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»Okay.« Meine Stimme bebt, als ich einwillige.

Sahara nimmt mich beim Arm und zieht mich nach drinnen. »Guckt mal, wen ich draußen gefunden habe«, sagt sie und in ihrer Stimme liegt etwas so Besitzergreifendes, dass ich mir vorkomme wie ein preisgekrönter Pudel bei einer Hundeschau.

»Hi«, sage ich und winke unbeholfen.

»Komm, setz dich hierher«, bestimmt sie, klopft einladend auf ein kleines Zweiersofa und nimmt neben mir Platz. Viel zu dicht. »Kennst du noch die anderen? Lisa war mit Meggie in einer Seminargruppe.«

Ein Mädchen mit lockigem Haar winkt mir zu. Ist es eigentlich nur ein Mythos, dass Leute mit Locken unberechenbar sind? Sie sieht mir nicht unbedingt aus wie eine Mörderin.

»Simone und deine Schwester wollten eine Band gründen, weißt du noch, bevor die Fernsehgeschichte losging?«, erinnert mich Sahara.

Simone prostet mir zu. »Tut mir so leid.« Sie ist so winzig, dass sie kaum eine Fliege zerquetschen könnte, ganz zu schweigen davon, meine kräftige, gesunde Schwester zu ersticken.

»Und das ist Adrian, mein Freund.«

Er steht sogar auf und streckt mir die Hand hin, und als ich sie schüttele, legt er seine Linke über meine, genau wie der Pfarrer bei Meggies Beerdigung. Sie fühlt sich warm an, beinahe tröstlich. »Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagt er.

Ich schüttele den Kopf. »Ich auch nicht.«

Vorher ist er mir nie richtig aufgefallen, jetzt aber merke ich, dass er eins von diesen Gesichtern hat, die erst auf den zweiten Blick wirken. Hohe Wangenknochen, so blasse Haut, dass er Skandinavier sein könnte, und hellbraunes Haar, aus der Stirn gekämmt wie bei einem Kampfpiloten. Mir kommt der Gedanke, dass er zu gut aussehend ist für Sahara, doch ich verscheuche ihn schnell wieder. Schließlich stehe ich ja nicht auf ihn, aber er erscheint mir wie ein Gentleman.

Nein. Er nicht.

Einer nach dem anderen aus der Runde wird mir vorgestellt und ich versuche, sie alle einzuschätzen. Su-Lin, eine leicht schielende Chinesin, war gerade im Ausland, als der Mord geschah. Jules, der meine Schwester schon am Tag der offenen Tür an der Uni kennengelernt und sich sofort auf die Suche nach ihr gemacht hat, als sie beide ihr erstes Semester anfingen, ist viel zu lieb und spricht beinahe ehrfürchtig von ihr. Diesen Effekt hatte Meggie oft auf Menschen, sie fühlten sich von ihr angezogen wie Motten vom Licht.

Tim fehlt. Und noch jemand.

»Wo ist Zoe?«

Die anderen wenden den Blick ab. Sahara legt die Hand auf meine. »Sie … hat die Uni verlassen. Es war einfach zu viel. All diese Erinnerungen. Ich glaube, sie ist gerade auf Reisen oder so.«

Zoe hat die Leiche meiner Schwester gefunden. Sie hatte das Pech, nach der Party als Erste wieder zurück in das Miniapartment zu kommen, das die drei sich teilten, kam an Meggies Zimmertür vorbei, fand sie einen Spaltbreit offen vor und spähte hinein. Später erzählte sie der Presse, meine Schwester habe ausgesehen wie ein Engel, das Haar wie einen Heiligenschein um ihr rosiges Gesicht ausgebreitet. Die Polizei hat sie als Verdächtige ausgeschlossen, aber sie haben ja auch immer nur nach einem Mann gesucht …

Kann hinter ihrem Studienabbruch mehr stecken als ein Trauma?

Da fällt mir auf, dass niemand mehr redet oder mich ansieht. Alice, die Spielverderberin, hat wieder zugeschlagen. Verübeln kann ich es ihnen nicht, ich wüsste auch nicht, wie ich mit mir Small Talk machen sollte.

Adrian rettet die Situation, indem er demonstrativ auf seine Armbanduhr sieht. »Mist, ich verpasse meine Vorlesung.« Er steht auf und die anderen kommen ebenfalls hastig auf die Füße, kippen die Reste ihrer Getränke runter und murmeln noch mehr Beileidsworte, bevor sie den Pub verlassen. Ziemlich unwahrscheinlich allerdings, dass sie tatsächlich alle zur gleichen Zeit Vorlesung haben.

Nur Sahara bleibt zurück. Wir blicken den anderen nach, während sie zum Ausgang gehen, und sehen, wie sich ihre Körpersprache verändert. Sie machen Witze und rempeln einander an, bevor sie im hellen Licht verschwinden.

