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Ich wache mit dem Stift in der Hand auf. Mit unlesbarem Gekritzel übersäte Seiten liegen über Bettdecke und Boden verstreut.

Gestern Nacht habe ich stundenlang versucht, einen Sinn hinter den Regeln des Strandes zu finden, aber es ist, als hätte ich mich in einer Art Trance befunden. Die wenigen Wörter, die ich noch entziffern kann, lösen nur vage Erinnerungen an meine fieberhafte Suche nach Details über Danny und seinen Tod aus. Ach, und dann ist da noch meine Theorie, dass Soul Beach eine Ansammlung von jungen Leuten ist, die ihre fünfzehn Minuten Ruhm zwar bekamen, aber nicht mehr auskosten konnten.

Mein Kopf will schier explodieren. Ich klappe den Laptop auf und gehe wieder online. Wenn Javier Dannys Todeszwilling ist, dann müsste sich doch leicht herausfinden lassen, wie er sein Leben verloren hat. Auf der Nachrichtenseite gebe ich das Datum ein, an dem, wie ich jetzt weiß, Danny gestorben ist: den 13. September. Dann Javier + Spanien + tot.

Ich warte. Im Autovervollständigen-Feld erscheint nichts, also drücke ich einfach Enter.

Ihre Suchanfrage stimmt mit keinem Nachrichtenergebnis für diesen Tag überein. Möchten Sie die Suche auf ein anderes Datum ausweiten?

Kann es sein, dass Javier und Danny doch ein paar Tage nacheinander angekommen sind und irgendwas verwechselt haben? Ich wähle Ja und schon werden Tausende Ergebnisse geladen, die meisten auf Spanisch. Ich klicke auf Diese Seite übersetzen und lande endlich bei einer Schlagzeile in gebrochenem Englisch aus einer Barceloner Tageszeitung: Junge, 17, stirbt in tragisch Sturz bei Fiesta, Drogen verdächtig.

Ich scrolle durch den kurzen Artikel. Javier Natera Fernandez. Es erscheint ein Familienfoto, auf dem der tote Teenager eingekreist ist: Mutter, Vater, ein Junge, ein kleines Mädchen und ein Baby am Strand und alle grinsen in die Kamera. Das Foto muss schon vor ein paar Jahren aufgenommen worden sein, denn der Junge ist nicht älter als zehn – aber der trotzige Blick ist absolut unverkennbar. Es ist definitiv unser Javier.

Aber hatte er nicht gesagt, er wäre Einzelkind?

Noch ein Bild, eine Dachterrasse, von der Straße aus gerade eben zu erkennen. Sechs, sieben Stockwerke hoch. Ich stelle mir vor, wie Javier fällt und fällt … Ist er hinuntergestoßen worden? Hat er geschrien oder mit den Armen gerudert, als wollte er sich in der Luft festhalten?

»Alice? Bist du schon auf?«

Jenseits meiner Zimmertür erwacht das Haus zum Leben. Die Lüftung im Bad surrt, der Boiler springt an, als Mum unter die Dusche geht, in der Küche läuft das Radio. Komisch. An diesen Geräuschen hat sich nichts geändert, seit Meggie gestorben ist.

Doch jetzt, als ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass im Hintergrund immer die Wellen rauschen, wie zur Erinnerung an alles, was ich verpasse …

Ich bin spät dran, aber ich sehne mich so sehr nach dem Strand, dass mir alles andere egal ist. Schnell logge ich mich ein. Mein Mund ist ganz trocken und statt des vertrauten Energieschubs spüre ich nur eine Art Grauen. Warum, kann ich nicht sagen: Vielleicht ist es das schlechte Gewissen, weil ich in den Leben trauernder Familien herumgeschnüffelt habe. Ich bin keinen Deut besser als die Gaffer bei der Beerdigung meiner Schwester. Oder vielleicht ist es die Angst, wieder irgendeine der Regeln des Strandes gebrochen zu haben, weil ich es nicht lassen kann, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen.

So oder so, ich bin mir jedenfalls sicher, dass irgendetwas nicht stimmt.

Es ist so still am Soul Beach. Schwer zu sagen, wie spät es dort gerade ist, aber ich schätze mal, ungefähr vier Uhr morgens. Am Horizont wird es schon langsam hell, doch die Körper am Strand liegen noch immer zusammengesunken da und selbst die Wellen scheinen mir Schhhhschhhh zuzuflüstern.

Niemand regt sich, als ich vorbeigehe. Die meisten können mich ja sowieso nicht sehen. Als ich mithilfe der Maus beschleunige, werden meine Schritte schneller, meine Sohlen schlappen durch den Sand und schließlich fange ich an zu keuchen – es fühlt sich wirklich an, als bekämen meine Lungen immer weniger Luft, je schneller ich werde. Mir fällt wieder ein, was Meggie gesagt hat: dass der Strand nirgendwo aufhört, dass niemand je das Ende gefunden hat.

Schließlich entdecke ich Danny, halb liegend, halb sitzend an eine der Strandhütten gelehnt. Seine Schultern hängen und seine Augen sind geschlossen. Die Bilder von ihm im Smoking und von seinem Flugzeug, das zertrümmert in der Wüste liegt wie ein platt gequetschtes Insekt, schießen mir wieder durch den Kopf und der Kontrast ist so schockierend, dass ich wegsehen muss. Ich schleiche mich auf die andere Seite der Hütte, wo Triti und Javier Arm in Arm schlafen. Er ist groß und schlank und sie so winzig, aber irgendwie sehen sie beide aus wie kleine Kinder, die Münder leicht geöffnet. Was ist geschehen, das seine Familie so vollkommen zerstört hat?

Dann werfe ich einen Blick in die Hütte, durch den Spalt zwischen der Tür und dem Bambusrahmen.

Sie ist allein, ein Bettlaken halb um den Körper gewickelt. Seltsam. Ich habe Meggie schon tausendmal nackt gesehen, habe mit ihr gebadet und meine Sommersprossen mit ihren verglichen (unzählige bei mir, höchstens ein Dutzend bei ihr). Aber das hier fühlt sich falsch an. Als würde ich ihr nachspionieren.

Ich stelle den Laptop auf Stand-by und schlüpfe in meine Kleider vom Vortag. Währenddessen versuche ich mir gut zuzureden: Wenigstens ist sie noch da. Wenigstens kann ich noch mit ihr reden. Vor ein paar Augenblicken dachte ich schließlich noch, ich wäre ganz aus dem Paradies verbannt worden, also sollte ich froh sein.

Aber nichts davon hebt meine Laune. Ich wünschte …

Ich versuche, den Gedanken zu verbannen, aber es ist zu spät. Manchmal wünschte ich einfach, ich wäre auch tot, dann würde ich mich zumindest nicht so ausgeschlossen fühlen.