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Lewis fährt ein ziemlich dickes Auto – irgend so ein Angeber-Cabrio in Silber –, und nachdem Dad ihn endlich genug mit Fragen über Turbolader und was weiß ich noch alles gelöchert hat, fährt er im ersten Gang aus der Sackgasse. Dann drückt er ordentlich aufs Gas und wirft einen flüchtigen Blick nach links, um meine Reaktion zu sehen.

»Damit kannst du vielleicht deine Nerd-Freunde beeindrucken, aber mich nicht.«

Er lacht. »Siehst du mich immer noch so, als Nerd? Nach allem, was ich für dich getan habe?«

Im Kreisverkehr nehmen Sie die dritte Ausfahrt. Dann fahren Sie auf die Autobahn.

Das Navi hat eine tiefe strenge Frauenstimme – so müssen Dominas klingen.

Während sich Lewis den Anweisungen der Dame fügt, beobachte ich ihn und frage mich, warum er eigentlich hier ist. Auf der Autobahnauffahrt beschleunigt er, sanft und nicht allzu prahlerisch, trotz der bewundernden Blicke, die die wenigen anderen Fahrer, die so früh unterwegs sind, seinem Wagen schenken.

Er ist wirklich ein anständiger Typ. Ich weiß gar nicht, wieso er meine Geheimnistuerei und meine zickigen Bemerkungen einfach so hinnimmt. »Warum tust du das eigentlich alles für mich?«

»Ich steh nun mal auf Rätsel.«

»So sehr, dass du dafür mit einem launischen Mädchen rumhängst, das dir noch nicht mal sagt, was überhaupt Sache ist? Das glaub ich nicht.«

Lewis wirft mir einen Blick zu. »Du bist ein Rätsel, eingepackt in ein Geheimnis, so viel ist mal klar. Und ganz anders als deine Schwester.«

Er wechselt auf die linke Spur und überholt einen Lastwagen. Es ist so still hier drin. Wenn man die Welt nicht vor dem Fenster vorbeirauschen sähe, käme man nie auf die Idee, dass wir fast hundertachtzig fahren.

Nach fünfhundert Metern halten Sie sich rechts.

»Wie gut kanntest du meine Schwester?«

»Habe ich dir doch schon gesagt, wir waren in derselben Stufe, wenn auch auf unterschiedlichen Schulen. Dieselben Partys also, und dann ist sie in der Zehnten mal mit ’nem Jungen aus meiner Klasse zusammen gewesen.«

»Ach ja?«

»Ungefähr zwei Wochen lang. Ich wette, heute würde sie sich noch nicht mal mehr an seinen Namen erinnern, aber der Typ war danach natürlich der King. Deine Schwester war ein ziemlich begehrter Fang.«

Es ist so seltsam, ihn in der Vergangenheitsform von Meggie sprechen zu hören, obwohl sie doch gestern Abend noch real genug war, um mich von der Liebe meines Lebens fernzuhalten.

»Und du hast nie gehofft, du könntest bei ihr Chancen haben?«

Er legt einen anderen Gang ein. »Nicht mein Typ.«

»Ich dachte, Meggie wäre jedermanns Typ.«

Lewis fährt schweigend weiter.

Ein paar Meilen später sagt er: »Weißt du, ich fand immer, eins der schlimmsten Dinge, wenn jemand stirbt, ist, dass man danach nicht mehr die Wahrheit über ihn sagen darf. Meine Grandma ist gestorben, die Mutter meines Vaters. Sie war eine fiese alte Ziege, die andauernd nur an allem rumgemeckert hat, was meine Mum tat. Fand wohl, ihr lieber Sohn wäre zu gut für sie. Noch nicht mal zur Hochzeit ist sie gekommen. Geizig war sie auch und für mich und meinen Bruder hat sie sich nicht die Bohne interessiert. Aber so wie jetzt alle über sie reden, könnte man meinen, sie wäre eine Mischung aus Mutter Teresa und einem lieben alten Großmütterchen aus dem Märchen gewesen.«

Ich muss lachen. »Mein Gott, Lewis. So viel am Stück habe ich dich ja noch nie reden hören.«

Er blickt stirnrunzelnd in die Sonne und schiebt sich seine Sonnenbrille über die Augen.