»Warum bist du hergekommen, Alice?«, drängt Sahara. »Sag es mir, bitte. Vielleicht kann ich ja helfen.«

Kann ich ihr trauen? Meggie und Sahara haben sich gleich am ersten Unitag kennengelernt, als sie für dasselbe Apartment im Wohnheim eingeteilt wurden. Man konnte kaum eins ihrer winzigen Zimmerchen betreten, ohne die jeweils andere darin zu finden. Ich weiß nicht, ob die Freundschaft gehalten hätte – mir war gar nicht klar gewesen, dass sie sich gestritten hatten, bevor Meggie starb. Auf jeden Fall fand meine Schwester Sahara oft ziemlich anhänglich und gefühlsselig, wobei Letzteres sicher auch nicht der schlechteste Zug an jemandem ist, den man als Vertrauensperson sieht.

»Ich wollte zu dir. Dir sagen, dass du meiner Schwester wirklich wichtig warst.«

Sahara lächelt. »Das wusste ich schon, aber danke.«

»Ich weiß, es tat ihr leid, dass ihr euch gestritten hattet.«

Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich. »Was?«

»Ihr hattet doch Streit. Bevor sie gestorben ist. Aber sie hat es nicht so gemeint.«

»Zwischen uns war alles in Ordnung.« Sie schiebt die Unterlippe vor wie ein schmollendes Kind. »Wir hatten eben bloß beide viel um die Ohren.«

Was soll ich denn nun dazu sagen? Dass ich weiß, dass sie Ärger miteinander hatten, weil meine Schwester mich genau deswegen zu ihr geschickt hat? »Tja, auf jeden Fall bin ich mir sicher, sie hätte sich gewünscht, dass du sie in guter Erinnerung behältst.«

Sahara starrt mich an, beinahe feindselig. »Dafür bist du den ganzen Weg hier rausgekommen, um mir das zu sagen? Das hättest du doch auch bei der Beerdigung machen können.«

»Ja, schon.« Und dann wird mir klar: Wenn irgendwer weiß, wo Tim ist, dann sie. »Eigentlich wollte ich auch noch zu Tim.«

»Oh.« Erschrocken sieht sie mich an. »Weiß er Bescheid?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich hatte Angst, dass er mich vielleicht nicht sehen will.«

»Ich glaube, Adrian wollte sich nachher mit ihm treffen.«

Ich blicke sie verwirrt an. »Ich wusste nicht, dass ihr zwei noch was mit ihm zu tun habt.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich nicht, nur Adrian. Viel zu viel, wenn du mich fragst. Die beiden wohnen jetzt sogar zusammen, abseits vom Campus, was bedeutet, dass ich ihn nie zu Hause besuchen kann. Das ist das Einzige, worüber wir uns überhaupt streiten. Wir hätten uns beinahe schon getrennt deswegen.«

Noch so etwas, was Meggie immer gesagt hat: dass Sahara eine Art an sich habe, einem sofort ihre Probleme aufzuhalsen. Dass sie nie wisse, wann man besser den Mund hält.

Aber im Moment kommt mir diese Geschwätzigkeit vielleicht eher zugute. »Muss hart sein.«

»Mmh. Ja, weil ich denke, dass Tim es war, und Adrian denkt das nicht. Oder zumindest findet er, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Na ja, er hat leicht reden, er war ja auch nicht Meggies bester Freund. Er hat keine Albträume davon, ihre Leiche zu finden, so leblos und … aufgedunsen.«

Sahara bricht so heftig in Tränen aus, dass sich alles zu uns umdreht. Dabei war es ja noch nicht mal sie, die Meggie gefunden hat, obwohl sie nur ein paar Minuten nach Zoe in die Wohnung gekommen ist. Und dass sie angeblich ihre beste Freundin gewesen sein soll … Die Aussage macht mich einfach nur sauer. Es ist, als wollte sie behaupten, dass Meggie sie lieber hatte als mich.

Ich hätte ihr gar nichts erzählen sollen. In diesem Moment will ich einfach nur noch weg von ihr und auf eigene Faust versuchen, Tim zu finden. Wenn ich mich beeile, kann ich Adrian vielleicht noch einholen. »Ich muss jetzt los.«

Sahara hört beinahe so abrupt auf zu weinen, wie sie damit angefangen hat. Ich bereite schon mal ein paar Abschiedsfloskeln vor.

»Jetzt schon?«, fragt sie. »Und was ist mit Tim?«

»Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, ihn zu besuchen«, lüge ich.

»Nein«, bestätigt sie finster. »Er könnte wütend werden.«

Mir ist, als hätte mir jemand einen Eiswürfel in den Kragen geschoben. »Wird er oft wütend?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Das nicht, aber …« Dann schüttelt sie den Kopf. »Ach, vergiss es.«

»Das mit dem Vergessen ist nicht so einfach, Sahara.«

Ich warte noch ein paar Sekunden, dann stehe ich auf.

Sie streckt mir die Hand hin. »Geh nicht. Ich kann es dir zeigen, wenn das was hilft?« Ihre Stimme klingt gedämpft, aber eindringlich.

»Was zeigen?«

Sie blinzelt krampfhaft, dann beugt sie sich vor. Ihre Augen funkeln.

»Meggies Zimmer.«