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Ich beiße die Zähne zusammen, denn ich will nicht, dass Sahara sie klappern sieht.

Es ist nicht so, als wäre ich noch nie dort gewesen. Ich habe sogar in diesem Zimmer geschlafen, als ich Meggie besucht habe, in ihrem Einzelbett, zwischen die Wand und meine kichernde Schwester gequetscht, während von der Straße der Lärm einer Schlägerei zwischen Betrunkenen zu uns heraufdrang.

Aber heute ist das etwas anderes.

»Wieso kommst du da rein?«

Stolz blitzt in ihren geweiteten braunen Augen auf. »Eigentlich darf das keiner. Aber Meggie hat mir einen Ersatzschlüssel gegeben, weil sie ihren andauernd vergessen hat.«

Sahara scheint mir das Zimmer unbedingt zeigen zu wollen. Aber will ich es überhaupt sehen?

Ich merke, dass ich nicke, und sie nimmt meine Hand und zieht mich mit sich, die Themse entlang und dann wieder über das Unigelände, vorbei an den ehrwürdigen Bildungstempeln bis zu den modernen Wohnheimen. Es ist immer noch Mittagspause – jetzt weiß ich definitiv, dass Adrian wegen seiner Vorlesung gelogen hat – und überall auf dem Campus lachen und flirten Studenten, was den Ernst unseres Vorhabens umso deutlicher hervortreten lässt.

Als wir im Aufzug zu Meggies Stockwerk hinauffahren, bin ich völlig außer Atem. Hier drin riecht es nach heiß gelaufenem Motor und an den Wänden hängen Poster für die letzte Strandparty des Semesters, mit Palmen und Hula-Mädchen darauf. Ich wünschte, ich könnte mich von hier weg zurück in mein Zimmer zaubern, zum Soul Beach.

Der Aufzug braucht ewig, um in die Gänge zu kommen, und während mein Atem sich langsam wieder beruhigt, mustere ich Sahara. Sie starrt auf die stählerne Tür, die Kiefer entschlossen aufeinandergepresst.

Als der Aufzug schließlich quietschend zum Stehen kommt, rastet auch in meinem Kopf etwas ein.

Kann Sahara meine Schwester getötet haben?

Mein Hirn scheint mit dreifacher Geschwindigkeit zu arbeiten. Der Streit vor dem Mord. Saharas seltsame Begeisterung darüber, mir das Zimmer zu zeigen. Die Tatsache, dass sie wenige Minuten nachdem die Leiche gefunden wurde, am Tatort aufgetaucht ist …

»Ich will hier raus«, bringe ich flüsternd hervor.

»Gut, wir sind nämlich da.«

»Ja. Okay.«

Als wir aus der Kabine steigen, sehe ich mich vergeblich nach einer Überwachungskamera um. Obwohl ich genau weiß, dass es hier keine gibt, weil die Videospur meiner Schwester, die Dokumentation ihrer letzten Minuten, bereits drei Straßen von hier entfernt abreißt. Um die Privatsphäre der Studenten zu schützen, war die Uni ursprünglich dagegen, die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken, aber zumindest auf der Hauptstraße hat die Polizei mittlerweile bestimmt zusätzliche Kameras installiert.

Kameras, die nun vielleicht meine letzten Minuten zeigen werden.

»Alles in Ordnung? Wir können uns Zeit lassen, wenn du willst.« Sahara lächelt breit und zeigt ihre vorstehenden Zähne. War sie neidisch auf die unangestrengte Schönheit meiner Schwester? Oder auf ihren Erfolg?

Ich versuche, mich zu beruhigen. Das ist doch alles Quatsch. Der Killer war offensichtlich ein Mann. Der Meggie ganz für sich allein haben wollte. Tim oder …

Sahara hat meinen Arm genommen und schiebt mich ein paar mit Teppich ausgelegte Stufen hinauf. Die Holztür des Apartments ist immer noch dieselbe, aber die Glasscheibe darin ist von innen mit Papier verklebt, auf dem Kein Zutritt steht. »Sie mussten hier dichtmachen, weil die ganzen Erstis immer zum Gaffen hergekommen sind. Besonders spätnachts. Manche reden sich sogar ein, sie hätten deine Schwester singen gehört.«

»Also wohnt da drin jetzt niemand mehr?«

Ich versuche abzuschätzen, wie laut ich wohl schreien müsste, um von hier gehört zu werden.

»Nein. Die ganze Etage steht leer. Sie lassen sie dieses Jahr geschlossen, als Zeichen des Respekts. Oder um die Leichenfledderer abzuwimmeln.«

Leichenfledderer wie Sahara?

Sie geht noch mal zurück und drückt auf den Abwärts-Knopf des Aufzugs. »Damit keiner merkt, dass irgendwer im dritten Stock ist.« Dann sieht sie sich flüchtig um, und als sie sicher ist, dass niemand hier lauert, verschafft sie uns mit dem Schlüssel Einlass und drückt die schwere Tür hinter uns zu.