Ich denke darüber nach, wie Meggie war: schön, arrogant, lustig, gehässig, leidenschaftlich, grausam, offen, eifersüchtig, großzügig, herrisch, intelligent, hochnäsig, faszinierend, nervtötend, eigennützig, egoistisch …

Stopp, befehle ich mir.

Lewis sieht zu mir rüber. »Ich kannte deine Schwester nicht, Alice, aber ich weiß, dass das, was über sie in den Zeitungen stand, mit Sicherheit nicht die ganze Wahrheit ist. Sie kann nicht bloß diese ekelhaft süße Nachtigall gewesen sein, die niemals irgendwas falsch machte. Immerhin …« Er hält inne.

»Immerhin was?« Ich starre ihn an. »Du wolltest sagen: ›Immerhin hat jemand sie umgebracht‹, stimmt’s?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein. Das nicht. Aber ich frage mich, ob deine Besessenheit von diesem magersüchtigen Mädchen nicht irgendwie ein Versuch ist, dich von dem abzulenken, was mit deiner Schwester passiert ist.«

»Bist du ausgebildeter Psychologe, Lewis?«

»Nein, aber –«

»Tja, dann hör auf, mich zu analysieren. Natürlich will ich wissen, wer Meggie getötet hat, ich bin ja kein seelenloser Roboter. Aber was den Rest angeht: Wie ich dir von Anfang gesagt habe, will ich deine Hilfe nur, wenn du nicht versuchst, mich zu heilen oder so was.«

»Schon gut.«

In dreihundert Metern nehmen Sie die Ausfahrt.

Lewis ignoriert die Navi-Frau.

Nehmen Sie die Ausfahrt, wiederholt sie beharrlich. Sie klingt beinahe verärgert.

Diesmal tut er, was sie sagt. Gegen mich und die Elektro-Domina ist er machtlos.

Tritis Schule liegt in einem kleinen, ach so malerischen Städtchen ungefähr zwanzig Meilen außerhalb von Brighton. Es ist ein Ort, wie Eltern ihn lieben und Teenager ihn hassen: drei Pubs und drei winzige Supermärkte, sodass die Chancen, als Minderjähriger irgendwo was zu trinken zu bekommen, gleich null stehen.

Die Keyes-Mädchenschule ist ein alter Steinbau hinter einer neuen roten Backsteinmauer mit brutal aussehenden schmiedeeisernen Spitzen darauf. Lewis parkt an der Hauptstraße und wir steigen aus und werfen einen Blick durch die Gitterstäbe.

Er schnieft. »Bisschen Reich und Schön-mäßig hier, oder?«

Damit hat er haargenau ins Schwarze getroffen. Üppig grüner Rasen, auf dem noch niemals jemand Hockey gespielt hat. Ein Parkplatz voller solide gebauter, aber protziger SUVs. Ein Pavillon mit Glasdach, von dem ich genau weiß, dass sich darin ein überheiztes Schwimmbecken befindet.

»Ah, Schulschluss. Perfektes Timing.« Lewis nickt zufrieden, während die ersten Grüppchen aus Haupt- und Seitenausgang getröpfelt kommen. »Oh Mann, so viele Hormone auf einem Haufen«, sagt er und es klingt nicht gerade so, als betrachtete er diese Mädchen als potenzielle Begleiterinnen für Dates.

»Die haben hier auch samstags Schule?«

»Ja. ›In ihrer Freizeit und am Wochenende bieten wir unseren Mädchen vielfältige praktisch orientierte und soziale Aktivitäten für ein erfülltes Leben auch außerhalb der akademischen Welt.‹ So steht’s zumindest auf der Website.«

»Erfüllt?« Ich denke an die Nachrichten, die Triti erhalten hat, und erschaudere. Welches von diesen Mädchen war es?

