58
In der Ferne höre ich ein Krachen.
Donner.
Der Himmel hat sich verdunkelt, sodass nun auch das wenige Licht in der Gasse verschwunden ist. Riesige Regentropfen klatschen laut und dicht nacheinander auf das Kopfsteinpflaster und unsere Köpfe.
Innerhalb von fünfzehn Sekunden sind wir triefnass. Aber Lewis lässt nicht von Demi ab, auch als das Wasser ihr und ihm über das Gesicht strömt. Ihr sorgfältig gestyltes Haar neigt sich wie ein untergehendes Schiff und verklumpt dann zu dicken klebrigen Strähnen. Wimperntusche rinnt ihre leicht fleckigen Wangen hinunter wie Tränen der Reue, obwohl ich mir relativ sicher bin, dass die Einzige, für die sie Mitleid empfindet, sie selbst ist.
»Warum hast du das gemacht?«, frage ich wieder. »Was hat Triti dir denn getan?«
»Sie … sie fand sich ganz schön toll, verdammt.«
»Nein, als du mit ihr fertig warst, bestimmt nicht mehr. Da, würde ich sagen, hat sie sich eher gehasst.«
»Ich wollte sie doch nur ein bisschen ärgern. Das habe ich auch bei ein paar anderen Mädchen gemacht, die sich wer weiß was eingebildet haben, aber von denen hat es keine so ernst genommen.«
»Ähm, wenn du tatsächlich glaubst, dass das irgendwie rechtfertigt, was du getan hast, Demi, dann bist du sogar noch durchgeknallter, als ich dachte«, meint Lewis.
»Sie ist immer durch die Schule geschwebt, als wäre sie was Besseres. Ihr Dad hat ihr sogar ein eigenes Zimmer gekauft, an den Leuten auf der Warteliste vorbei. Tja, hat man ja dann gesehen, dass sie nichts Besseres war – sie war ein Schwächling.«
Ich blicke in ihr verzerrtes Gesicht und denke an das von Triti auf den Familienbildern, wie sie die Kamera – das Leben – anstrahlte.
»Aber wieso tut man dann so was? Wieso hast du dir solche Mühe gemacht? Nur weil jemand anderes glücklich war? Oder wegen eines Zimmers?« Demi starrt mich an, als verstünde sie noch nicht mal die Frage. Aber ich muss weiterbohren. Ich weiß nicht genau, was als Auflösung zählt oder ob ich Triti so tatsächlich einen Ausweg eröffne, aber ich muss versuchen, Antworten auf Fragen zu bekommen, an die ich bis jetzt noch nicht mal gedacht habe. Ich versuche mir vorzustellen, wie Danny es anstellen würde. Er würde mit Sicherheit die Wahrheit herausfinden.
»Warst du neidisch auf sie?«
Ich sehe Verachtung in ihren Augen. »Quatsch.«
»Ging es um einen Jungen?«
Demi sieht zur Seite.
»Erzähl’s mir«, fordere ich sie auf.
»Die Jungs waren verrückt nach Triti. Aber sie durfte keinen Freund haben. Weswegen sie nur noch mehr hinter ihr her waren.«
Ich denke kurz darüber nach. »Vielleicht auch ein Junge, den du mochtest, Demi?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Kann mich nicht mehr erinnern.«
Lewis sieht mich an und schüttelt kaum merklich den Kopf. »Weißt du was, Alice? Ich glaube, Demi ist einfach zu blöd, um drauf zu kommen, warum sie es getan hat. Sie hat ein Mädchen zu Tode gequält und erinnert sich nicht, warum. Leute wie sie machen mich echt krank.«
Demi zieht ein finsteres Gesicht. »Hallo, ich stehe direkt neben dir.«
»Keine Sorge, Schätzchen, wir haben dich nicht vergessen«, entgegnet Lewis und beugt sich dichter zu ihr vor. »Was sollen wir jetzt mit ihr machen, Alice?«
»Wollt ihr die Schule informieren?«, fragt Demi nervös.
Er lacht. »Ach, guck an, jetzt bist du nicht mehr so mutig, was? Anonym Leute fertigmachen kannst du, aber jetzt hast du Schiss, die Suppe auszulöffeln? Hat die kleine Demi-Mausi Angst vor dem bösen Schuldirektor?«
Ich ignoriere ihn. Wann sind wir eigentlich in diese seltsame Guter-Bulle-Böser-Bulle-Masche verfallen? »Ist dir denn nicht irgendwann klar geworden, dass du zu weit gegangen bist? Hast du nicht gesehen, wie sie gelitten hat, und kapiert, dass das, was du da machst, falsch ist? Ich meine, sie ist vor deinen Augen gestorben. Das ging monatelang und trotzdem hast du weitergemacht, bis sie ganz am Ende war.«
»Sie war verrückt. Da kann ich doch nichts dafür.« Demis Augen blicken trotzig, ansonsten aber sind sie gruselig ausdruckslos. Es ist, als wäre sie selbst tot, zumindest was ihr Gespür für die Wirkung angeht, die sie auf andere Menschen hat. Vielleicht ist sie nicht immer so gewesen. Vielleicht hat das, was sie Triti angetan hat, auch das letzte bisschen Menschlichkeit in ihr abgetötet.