Die Luft im Flur ist stickig, so heiß wie in einem Krankenhaus und komplett ohne Sauerstoff. Wahrscheinlich könnte ich jetzt noch nicht mal tief genug einatmen, um zu schreien, selbst wenn ich wollte.

Aber ich will auch gar nicht. Das wäre verrückt. Sahara hat Meggie mit Sicherheit genauso wenig ermordet wie Tim. Sie sind nur Studenten. Zuschauer.

»Irgendwas ist hier anders«, sage ich und bin überrascht, wie hoch meine Stimme klingt. Dann sehe ich auf den grauen Beton unter meinen Füßen. »Was ist denn mit dem Teppich passiert?«

»Der ist bei der Spurensicherung«, erklärt Sahara. »Krieg keinen Schreck, die haben ziemlich viel mitgenommen.«

Sie steckt den Schlüssel in die Tür von Zimmer A und stößt sie auf. »Nach dir. Wenn du willst.«

Oh Gott, warum habe ich mich bloß von ihr hierherschleppen lassen? Ich will nicht, dass sie hinter mir steht. Sie könnte …

Ich spüre einen harten Schubs im Kreuz und stolpere gegen die Tür, die nun ganz aufschwingt. »Aua.«

»’tschuldige, Alice. Manchmal merke ich einfach nicht, wie viel Kraft ich habe.«

Meggies Zimmer ist komplett ausgeräumt.

Es ist kein Zimmer mehr, sondern eine Zelle – der Boden aus demselben harten grauen Beton wie im Flur, die Wände schmutzig beige, mit helleren Flecken dort, wo ihre Möbel standen und die Pinnwand hing. Wie Geister. Alles Weiche ist fort – die Vorhänge, das Bett, der Teppich. Als ich die Tür zu der winzig kleinen Nasszelle öffne, über die alle Studenten jammern, weil man darin nicht duschen kann, ohne die Klopapierrolle komplett zu durchweichen, sind die Toilette, das Waschbecken und die Plastikwände der Dusche entfernt worden.

Aber es ist nicht die Kargheit dieses Ortes, die mich so trifft. Es ist das Gefühl, das der Raum mir vermittelt.

»Du kannst es auch spüren, stimmt’s, Alice?«

Ich fahre herum. Saharas Blick bohrt sich förmlich in mich, obwohl sie zumindest keine Axt oder ein Kissen oder so in der Hand hat und auch ihre Tasche nicht genug Platz dafür bietet.

Ich schüttele den Kopf. »Was?«

»Wie eine Aura, oder?«

»Nein«, lüge ich. Ihr gegenüber will ich gar nichts zugeben. Selbst wenn sie nichts mit dem Mord an meiner Schwester zu tun hat, scheint sie irgendeine seltsame Art von Befriedigung aus Meggies Tod zu ziehen.

Das Schlimme ist nur, dass Sahara recht hat. Der Raum hat wirklich so etwas wie eine Aura, auch wenn Meggie sich über diesen Eso-Quatsch-Ausdruck kaputtgelacht hätte. Irgendetwas Böses ist in diesem Raum oder zumindest eine tiefe Dunkelheit, trotz der Sonnenstrahlen, die durch das verschlossene Fenster hereinströmen.

Selbst wenn ich nicht wüsste, dass meine Schwester an diesem Ort gestorben ist, könnte ich die vollkommene Abwesenheit von allem, was gut und schön ist, spüren. Aber liegt es an diesem Raum oder an Sahara? Ich versuche, das Gefühl zu deuten, einen Hinweis auf das zu finden, was geschehen ist. Wer es getan hat.

Ich höre Wellen. Die Wellen des Soul Beach. Mittlerweile ist das Geräusch fast beruhigend, weil es immer da ist, sobald ich die alltäglichen Geräusche des wahren Lebens ausblende. Aber ich könnte schwören, über dem Rauschen und Gurgeln des Meerwassers Gelächter zu hören. Ist es Meggie? Nein, dafür klingt es zu grausam. Es muss jemand anderes sein.

»Alice?«

Ich falle, falle durch die Dunkelheit, und obwohl ich verzweifelt versuche, die Augen zu öffnen, ist es, als hätte jemand mein Gesicht mit irgendetwas bedeckt und würde mir dieses Etwas nun fest auf Mund und Nase pressen, sodass ich keine Luft mehr bekomme. Alles ist dunkel und ich schmecke und rieche nur Schwärze, den feuchten, lehmigen Gestank von Erde auf meinem Gesicht und in meinem Haar und …

»Tut mir leid, aber ich muss das machen.«

Plötzlich spüre ich einen Schmerz an der Wange, so heftig, dass ich die Augen aufreiße. Die Dunkelheit und das höhnische Gelächter sind verschwunden und alles, was ich sehe, ist Sahara, die Hand halb erhoben und mit einem entschuldigenden Ausdruck auf dem Gesicht.

»Du hast mich geschlagen!«

»Ist ja nicht so, als würde mir das Spaß machen!«, zischt sie. »Aber du warst mit einem Mal so komisch und bist hin und her geschwankt und dann hast du angefangen, dir das Gesicht zu zerkratzen …«

Ich sehe auf meine Finger hinunter, sie sind gekrümmt wie Krallen. Fast erwarte ich, Erde unter den Nägeln zu sehen.

