18
Nach der Schule schleiche ich mich durch die Hintertür ins Haus, in der Hoffnung, im Kühlschrank irgendetwas zu finden, das mich bei meinem nächsten Marsch durch den Sand mit genügend Treibstoff versorgt.
Aber in der Küche liegen schon meine Eltern auf der Lauer. Oh, oh.
Dad hat immer noch seinen Anzug von der Arbeit an und sitzt mit einem Stapel Papiere am Küchentresen. Mums Wangen sind rosig, als käme sie frisch aus dem Fitnessstudio, aber ich weiß, dass sie den Großteil des Nachmittags bei ihrer Gruppe verbracht hat. So ein geistiges Workout kann offenbar wahnsinnig stimulierend sein.
»Hi«, sage ich und gebe mir Mühe, möglichst gehetzt zu klingen. »Ihr glaubt ja gar nicht, wie viele Hausaufgaben ich aufhabe, am besten lege ich gleich –«
»Wir müssen mit dir über Meggie reden«, unterbricht mich Dad.
Ich erstarre.
Wie haben sie es herausgefunden? Ich logge mich jedes Mal, wenn ich das Zimmer verlasse, aus meinem Account aus, auch wenn ich nur kurz aufs Klo muss, und ich habe meinen Schreibtischstuhl so hingestellt, dass der Bildschirm unmöglich zu erkennen ist, wenn man die Tür nur einen Spaltbreit aufmacht und hindurchspäht, wie es meine Mutter oft tut, bevor sie ins Bett geht.
»Aha?«, sage ich nur.
Mum zieht einen Barhocker für mich heran und ich klettere darauf. Hier habe ich nicht mehr gesessen, seit ich neun war und sie mir immer ordentlich Frühstück gemacht hat, mit Toaststreifen und gekochten Eiern. Ich hatte damals eine ziemlich dürre Phase und sie wollte mich liebevoll aufpäppeln. Was leider ein bisschen zu gut geklappt hat, wenn man ehrlich ist.
»Sie haben ihn, endlich«, seufzt Mum.
»Er ist nicht angeklagt worden, Bea. Sie wollen nur –«
Ich frage dazwischen: »Sie haben Tim festgenommen?«
Ich spüre, wie mir alles Blut aus dem Kopf weicht. Zum Glück sitze ich schon, sonst wäre ich vermutlich auf dem Boden zusammengesackt wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden.
Meine Eltern nicken, meine Mutter enthusiastischer als mein Vater, auch wenn eigentlich sie die große Menschenrechtlerin bei uns ist: ob sie nun gegen den Krieg protestiert, die außerordentliche Auslieferung von Verdächtigen oder gegen die Regierung von Burma. Und dennoch war sie diejenige, die sofort beschloss, dass Tim schuldig sein musste.
Ich kann es nicht fassen. Es gibt nichts auf der Welt, was ich mir mehr wünsche, als dass Meggies Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Aber das hier ist alles andere als gerecht.
»Fran von der Opferbetreuung hat angerufen«, erklärt Mum.
»Sie sagt aber, wir sollen nicht allzu viel hineininterpretieren«, fügt Dad hastig hinzu.
»Ach, komm schon, Glen. Warum sollte sie sonst anrufen, wenn sie nicht denken, dass sie ihn diesmal festgenagelt haben?«
Es ist nicht das erste Mal, dass Tim befragt wird, aber das haben sie mit jedem gemacht, nachdem Meggie tot war: dem Hausmeister, den Barkeepern, ihren Freunden, mit denen sie am meisten rumhing, den Leuten, an denen sie auf den Bildern der Überwachungskameras an jenem letzten Abend vorbeigekommen war. Sie haben sogar Zoe und Sahara verhört, auch nachdem die Zeitungen schon mit hundertprozentiger Sicherheit beschlossen hatten, dass es ein Mann gewesen sein musste.
Aber das hier ist etwas anderes. Es ist das erste Mal, dass er tatsächlich festgenommen wurde.
»Sie hat nur angerufen, um uns zu warnen, falls die Reporter wieder auftauchen. Nicht mehr und nicht weniger.« Dad glaubt genauso wenig wie ich, dass Tim es war, nur dass ihm nicht gleich unterstellt wird, er würde auf ihn stehen.
Mum seufzt. »Ich war online und in meiner Gruppe dort sagen alle, dass es neue forensische Beweise geben muss. Na ja, stör dich nicht an unseren Zankereien, Alice – wie geht es dir denn damit?«
Am liebsten will ich schreien: Er war’s nicht! Aber selbst wenn ich auch nur irgendein Wort herausbekäme, Mum würde sowieso nicht zuhören. Also sage ich nichts.
Sie wirkt ein wenig irritiert. »Tja, du weißt ja, wo du mich findest, wenn du reden willst.«
»Danke.« Alles, was ich will, ist raus aus dieser Küche und ins Internet, zu Meggie, denn das ist mittlerweile der normalste Teil in meinem Leben.
Dad fängt an, seine Papiere einzupacken. »Ich muss dann mal los. Wir haben Teilhabersitzung.«
Mum fährt zu ihm herum, das Gesicht vor Wut verzerrt. »Ich fasse es einfach nicht, wie du überhaupt an Arbeit denken kannst, solange die Polizei Meggies Mörder in Gewahrsam hat.«
»Bea, du weißt genauso gut wie ich, wenn sie Beweise gehabt hätten, dann hätten sie ihn schon am ersten Tag in Haft genommen.«
»Das ist doch unglaublich! Anscheinend ist dir das also alles egal …«
Und wieder habe ich dieses benommene Gefühl, als würde ich über dem Raum schweben und meinen Eltern dabei zusehen, wie sie sich erbittert streiten, so wie sie es nie, niemals getan haben, als Meggie noch am Leben war. Aber ihr Geschrei verhallt und stattdessen höre ich das Flüstern des Meeres, und ich schwöre, ich spüre beinahe die Brise in meinem Gesicht.
Mit wackligen Beinen rutsche ich von dem Barhocker und schlüpfe an meinen Eltern vorbei. Sie kriegen kaum mit, dass ich gehe.