37
Erschöpft und niedergeschlagen steige ich wieder in den Zug. Den ganzen Heimweg über bemühe ich mich, nicht einzunicken, aber mein Kopf sinkt immer wieder nach vorn und die kurzen Augenblicke, bevor ich wieder aufschrecke, sind erfüllt von grotesken Bildern: Meggies rotes geschwollenes Gesicht, Dannys unversehrter, aber lebloser Körper in einem Schleudersitz mitten in der Wüste, Tritis Schädel, deutlich sichtbar unter ihrer Haut, die blassblau wie Luftpostpapier wirkt.
Ich hätte nicht hinfahren sollen.
Und doch gibt mir der Schlüssel in meiner Tasche das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Ich weiß nur noch nicht, was.
Ich renne vom Bahnhof nach Hause – jetzt hat es auch keinen Sinn mehr, wieder zur Schule zu gehen. Ich will nur noch zurück an den Strand, wo meine toten Freunde ewig schön und lebendig sind. Ich will ihr Lachen hören, sie lächeln sehen.
Doch als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich einen Mann auf unserer Gartenmauer sitzen. Das muss ein Journalist sein. Schön, das passt mir eigentlich ganz gut. Nichts könnte mich jetzt mehr aufheitern als die Gelegenheit, einem dieser aufdringlichen Reporter mal ordentlich die Meinung zu sagen.
Erst, als der Kerl mich ansieht, wird mir klar, dass es Lewis ist.
»Stalkst du mich jetzt, oder was?«
Er steht auf. Oder sollte ich sagen, klappt sich auseinander? Er ist sogar noch größer, als ich ihn in Erinnerung hatte.
»Ich mag ja ein Nerd sein, aber ich bin noch lange kein Perverser, der junge Mädchen belästigt.«
Trotz oder vielleicht gerade nach allem, was heute passiert ist, bringt mich das zum Lächeln, aber ich bemühe mich um ein strenges Gesicht. »Und was willst du dann hier?«
»Ich habe Robbie versprochen, es noch mal zu versuchen.«
»Wenn du meinst, du hast Superkräfte, bitte.«
Er lächelt. »Tja, manche behaupten das tatsächlich. Aber leider nicht unbedingt die Frauen. Er macht sich halt Sorgen um dich.«
»Ja, genau. So viele Sorgen, dass er mich abserviert hat.«
Jetzt sieht er mich an, wenn auch nur von der Seite. »Bei ihm klang es eigentlich mehr so, als hättest du ihm da keine große Wahl gelassen.«
Stimmt das?
»Wie lange wartest du denn schon hier? Die Nachbarn sind ganz schön angepisst, weil hier ständig so viele Leute rumhängen, die nicht ins hübsche Siedlungsidyll passen. Zuerst die Polizei. Dann die Presse. Und jetzt du. Wenn du nicht aufpasst, kriegst du gleich eine einstweilige Verfügung verpasst.«
»Ungefähr ’ne Stunde. Dachte mir, ich erwische dich, wenn du von der Schule nach Hause kommst. Aber wie’s aussieht, bist du ein bisschen spät dran …« Lewis wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Er weiß, dass ich blaugemacht habe. Was weiß er sonst noch? »Ich könnte jetzt ein Glas Wasser oder so gebrauchen.«
Seufzend schließe ich die Haustür auf und rufe »Mum?«, aber es kommt keine Antwort. Ich sehe Lewis an und lasse die Tür gerade lange genug offen stehen, dass er reinkommen kann.
Er folgt mir in die Küche, wo ich ein Glas vom Abtropfbrett nehme und es mit lauwarmem Wasser aus dem Hahn fülle. Er nimmt es entgegen, trinkt aber nicht.
