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Cara liest sich den Ausdruck der E-Mail ungefähr fünfzig Mal durch, bevor sie etwas sagt.

»Die sind doch alle krank, diese Penner.«

Sie steckt sich einen neuen Nikotin-Kaugummi in den Mund. Ihre Mum ist Ärztin und gibt ihr davon eine Packung pro Woche, seit die Schule sie informiert hat, dass Cara hinter der Sporthalle geraucht hat. Was Mummy aber nicht weiß, ist, dass ihre Tochter a) ihre erste Schachtel Zigaretten bereits an ihrem dreizehnten Geburtstag gekauft hat und b) trotz der Kaugummis keineswegs aufgehört hat zu rauchen, sondern sich so lediglich über die großen Pausen rettet, da sie, wenn sie sich noch mal irgendwo auf dem Schulgelände erwischen ließe, sofort von der Schule fliegen würde. Wer sich zwei Fehler leistet, ist raus aus der Redview Mädchenschule.

»Ich meine«, sagt sie jetzt und wickelt sich eine frisch gefärbte blauschwarze Haarsträhne um den Finger, »was für ein Psycho macht denn so was?«

»Du würdest dich wundern, wie viele Spinner in den Internetforen was über Meggie geschrieben haben, als sie gestorben ist.«

»Du hast sie gegoogelt?«

Ich werde rot. »Ja. Macht mich das auch zu einer Spinnerin?«

Sie denkt darüber nach; immer wieder taucht der Kaugummi grau wie ein Grabstein zwischen ihren vor Kurzem erst gebleichten Zähnen auf. »Nö. Hätte ich auch gemacht, wenn sie meine Schwester wäre.«

Cara ist ein Einzelkind. Wir haben immer gesagt, wir wären Seelenschwestern, bis Meggie gestorben ist und mir, viel zu spät, klar geworden ist, dass sich mit einer echten Schwester nichts vergleichen lässt.

»Was auf Facebook abgelaufen ist, war ja noch verhältnismäßig normal – na ja, wenn man es als normal bezeichnen kann, wenn Leute jemandem, den sie gar nicht kennen, tonnenweise virtuelle Blumensträuße schicken. Aber es gab auch ganze Foren, in denen es nur um ihre Stimme und ihr Gesicht ging oder irgendwelche erfundenen Geschichten über ihr Leben. Jeder da hatte seine ganz eigene Theorie darüber, wer sie getötet hat, und warum.«

Cara schenkt mir einen mitfühlenden Blick. »Als wäre das nicht offensichtlich.«

Ich runzele die Stirn. »Er ist nicht angeklagt worden. Wenn es wirklich so offensichtlich wäre, dann würde er jetzt im Gefängnis sitzen, Cara, das weißt du genau. Egal, was die Zeitungen behaupten.«

Tim hat sie nicht umgebracht. Mittlerweile bin ich mir über so ziemlich gar nichts auf der Welt mehr sicher, aber ich weiß einfach, dass ein Typ, der Spinnen aus der Gemeinschaftsküche im Studentenwohnheim rettet, kein Mörder sein kann.

Aber wenn er es nicht war, wer dann?

Sie wirft mir diesen typischen Blick zu, der besagt: Tja, wir wissen ja alle, wie toll du Tim findest, seit Meggie ihn das erste Mal von der Uni mit nach Hause gebracht hat, also können wir von dir wohl kaum erwarten, dass du das Ganze rational siehst.

Dabei stimmt das noch nicht mal. Ja, ich mochte ihn, weil er der erste von Meggies Freunden war, der mich wie einen eigenständigen, interessanten Menschen behandelt hat, aber Cara hat mir natürlich nie geglaubt, dass es so einfach ist, und mich die ganze Zeit mit ihm aufgezogen – obwohl sie mich mehr oder weniger damit in Ruhe gelassen hat, seit meine Schwester tot ist.

Sie liest die E-Mail noch einmal. »Und, wie sieht sie aus?«

»Häh?«

»Die Seite, du Trottel. Wie sieht Soul Beach aus? Ist wirklich jeder Tag so schön wie der vorige?«

Jetzt werfe ich ihr einen vielsagenden Blick zu. »Ich habe nicht auf den Link geklickt. Ist wahrscheinlich eh nur ein mieser Trick. Aber ich hab ›Soul Beach‹ gegoogelt und so eine Seite scheint es gar nicht zu geben.«

Cara starrt mich an, als hätte ich komplett den Verstand verloren. Dann klingelt es zur nächsten Stunde und ich gehe zu Englisch und sie zu Rechtswissenschaft, und ich kriege kein Wort von dem mit, was der Lehrer sagt, weil ich viel zu beschäftigt damit bin, in Gedanken meine Antwort an den Soul-Beach-Psycho zu formulieren.