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Danny und ich gehen nebeneinanderher, so dicht, dass wir uns, wären wir beide lebendig – oder beide tot –, berühren würden.

Ohne uns auch nur abzusprechen, steuern wir automatisch auf die andere Seite des Strandes zu, so weit weg wie möglich von den Hütten und der Bar und dem verwilderten Strandabschnitt, wo Triti in ihrem selbst gewählten Exil lebt.

Es gibt nur wenige Orte, an denen wir wirklich allein sein können. Die hohen Felsen, von denen ich zuerst dachte, dass sie den Strand vor Eindringlingen schützen, sind unüberwindlich wie Gefängnismauern.

Vor uns erhebt sich, riesengroß, eine schwarze Klippe. Dahinter befindet sich eine Art glatter Sims mit Platz für zwei.

»Wie für uns gemacht«, sage ich.

Danny lächelt nicht, aber ich störe mich nicht daran. Ich könnte dieses Gesicht bis in alle Ewigkeit betrachten und darüber nachsinnen, wann er schöner ist: wenn er lächelt oder wenn er ernst ist.

Er setzt sich, ohne etwas zu sagen.

»Vielleicht hätte ich es Meggie nicht erzählen sollen«, überlege ich laut. »Aber nur, weil es ihr nicht passt, heißt das noch lange nicht, dass sie recht hat.«

»Hat sie aber.«

Ich will gerade widersprechen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schießt: Was, wenn er Zweifel bekommen hat, nicht wegen Meggie, sondern weil er sich plötzlich, auf den zweiten Blick, nicht mehr von mir angezogen fühlt?

»Wir müssen das hier nicht machen, Danny. Nicht, wenn du es nicht willst«, erkläre ich.

Er sieht mich nicht an; das muss ein schlechtes Zeichen sein. Verdammt. Irgendwie trifft mich das viel härter als die Trennung von Robbie.

»Warum? Willst du nicht mehr?«

»Genau«, antworte ich sarkastisch. »Darum habe ich auch alles riskiert und es meiner Schwester erzählt. Nicht, weil ich mich so freue, sondern weil ich es mir anders überlegt habe.«

Endlich dreht sich Danny zu mir um, und als ich sein Lächeln sehe, ist es, als würde ich innerlich dahinschmelzen. »Na, dann ist doch alles in Butter, Schätzchen. Aber in Anbetracht der Umstände warten wir wohl lieber noch ein bisschen, bevor du mich deinen Eltern vorstellst, was?«

Ich muss kichern. »Wäre vielleicht besser.«

Wieso ist er mir nicht gleich aufgefallen, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe? Es ist, als würde ich ihn schon ewig kennen. Seine Augen, die hohen Wangenknochen. Seine Lippen …

»Ich wünschte, ich könnte dich küssen, Alice. Nur ein einziges Mal.«

»Einmal würde aber nicht reichen«, entgegne ich und erröte dann wegen meines Wagemuts. »Ich würde dich ewig weiterküssen und nie mehr was anderes machen wollen.«

Danny schmunzelt. Mir fällt auf, dass die Fältchen, die dabei in seinen Augenwinkeln erscheinen, sich nach oben krümmen, wie viele kleine Bündel winziger Lächeln. »Aber vielleicht küsse ich ja total mies und sabbere nur rum.«

Ich kichere wieder. »Du kannst gar kein schlechter Küsser sein, Danny. Das weiß ich einfach.«

»Blödsinn. Ich könnte dich mit meiner Zunge fast ersticken. Oder so fest saugen wie ein Oktopus.« Er lutscht an seinem Handrücken und macht dabei ein schlabberig-feuchtes Geräusch.

Jetzt kann ich mich nicht mehr halten vor Lachen. »So haben wir das immer geübt, Cara und ich. In meinem Zimmer, die Musik voll aufgedreht, damit meine Eltern unsere hysterischen Lachanfälle nicht hörten.«

»Bist du da jetzt auch, Alice? In deinem Zimmer?«

»Nein, ich …« Ich reiße mich von seinem Gesicht los und sehe mich um. Erschrocken wird mir klar, dass ich mich selbstverständlich in meinem Zimmer befinde, mit der geblümten Pop-Art-Tagesdecke auf dem Bett und dem rosa Bürostuhl und der silbern angesprühten Heizung. »Ja.«

Danny seufzt. »Aber deine Schwester hat trotzdem recht.«

»Sag so was nicht. Du musst in eurer Familie das älteste Kind gewesen sein, sonst wüsstest du, dass die Wortfolge ›Deine Schwester hat recht‹ die grässlichste Kombination in der gesamten englischen Sprache ist.«

»Sei doch mal ernst.«

»Mein Gott, der reinste große Bruder. Lach doch mal, Danny Boy.«

»Worüber soll ich denn lachen, Alice? Darüber, dass ich niemals deine Hand halten werde, oder darüber, dass das alles nur ein schlimmes Ende nehmen kann? Oder vielleicht darüber, dass ich dich mit meiner Liebe nur zu mir runterziehe?«

Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. »Nicht! Mach es nicht kaputt …«

Danny setzt an, um noch mehr, noch vernünftigere Einwände zu bringen, als er mein Gesicht sieht. »Oh, Alice, es tut mir leid.«

»Schon okay.«

»Ich wünschte, ich könnte irgendwas tun, aber du weißt ja …« Er streckt die Hände zu einer hilflosen Geste aus, die mich nur noch heftiger weinen lässt.

»Ja, ich weiß.«

Dann lächelt er wieder und es ist, als ginge die Sonne auf. »War das jetzt unser erster Streit?«

Ich nicke und lache unter Tränen.

»So gefällst du mir schon besser.«

»Das schreibe ich heute Abend in mein Tagebuch. Mit Danny gestritten. Mit Danny vertragen.«

Wir blicken aufs Meer hinaus. Es ist, als wären wir die beiden letzten Menschen auf der Welt.

»Das hier könnte doch unser Platz sein, Alice. Ich komme jeden Tag hier raus und warte auf dich.«

»Vielleicht kann ich auch einfach hierbleiben, bis einer von uns einschläft –«

Irgendwo klingelt ein Telefon. Mein Telefon.

Ich krame in meiner Schultasche nach dem Handy. »Warte, Danny, ich drücke nur mal kurz diesen Anruf weg –«

Adrian steht auf dem Display.

Adrian … oder Tim?

Ich kann den Strand jetzt nicht verlassen.

Aber was ist wichtiger? Dieser Traumtyp, der immer nur das sein wird – ein Traum? Oder meine Schwester, die mich mehr braucht denn je? Ich muss mich auf meine Prioritäten besinnen.

»Tut mir leid«, sage ich zu Danny. »Ich würde nicht gehen, wenn es nicht um Leben und Tod ginge, aber … tja, das könnte es wirklich. Träum süß.« Ich lege mir die Hand aufs Herz, so wie er es beim letzten Mal getan hat.

Er öffnet den Mund, doch er kommt nur bis »Träum«, bevor sein Gesicht sich verzerrt und sein Körper zu fallen scheint, bis der Bildschirm dunkel ist.

Zitternd gehe ich ans Telefon.