielleicht spielt sich das Ganze sowieso nur in meiner Fantasie ab, sodass die Homepage, wenn ich nicht dort bin, gar nicht existiert.

Ich trete ans Fenster. Das Gewitter ist weitergezogen, aber in der Ferne, Richtung Londoner Zentrum, blitzt es noch immer und der Himmel ist backsteinrot. Meine eigene Welt wirkt viel unrealistischer als der Strand.

Ich frage mich, ob es wohl leichter wäre, wenn ich immer dort sein könnte. Bei Meggie. Bei Danny.

Ich schüttele den Kopf, sowohl um das benommene Gefühl vom Brandy als auch die dummen Gedanken loszuwerden. Da fällt mir das herzförmige Post-it auf meinem Schreibtisch ins Auge.

Darauf steht sein Name: Danny Cross. Natürlich kann es sein, dass er kein bisschen realer ist als der Strand oder der Weihnachtsmann. Ich würde ihn gern googeln, aber so was machen doch nur total beschränkte Mädels, die in den süßen, wuschelhaarigen Sänger aus irgendeiner dämlichen Fernsehshow verknallt sind.

Genau wie es Millionen von Menschen weltweit bei Meggie gemacht haben.

Dann muss ich an Tim denken. Wahrscheinlich ist er jetzt schon wieder zurück in seiner Wohnung. Tobt das Gewitter mittlerweile über seinem Stadtteil? Kann er schlafen? Denkt er an Meggie, an Mum und Dad, an mich? Es kommt mir so vor, als wäre es schon Wochen her, dass Fran uns die Neuigkeit überbrachte, dabei sind seitdem gerade mal ein paar Stunden vergangen. Ich gehe auf die Website der Daily Mail, dann auf die der Sun und der BBC-Nachrichten, aber nirgends steht etwas darüber, dass er freigelassen wurde.

Und dann, bevor mir bewusst wird, was ich da tue, tippen meine Finger schon Danny Cross in das Suchfeld bei Google. Dahinter erscheinen Vorschläge, als die Suchmaschine zu erraten versucht, was ich als Nächstes eingeben will. Danny Cross Sohn von Vincent Cross, Danny Cross Cross Enterprises, Danny Cross Flugzeug, Danny Cross Unfall.

Und dann Danny Cross tot.

Meine Kehle fühlt sich plötzlich so eng an, als hätte mir jemand einen Schal um den Hals gebunden und zöge ihn nun kräftig zu. Er ist real. Und er ist tot.

Als ich wieder einigermaßen atmen kann, fühle ich mich wie benommen. Ich wähle Danny Cross tot und eine Reihe von Links erscheinen sowie der Vorschlag, die Suche auf Bilder oder Nachrichten zu begrenzen.

Ich klicke direkt auf den ersten Link, der mich zur Website eines amerikanischen Fernsehsenders führt, auf der die Schlagzeile Industriellensohn nach Absturz in Wüste tot vermutet prangt. Bevor ich weiterlesen kann, springt mir das Foto ins Auge.

Jetzt wird mir klar, warum Danny mir so bekannt vorkam. Ich habe dieses Foto schon mal gesehen.

Dieser Danny hier trägt einen Smoking mit weißem Hemd und schwarzer Fliege, die lose von seinem Kragen baumelt. Seine Kleider könnten sich kaum mehr von denen unterscheiden, die der Danny am Strand trägt, aber das Lächeln ist dasselbe. Selbstbewusst, aber nicht arrogant. Intelligent, aber herausfordernd. Die Augen jedoch sind anders. Genauso grün, aber ohne die Sehnsucht darin, die mich beim ersten Mal, als er mich am Strand ansah, so gefesselt hat.

Ich erinnere mich, dass dieses Foto durch alle Zeitungen ging, aber die Details der Geschichte sind mir abhandengekommen. Damals war das Thema Tod für mich noch nicht sonderlich interessant. Jetzt überfliege ich den Artikel: Privatjet, unterwegs zu einer Familienfeier, Hubschrauber-Suchtrupps, Geschäft des Vaters wächst trotz Wirtschaftskrise, einer von Amerikas begehrtesten Junggesellen, kurz vor dem Studienbeginn in Yale.

Ich fühle mich wie betäubt. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Oder möglicherweise doch. Vielleicht hatte ich nie erwartet, überhaupt einen Danny Cross zu finden, ganz zu schweigen von einem, dessen digital reproduzierten Augen mich nun anfunkeln. Das macht das Ganze so …

Real.

Es macht Soul Beach so real. Erst jetzt begreife ich, dass ich nicht ganz an diesen Ort geglaubt habe, oder daran, dass ich dort wirklich mit meiner Schwester rede. Jedes dieser Details hätte schließlich auch meinem Kopf, meiner Trauer entspringen können.

Aber das hier nicht. Ich werfe einen Blick auf das Datum über dem Artikel: Er wurde vor etwas über einem Jahr geschrieben. Der Zeitpunkt passt also.

Was habe ich damals gemacht? In einem Hotel in Griechenland am Pool gelegen, bei unserem letzten Familienurlaub, bevor Meggie zur Uni gegangen ist. Mum musste ihr ein ganz schön schlechtes Gewissen machen, damit sie überhaupt mitkam, und ich habe sogar die erste Schulwoche geschwänzt, damit der Urlaub in ihren vollgestopften Terminkalender passte, aber als wir dann erst einmal da waren, verhielt Meggie sich so strahlend und gut gelaunt wie immer. Ich konnte über nichts anderes reden als meine in diesem Schuljahr anstehenden Prüfungen und sie hatte trotzdem nichts dagegen, dass ich mich an sie und ihre neue Gang hängte.

