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All die Fragen in meinem Kopf halten mich wach, bis mein überanstrengtes Gehirn schließlich gegen vier oder fünf Uhr morgens einfach abschaltet. Und dann schlafe ich so tief, dass Mum kommen und mich für die Schule wecken muss, was sie nicht mehr gemacht hat, seit ich in der zehnten Klasse war.

»Na komm schon, Miss Wunderland. Das ist ja schwerer, als eine Tote aufzuwecken.«

Ich erstarre auf halbem Weg zwischen Liegen und Aufsetzen.

Meine Mutter erstarrt ebenfalls. Im nächsten Moment aber bricht der Trauerprofi in ihr durch und sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Hör mal, das ist nur so eine Redewendung. Die hat nicht die Macht, uns noch mehr Schmerz zuzufügen, als wir bereits spüren.«

Ich kriege kein Wort heraus. Jetzt, da ich wach bin, fluten die Erinnerungen an Soul Beach meinen Kopf und ich wünschte, ich wäre dort, bei Meggie. Doch dann fällt mir wieder ein, dass ich ja aus dem Paradies rausgeworfen worden bin.

Mum setzt sich auf meine Bettkante. Diesen Blick kenne ich. Gleich fängt sie ein ernsthaftes Gespräch an. Wenn ich Glück habe, geht es nur um Sex oder Drogen. Alles, nur nicht …

»Olav hat eine neue Gruppe gegründet, für jüngere Leute, und ich habe mir gedacht, vielleicht magst du ja mal hingehen?«

»Eine Gruppe für andere Jugendliche mit toten Familienmitgliedern?« Was Schrecklicheres kann ich mir gar nicht vorstellen.

»Ja«, antwortet sie. »Nicht so langweilig wie meine Gruppe, weißt du, viel lockerer. Die einzelnen Sitzungen haben auch kein bestimmtes Thema. Da habt ihr einfach nur Gelegenheit zum Quatschen.«

»Wer geht denn bitte zu so was?«

Sie sieht verletzt aus.

»Entschuldige, Mum. Ich meinte nicht dich. Aber zum Reden habe ich Cara und Robbie.«

Sie übergeht die Anspielung darauf, dass sie keine Freunde hat. »Na ja, Olav hat schon ein Dutzend potenzielle Mitglieder zusammen, alle im Teenageralter. Ein paar von ihnen habe ich schon bei unseren Treffen kennengelernt, das sind ganz nette Jungs und Mädels.«

Ich antworte nicht. Die Bilder von Soul Beach in meinem Kopf lenken mich ab und ich höre noch immer das Rauschen der Wellen.

»Alice?«

»Tut mir leid, ich bin noch nicht richtig wach.«

»Nein, schon gut.« Sie rutscht auf dem Bett hin und her. »Dann lasse ich dich mal in Ruhe aufstehen. Aber denk dran, so sehr Cara und Robbie dir auch helfen wollen, sie können nicht verstehen, was du durchmachst. In dieser Gruppe gibt es Leute, die das können.«

»Ja, aber vielleicht habe ich gar keine Lust, auf ’nem Sitzsack zu hocken, Kräutertee zu trinken und in Gratistaschentücher zu heulen. Davon kommt Meggie schließlich auch nicht zurück, oder?« Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt.

Mum steht auf. »Da hast du vollkommen recht, Alice. Sie ist nicht mehr da und wir alle müssen unseren eigenen Weg finden, damit zurechtzukommen. Ich hätte dich nicht drängen dürfen. Du hast Anspruch auf deinen Freiraum. Tut mir wirklich leid.«

Ich warte, bis ich sie die Treppe hinuntergehen höre. Dann schalte ich den Laptop ein und rufe Soul Beach auf.

Die Seite wurde nicht gefunden.

Als ich versuche, über meine Browser-Chronik auf die Seite zu gelangen, ist dort keinerlei Spur von Internetaktivität nach sieben Uhr gestern Abend zu sehen. Es ist, als wäre ich nie am Soul Beach gewesen.

Kann ich das alles denn geträumt haben, bis hin zum Sand zwischen meinen Zehen und dem Sarkasmus in der Stimme meiner Schwester? Hat der Kummer mich in den Wahnsinn getrieben, wie Ophelia in Hamlet?

Aber bevor ich nach Mum schreie und sie anflehe, mich so schnell wie möglich für eine Dosis Olavotherapie anzumelden, erinnere ich mich an die E-Mails. Da sind sie, die leere vom Tag der Beerdigung und die zwei mit dem Absender Soul Beach.

Fühle ich mich jetzt weniger verrückt?

Ja.

Und fühle ich mich besser?

Nein, kein bisschen.