Als das Tröpfeln zu einem stetigen Strom anschwillt, gehen wir zurück zum Auto. Ich sehe hübsche Mädchen, unscheinbare Mädchen, dicke und dünne Mädchen. Wobei, Dicke sind nicht viele darunter, wie mir auf den zweiten Blick auffällt. Ob Salli wieder am Werk ist und ihr Gift verspritzt? Nicht, dass Triti jemals dick gewesen wäre …

»Jetzt warten wir erst mal ab«, meint Lewis. »Mal sehen, wo die Älteren nach der Schule so abhängen. Ich hab definitiv keine Lust, verhaftet zu werden, weil ich versuche, hier auf dem Gelände Schulmädchen anzuquatschen.«

Die Oberstufenschülerinnen sind leicht zu erkennen, weil sie statt der purpurroten Schuluniformen Privatkleidung tragen. Sie teilen sich in zwei Cliquen auf – die einen machen sich auf den Weg Richtung Starbucks und die anderen zu einem kleineren originelleren Café in der Kunstgalerie der Stadt.

»Nimm du die Galerie«, sage ich zu Lewis, »da gehen die alternativ angehauchten Mädels hin und die reden vielleicht eher mit einem Typen wie dir. Vielleicht.«

»Hmm. Einem Typen wie mir. Soll heißen?«

»Gar nichts. Nur, dass du nervös wirkst. Ich meine, du kannst dir auch gern die anderen vornehmen, wenn dir das lieber ist. Das ist mit Sicherheit die In-Clique. Könnten nur ein bisschen Furcht einflößender sein …«

Ohne dass ich noch weitere Überzeugungsarbeit leisten muss, zieht er los zu der Galerie.

Ich bleibe einen Moment vor Starbucks stehen. Kriege ich das wirklich hin? Ich schließe die Augen und zwinge mich, an Triti zu denken und daran, wie sie sich jedes Mal gefühlt haben muss, wenn sie wieder eine von diesen fiesen Nachrichten bekommen hatte. Und daran, wie sie sich momentan fühlen muss: vollkommen allein. Dann drücke ich die Tür auf. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ein Feigling zu sein.

Der Laden ist rappelvoll, nicht nur mit Schülerinnen, sondern auch mit Pärchen und Familien. Während ich für meinen Chai Latte anstehe, versuche ich mich zu entscheiden, welcher der von den Keyes-Mädels besetzten Tischen wohl der richtige ist. Jede der Gruppen hat ihre eigene Anführerin: Könnte die Platinblonde Salli sein oder ist es vielleicht doch eher das Mädchen mit den kurzen dunkelroten Haaren, dessen Finger zucken wie die einer Kettenraucherin?

Als eins der Mädchen aufsteht und sich mit jeder Menge affiger Luftküsschen von den anderen verabschiedet, fälle ich blitzschnell eine Entscheidung. Hastig flitze ich zu dem nun wahrscheinlich einzigen freien Platz im ganzen Café.

»Ist es okay, wenn ich mich hier hinsetze?«

Die beiden Mädchen, die an dem Tisch noch übrig sind, mustern mich skeptisch. Ich würde sagen, sie sind in der Dreizehnten. Sie tragen beide teure Designer-T-Shirts – wahrscheinlich bei einem super-exklusiven Shoppingwochenende in New York gekauft –, aber eine hat Akne und die andere eine Zahnspange, sodass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine von ihnen Triti zu Tode gequält hat.

Aber ich wette, sie wissen, wer es war.

Ich trinke meinen Chai und nehme mein Notizbuch aus der Tasche. Lewis meinte, niemand kann einem kurzen Blick widerstehen, wenn er jemanden in ein Notizbuch schreiben sieht. Offenbar hat er recht, denn als ich den Stift aus der Spiralbindung ziehe, merke ich, wie das Mädchen mit der Zahnspange mich beobachtet. Ich tue so, als würde ich etwas schreiben, und kaue dann an meinem Stift, als wartete ich auf die richtige Inspiration. Schließlich sehe ich sie an, als wäre mir gerade etwas in den Sinn gekommen.