»Was war los, Alice? Hast du gespürt, was mit Meggie passiert ist?« Sie klingt eher neugierig als besorgt. Plötzlich erscheint mir meine Vorstellung von ihr als Mörderin nur noch absurd.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das war nur der Weißwein.«

Die Enttäuschung in ihrem Blick regt mich so auf, dass ich ihr am liebsten auch eine Ohrfeige verpassen würde. Jetzt fühle ich mich zwar in Sicherheit, aber ich bin unglaublich wütend auf sie, genauso wie auf mich selbst, weil ich mitgekommen bin und mich so habe gehen lassen.

»Ich will hier weg, Sahara. Aber nicht, bevor du diesen verdammten Schlüssel losgeworden bist. Es ist nicht richtig, dass du den hast. Außerdem könntest du so Beweise zerstören, die sie vielleicht noch nicht gefunden haben.«

Sie drückt den Schlüssel besitzergreifend an ihre Brust. »Nein.«

»Wenn du ihn mir nicht gibst, sage ich es der Univerwaltung.«

Sahara blickt mich finster an. »Das würdest du nicht machen.«

»Und ob. Das tut dir mit Sicherheit nicht gut. Wie oft schleichst du dich hierher?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Einmal die Woche vielleicht. Ich rede mit Meggie.«

Ich halte ihr die Hand hin. Mit einem Mal fühle ich mich viel älter als sie. »Sie ist tot, Sahara. Sie kann dich nicht mehr hören.« Die Finger meiner anderen Hand halte ich hinter dem Rücken gekreuzt.

»Du bist gemein. Und außerdem machst du einen Fehler«, sagt sie, doch ihre Hand schiebt sich trotzdem auf meine zu und lässt schließlich den Schlüssel hineinfallen. »Du musst hinter uns abschließen. Sonst merken sie, dass jemand hier war.«

Als wir uns zum Gehen wenden, werfe ich einen letzten Blick zurück in den Raum und spüre erneut die Dunkelheit auf mich einstürzen. »Niemand sollte hierher zurückkommen, Sahara. Niemand.«

Danach tue ich so, als bräuchte ich dringend einen Kaffee, und natürlich bietet Sahara an, mich zu begleiten, aber ich zische nur: »Allein«, und sie kapiert es endlich. Ich warte ab, bis ich sie durch das Tor zur Uni verschwinden sehe.

Ich sollte versuchen, Tim zu finden, aber wo fange ich am besten an? Ich könnte hier rumhängen und auf Adrian warten und ihm dann zu ihrer gemeinsamen Wohnung folgen. Oder mich in den alternativen Cafés rumdrücken, die Tim immer so gemocht hat. Aber die Chancen, dass einer dieser Pläne funktioniert, sind mehr als gering, und außerdem muss ich bald nach Hause, sonst will Mum wissen, wo ich war. Derzeit behält sie mich ziemlich genau im Auge und ich habe ihre Nachsicht schon bis zum Limit ausgereizt.

»Ich komme noch mal zurück, Meggie, versprochen. Ich werde ihn finden«, flüstere ich, beschämt über meine Schwäche. Doch jetzt, nachdem die Entscheidung getroffen ist, weiß ich, dass es die richtige war. Für meine Begegnung mit Tim muss ich gut vorbereitet sein und meine fünf Sinne unter Kontrolle haben und im Moment ist mein Kopf einfach zu voll mit Geistern und Ängsten, als dass ich die Antworten aus ihm herauskriegen könnte, die ich brauche. Stattdessen spaziere ich zur Themse hinunter. Der Schlüssel fühlt sich kalt an, so als würde er die warme Haut in meiner Handfläche abtöten. Die Wolken haben sich komplett aufgelöst und das Wasser ist still wie ein Spiegel und reflektiert die Wärme der Sonne.

Ich lehne mich über das Geländer und halte den Schlüssel über den Fluss. Jetzt muss ich nur noch loslassen.

Aber irgendetwas hat sich verändert. Ich wirbele herum, überzeugt davon, dass jemand hinter mir steht, doch nur ein paar Touristen sind in der Nähe, die trotz des Windes Eis essen. Verstecken kann man sich auch hier nirgends, dennoch werde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.

»Geh weg«, flüstere ich. »Wer immer du bist.«

Das Gefühl verflüchtigt sich so schnell, wie es gekommen ist. Ich sehe erneut nach unten. Obwohl das Flusswasser sich kein bisschen zu bewegen scheint, höre ich wieder Wellen, diesmal aber klingt ihr Rauschen sanfter, beruhigender.

Ich will die Hand gerade öffnen, als ich ein Flüstern höre.

»Noch nicht, Schwesterherz. Warte noch. Die richtige Zeit wird kommen.«

Ohne dass ich groß darüber nachdenke, schließt sich meine Faust wieder um den Schlüssel und das eisige Metall lässt mich erschaudern.