Ich erschaudere und sehe an mir hinunter. Ich bin klitschnass. Das sind wir alle. »Ich glaube, wir haben genug gehört.« Obwohl ich mir da natürlich nicht sicher sein kann, bis ich wieder am Strand bin.
Lewis scheint Demi nicht einfach so gehen lassen zu wollen. »Im Ernst? Bist du sicher, dass du alles hast, was du brauchst?«
Hinter mir nähern sich hastige Schritte und noch während ich mich umdrehe, ruft eine Frauenstimme: »Was in Gottes Namen machen Sie da mit ihr? Sofort aufhören!«
»Miss Jacobs!«, kreischt Demi. »Miss Jacobs, die wollen mich ausrauben!«
Wir sehen eine Frau mittleren Alters in einem Regenmantel auf uns zukommen. Hinter ihr das dritte Mädchen, von dem wir dachten, wir hätten es verscheucht. Sie muss losgerannt sein, um eine Lehrerin zu Hilfe zu holen.
Wie viel hat die Lehrerin gehört? Genug?
Lewis tritt einen Schritt zurück und Demi lässt sich gegen die Mauer sinken. Er packt mich beim Ärmel. »Gehen wir.«
Ich tue, was er sagt, doch als wir an der Lehrerin vorbeigehen, die zu verblüfft wirkt, um uns aufzuhalten, drückt er ihr sein iPhone in die Hand. »Hier haben Sie alles, was Sie brauchen. Das hat Demi getan. Lesen Sie sich das durch und hören Sie sich die Aufnahme an, die ich gerade von ihrem Geständnis gemacht habe, und dann sorgen Sie dafür, dass so etwas niemals wieder passiert.«
Die Lehrerin starrt ihn einfach bloß an, dann spüre ich, wie er wieder an meinem Ärmel zieht, und wir gehen weiter, unsere Sneakers quietschen und verspritzen Wasser. Hinter mir höre ich jemanden schluchzen und vielleicht ist es nicht besonders nett von mir, aber es freut mich, dass Demi vielleicht endlich klar wird, was sie angerichtet hat.
Auch wenn ich den Verdacht habe, dass sie nicht um Triti weint.
Wir drücken uns fast eine Stunde lang in einem Park herum, bevor wir uns endlich zurück zur Schule trauen, um das Auto zu holen. Nasser konnten wir schließlich kaum noch werden. Als wir das Gebäude erreichen, steht ein Polizeiwagen in der Auffahrt.
»Was meinst du, ist der für uns oder für sie?«, frage ich Lewis, als wir auf dem Heimweg sind.
»Ich hoffe doch mal stark, für sie. Wenn die auch nur einen Blick auf die Beweise geworfen haben.«
»Ich glaub’s nicht, dass du tatsächlich dein Handy geopfert hast. Das war deine gute Tat für heute.«
Er lächelt mich an. »Quatsch, das ist nicht mein Handy gewesen. Ich habe ein altes Smartphone mit den Mails und so weiter gefüttert und meine eigenen Daten gelöscht, damit ich es abgeben konnte, sobald ich ein Geständnis aufgenommen hatte.«
»Wow. Du hast ja wirklich an alles gedacht.«
»Wir konnten sie ja wohl kaum damit davonkommen lassen, oder? Nicht, nachdem wir uns so viel Mühe gemacht haben. Außerdem hätte ich nie im Leben mein geliebtes Baby mit auf so eine gefährliche Mission genommen. Für Demi würde ich doch nicht mein iPhone riskieren.«
Lewis überrascht mich doch immer wieder. »Du bist ein Genie. Ab jetzt nenne ich dich nur noch Mastermind.«
Er lächelt. Dann schweigen wir und ich lehne mich erleichtert zurück und tue nichts, als in die Welt vor dem Fenster hinauszustarren. Der Himmel klart während der Rückfahrt kein bisschen auf. Die Regenwolken werden nur noch dunkler, bis irgendwann die Dämmerung einsetzt und es Abend wird.
»Hat es dir denn geholfen, Alice? Was wir getan haben?«, fragt er mich, als wir wieder auf der Autobahn sind.