Ich klicke ein paar der anderen Links an. Nachdem das Flugzeug verschollen war, brauchten die Suchtrupps einen Tag und eine Nacht, um den Unfallort zu finden. Als es schließlich so weit war, saß Danny auf dem Pilotensitz, weit entfernt von dem Wrack. Der Pilot seines Dads war ebenfalls herausgeschleudert worden und saß genauso kerzengerade auf dem Kopilotensitz. Da fällt mir wieder ein, was ich zu dem Zeitpunkt damals gedacht habe: dass der Sohn eines Multimillionärs tatsächlich so arrogant war zu glauben, er könnte ein Flugzeug steuern, ohne es gelernt zu haben. Und dass er für diese Eitelkeit hatte bezahlen müssen.

Das Foto weiter unten schockiert mich. Metallteile liegen wie Konfetti in einer kargen Wüstenlandschaft verstreut; unmöglich zu erkennen, dass dies einmal ein Flugzeug gewesen sein soll. Genauso verrückt erscheint es, dass die beiden Insassen nicht ebenso zerschmettert sind, aber so steht es nun mal da.

Die Artikel erwähnen den Piloten nur ganz am Rande. Er hat eine Frau und zwei kleine Töchter hinterlassen. Zu seinem Begräbnis kamen kaum Trauergäste, von Dannys dagegen finde ich nach nur ein paar Klicks ein Video von einem Bostoner Lokalsender.

Bei seiner Beerdigung zuzusehen versetzt mir einen Stich, weil sie mich so sehr an Meggies erinnert. Dannys Vater ist ein untersetzter, ernsthafter Mann, der in seinem schwarzen Anzug mehr wie ein Bodyguard wirkt und nicht wie ein Milliardär. Seine Mutter, ein blondes Luxusweibchen, betritt benommen und wie in Zeitlupe die weiß getünchte Kapelle. Dannys Bruder ist vierzehn oder fünfzehn, ein unbeholfener Junge mit Mondgesicht, der mit Sicherheit immer im Schatten des Älteren gestanden hatte und nun plötzlich zum Erben eines Imperiums geworden war.

Und was für ein Imperium. Der Sprecher erklärt, dass zu Cross Enterprises Chemiewerke, Drogerien und eine erlesene Auswahl an Internetfirmen gehören, die »auf Anraten von Danny erworben wurden, der gemeinhin als aufstrebendes, junges Talent in der Geschäftswelt betrachtet wurde«.

Im Inneren der Kapelle hängen große Banner mit Dannys Foto von den Deckenbalken. Ein Mädchenchor in den königsblau-karmesinroten Uniformen seiner exklusiven Privatschule gibt ein besinnliches Lied zum Besten, das ich nicht kenne. Die Hälfte der Trauergemeinde scheint kurz davor, in Tränen auszubrechen. Dann folgt ein kurzer Ausschnitt, in dem ein gebotoxter Pastor irgendwas von tragischem Verlust und Gottes unergründlichen Wegen erzählt.

Schließlich gibt es eine Totale vom Grabmal der Familie Cross, deren trauernde Mitglieder auf diese Entfernung wie Strichmännchen aussehen. Der Sprecher erwähnt eine langjährige Freundin und ich sehe ein hübsches Mädchen mit kastanienbraunem Haar vortreten und irgendetwas – Blumen? Erde? – ins Grab werfen.

Siehst du, Meggie? Nicht schwul.

Es sind noch mehr Artikel mit dieser Seite verlinkt: In einem wird die Schuld an dem Unfall dem Piloten zugeschoben, weil der einem unwissenden Jungen erlaubt hat, das Flugzeug zu steuern. Ein anderer beschäftigt sich mit dem Gerücht, Vincent Cross habe vor, die Familie des Piloten wegen Fahrlässigkeit zu verklagen. Dann schließlich ein letzter Bericht, in dem das Gerücht dementiert wird und betont, welch umfassende Maßnahmen Mr Cross ergriffen habe, um sicherzustellen, dass Witwe und Töchter gut versorgt seien. Die Botschaft zwischen den Zeilen wird mehr als deutlich: Vincent Cross ist einer von den Guten.

Ich sehe mir noch mal den Film von der Beerdigung an, diesmal ohne Ton, und versuche, das alles zu begreifen. Wie meine Schwester ist Danny eines tragischen Todes gestorben, der ihn noch berühmter machte als zu seinen Lebzeiten. Und genau wie das meiner Schwester verkauft sein Gesicht Zeitungen: Die beiden hatten alles, was man sich nur wünschen konnte, und die Leser scheinen eine Art kranken Trost daraus zu ziehen, dass weder Meggies kurzer Ruhm noch Dannys riesiges Vermögen sie davor bewahren konnten, alles zu verlieren.

Okay, wir reden hier nicht von Kurt Cobain oder Prinzessin Diana oder Che Guevara. Sie haben einfach nicht lange genug gelebt, um zu wirklichen Legenden zu werden, und früher oder später wird man sie vergessen oder der nächste tragisch verunglückte Teenie an ihre Stelle treten. Aber ihr Tod hat die Menschen etwas über das Leben gelehrt, wie flüchtig die Erkenntnis auch gewesen sein mochte.

Ist das der Grund, warum sie jetzt am Strand sind?