»Von euch beiden kann mir nicht zufällig eine was über die Keyes-Schule erzählen, oder?«

Die Picklige lächelt. »Und ob. Wir gehen beide seit sechs Jahren dahin.«

»Wow!«, sage ich und lasse den Stift sinken. »Das ist ja cool. Wie ist es denn da so?«

»Nett«, antwortet sie. »Obwohl ich schon sagen würde, man muss einfach reinpassen. Stylish sollte man sein. Und clever.« Sie zieht die Stirn kraus. »Du hoffst also, angenommen zu werden?«

»Woher weißt du das?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ach, war nur so eine Vermutung. In welche Klasse gehst du?«

»In die elfte. Meine Eltern meinen, es wäre ganz gut, jetzt in der Oberstufe aufs Internat zu wechseln.«

Zahnspange runzelt die Stirn. »Gut für dich oder gut für sie?«

Ich lache. »Beides, nehme ich mal an. Ich bin … Einzelkind und ich glaube, sie freuen sich drauf, das Haus wieder für sich allein zu haben.«

»Das kenne ich«, sagt Zahnspange. »Ich bin übrigens Jade.«

»Alice.«

»Maria«, stellt sich das Akne-Mädchen vor. »Also, was willst du noch wissen?«

»Darf man seine eigenen Klamotten tragen? Darf man abends weggehen? Und kriegt man sein eigenes Zimmer?«

»Ja zu den Klamotten, ja zum Weggehen – obwohl hier in der Gegend sowieso nichts los ist – und ja zum eigenen Zimmer. Nur die Neuen müssen sich manchmal eins teilen, bis ein anderes frei wird«, erklärt Jade.

»Ja, bis jemand geht«, sagt Maria. Die beiden Mädchen werfen sich einen Blick zu.

Mir läuft ein Schauder über den Rücken. »Wieso, gehen denn viele wieder?«

Maria scheint plötzlich etwas sehr Interessantes in ihrem Kaffee zu entdecken.

Jade mit der Zahnspange kneift die Augen zusammen. »Wie Maria schon sagte, die Keyes ist nicht jedermanns Sache. Die Leute, denen es dort nicht gefällt, bleiben nicht immer bis zum Schluss.«

»Gibt es viel Mobbing?«

Sie starrt mich an. Einen Augenblick lang fürchte ich, zu weit gegangen zu sein. »Es ist eine ganz normale Schule. Man muss sich anpassen. Das hat nichts mit Mobbing zu tun. Mehr mit … natürlicher Auslese.« Sie lächelt mit geschlossenem Mund, damit man ihre Zahnspange nicht sieht.

»Achte nicht auf Jade. Bio ist ihr Lieblingsfach«, wirft Maria ein.

Wenn ich wirklich in Erwägung ziehen würde, auf diese Schule zu gehen, dann hätte der Kommentar mit der natürlichen Auslese schon ausgereicht, um es mir anders zu überlegen. Aber vor dem Hintergrund dessen, was ich über Triti weiß, wirken Jades Worte noch unheilvoller.

»Ein Mädchen aus meiner Nachbarschaft war hier auf der Schule«, fange ich an, denn mir wird klar, wenn ich nicht bald zum Angriff übergehe, wird es ihnen zu langweilig mit mir und sie fangen an, mich zu ignorieren. »Sie hieß –«

Plötzlich rauscht ein Luftzug durch das Café, als die Tür aufgerissen wird. Lewis steht im Eingang. Alles starrt ihn an. Besonders die Mädchen von der Keyes-Schule. Vielleicht habe ich ihn ja tatsächlich falsch eingeschätzt und er ist doch attraktiver als der durchschnittliche Computer-Guru. Möglicherweise liegt es aber auch an seinem wutentbrannten Gesichtsausdruck, dass ihn alle ansehen. Ich bin überrascht, wie zornig er wegen eines Mädchens zu sein scheint, das er noch nicht einmal kannte. Vielleicht ist es sein Sinn für Gerechtigkeit, weswegen er so viel für mich tut.

Es ist ein absolut seltsamer Moment: als hätte jemand die Zeit angehalten und die kleinstädtische Starbucks-Filiale sich in einen Saloon aus einem Spaghettiwestern verwandelt.

»Ich bin auf der Suche nach Demi«, verkündet Lewis. »Man hat mir gesagt, ich könnte sie hier finden.«