»Ich weiß noch nicht.« Ich lasse mich in meinem Sitz nach unten sinken. Das Wissen um das, was mit Triti geschehen ist – und um den kleinlichen Neid oder welcher winzige Disput es auch immer war, der Demis Hetzkampagne ausgelöst hat –, lastet auf mir. »Meinst du, wir sollten es Rafi sagen und dem Rest ihrer Familie?«
Lewis seufzt. »Wenn ich eine Schwester gehabt hätte, würde ich nicht wissen wollen, wie sehr sie gelitten hat, wenn ich es sowieso nicht ändern könnte.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht …« Nur, dass ich gerade vielleicht alles geändert habe. Ist Tritis Leid nun vorbei?
Rote Bremslichter verschwimmen vor unseren Augen, als das Auto beschleunigt und die Räder die tiefen Pfützen auf der Fahrbahn aufspritzen lassen.
»… aber in Zukunft kannst du es mir vielleicht sagen, weißt du. Falls dir das hilft.«
Plötzlich merke ich, dass Lewis immer noch mit mir redet. »Entschuldige, ich war gerade meilenweit weg.« Ich muss an Javiers Witz denken: Du meinst wohl Lichtjahre. Dort, wo meine Schwester ist. Und wo Danny auf mich wartet.
»Ich habe nur gesagt, dass ich hoffe, du weißt mittlerweile, dass ich mich in nichts einmische, was mich nichts angeht. Aber wenn du mir erzählen willst, was dich bedrückt, wann auch immer du dazu bereit bist, dann verspreche ich dir zuzuhören, ohne dich zu verurteilen.«
Ich wende das Gesicht ab. Es ist so dunkel, dass wir einander ohnehin nicht richtig sehen können, nur das Schwarz-Orange der vorbeiflackernden Autobahnbeleuchtung.
Nach allem, was er für mich getan hat, hat er es verdient, die Wahrheit zu erfahren, aber jetzt sitze ich in der Falle. Ohne dich zu verurteilen. Hmm. Ich wette, wenn ich ihm die Wahrheit erzähle, rennt er so schnell weg, wie ihn seine schmuddeligen Sneakers tragen.
»Danke. Vielleicht mache ich das eines Tages. Bald.« Aber wir wissen beide, dass das eine Abfuhr ist. Manchmal fühle ich mich schrecklich allein.
Als ich mich endlich traue, Lewis anzusehen, huschen die Lichter der Straße über sein Gesicht und ich sehe die Kälte darin.
Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es keine Kälte ist. Sondern Verletztheit.
»Es tut mir leid, Lewis. Ich weiß, ich muss auf dich wie eine blöde undankbare Kuh wirken, aber das bin ich nicht, wirklich nicht. Ich habe solches Glück, dass du mir geholfen hast. Du bist ein echt liebenswerter Mensch und vielleicht kann ich es dir eines Tages tatsächlich erzählen. Wenn ich es jemals irgendwem erzähle, dann bist das auf jeden Fall du. Ich … na ja, ich vertraue dir.«
»Danke. Glaube ich zumindest.«
»Gern.«
Während er sich weiter auf die Straße konzentriert, werfe ich noch ein paar flüchtige Blicke auf sein Gesicht und denke an die anderen Männer in meinem Leben, denen ich vertraue: meinen Dad, Danny.
Tim …
Kann Lewis mir vielleicht helfen, auch dieses Rätsel zu lösen? Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schalte es wieder ein. Eine neue Nachricht von Adrian erscheint auf dem Display; seit meinem Gespräch mit Tim schickt er mehrere am Tag.
Plane immer noch ein persönliches Treffen. Weiß sicher bald mehr. Dein Freund, A.
»Neuer Freund?«, fragt Lewis lächelnd.
Ich schnalze abfällig mit der Zunge. »Kein Interesse. Jungs sind so was von oberflächlich.«
Die Autobahn führt uns um London herum. Noch fünfundvierzig Minuten, bis ich wieder zum Soul Beach kann. Wo Danny auf mich wartet. Ich starre in die undurchdringliche Schwärze über uns und versuche, mir das wolkenlose Blau am Strand vorzustellen.
Ein leuchtend rosa Licht zuckt über den Himmel. Dann ein orangerotes. Dann ein grünes.
»Oh Gott, ein Feuerwerk«, flüstere ich und denke an Triti. Ist das eine Art übernatürliches Zeichen dafür, dass sie fort ist?
»Na klar«, erwidert Lewis. »Sag nicht, du hast vergessen, welcher Tag heute ist?«
Blinzelnd denke ich nach. Ist es Oktober? Oder November? Ist nach dem Datum zu fragen nicht einer dieser Tests für Unfallopfer und verwirrte alte Leute, wenn man rauskriegen will, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben?
Nein, es hilft nichts. Manchmal weiß ich ja noch nicht mal, ob Sommer oder Winter ist.
»Heute ist der fünfte November. Bonfire Night«, erklärt Lewis.
Ein weiterer Feuerwerkskörper schießt in den Himmel und explodiert. Er hat die Form einer weißen Chrysantheme. Symbolisiert diese Blume nicht den Tod?