»Also, was genau war letzte Woche an ›Ich brauche deine Hilfe nicht‹ so schwer zu verstehen?«
Lewis zieht die Stirn kraus. »Gar nichts. Ich hab dir bloß nicht geglaubt.«
»Oh.«
Er zieht sich einen Barhocker heran und setzt sich an den Küchentresen. Hier im Haus wirkt er sogar noch größer, noch selbstsicherer. »Ich habe deine Schwester gekannt. Flüchtig jedenfalls.«
»Na und? Halb Großbritannien denkt, es hätte meine Schwester gekannt.«
»Gutes Argument. Aber weißt du, wir waren in derselben Stufe, unsere Freundeskreise haben sich überschnitten. Wie bei einem Kreisdiagramm.«
»Wow, du hast wirklich nicht übertrieben, als du gesagt hast, du wärst ein Nerd, was? Also wart ihr befreundet?«
»Nein, das eigentlich nicht. Ich hab sie eher aus der Ferne angehimmelt, wie die meisten Typen hier. Sie hat ihr Leben, so kurz es auch war, in vollen Zügen genossen. Zu sehen, wie du dich aus deinem zurückziehst und dich von deinen Freunden abwendest, hätte sie schrecklich gefunden.«
Da kann man mal sehen, wie gut du dich auskennst, denke ich. Meggie und ich wissen genau, was wirklich wichtig ist: die Beziehung zwischen uns Schwestern. »Tu ich doch gar nicht.«
»Robbie findet das schon. Und Cara auch. Zwei zu eins also. Nerds wie ich wissen, dass Zahlen niemals lügen.«
Mein Gott, ist der hartnäckig. »Mal angenommen, es geht mir tatsächlich nicht so gut, was meinst du denn dagegen unternehmen zu können? Willst du Meggie vielleicht von den Toten erwecken?«
»Cara hat mir erzählt, dass das schon jemand anderes gemacht hat.«
Ich starre ihn an. Ich wünschte, ich hätte Cara nie irgendwas erzählt; ich darf auf keinen Fall riskieren, dass jemand der Wahrheit zu nahe kommt. Im besten Fall hält Lewis mich einfach bloß für eine Irre, die Stimmen hört oder so. Aber im schlimmsten Fall könnte er mich ernst nehmen.
»Ich habe eine blöde Scherz-Mail bekommen. Das war’s.«
»Nur eine?« Er weiß, dass ich lüge.
»Okay, ein paar. Und als sie kamen, war ich gerade ziemlich fertig wegen der Beerdigung, deswegen hab ich ein, zwei Tage lang wirklich geglaubt, sie wären echt, okay? Was aber natürlich totaler Blödsinn ist. Ich bin doch schon dabei, das Ganze zu verarbeiten, aber nun mal in meinem eigenen Tempo. Die anderen müssen einfach ein bisschen mehr Geduld mit mir haben.«
Lewis sieht mich an, ein Teil seines Gesichts ist hinter seinem dunklen Haar verborgen. Ich kann nicht sagen, ob er wirklich so schüchtern ist oder ob er nur eine Show abzieht.
»Was?«, frage ich, als er nichts sagt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben soll, Alice. Aber wenn du alleine damit klarkommen willst, geht es mich wohl nichts an. Wenn du meinst, dass du das kannst …«
Kann ich es? Die Alternative wäre, jemand anderem zu vertrauen, so wie ich es heute Nachmittag bei der neurotischen Sahara versucht habe, aber das war ja nun kein allzu großer Erfolg. Ein Schauder läuft mir über den Rücken. »Kann ich«, sage ich. »Aber danke, dass du fragst.«
Er sieht aus, als wollte er noch etwas sagen, dann aber steht er auf. »Schon okay. Danke für das Wasser.« Das immer noch unberührt auf der Arbeitsplatte steht. »Du musst mich nicht zur Tür bringen.«
Ich warte, bis ich sie hinter ihm zuschlagen höre. Endlich allein. Ich hatte erwartet, erleichtert zu sein, in Wirklichkeit aber bin ich immer noch nervös. Mum kommt bald nach Hause, deswegen muss ich schnell nach oben, außer Sichtweite, weil ich sie nicht darüber anlügen will, wie es heute in der Schule war. Vielleicht fühle ich mich ja nach einer Dusche ein kleines bisschen besser.
Als ich in den Flur gehe, sehe ich sofort die Visitenkarte auf der kleinen Konsole. Erst denke ich, sie ist von einem Taxiunternehmen, doch als ich sie in die Hand nehme, fühlt sich das Papier für so etwas zu dick an. Ich sehe den Namen Lewis Tomlinson und eine Handynummer, chromfarben eingestanzt vor einem dunkelblauen, leicht angerauten Hintergrund. Teuer.
Ich drehe das Kärtchen um. Ruf mich an, jederzeit. Ich weiß, ich könnte dir helfen. L.
Ja, klar. Ich stecke mir die Karte in die Tasche. Anrufen werde ich ihn auf keinen Fall, aber ich muss die Karte irgendwo außerhalb des Hauses loswerden, denn das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass Mum sie im Müll findet – sie durchsucht immer mal wieder die Abfalleimer, um über Dads grauenhafte Ess- und Trinkgewohnheiten im Bilde zu bleiben – und ein Verhör darüber anfängt, warum irgend so ein fremder Computernerd meint, mir helfen zu müssen.