16

»Ich weiß es nicht.«

»Was?«

»Ich weiß nicht, wie ich gestorben bin, Schwesterherz. Oder wer mich umgebracht hat, wenn es denn so war. Ich erinnere mich nicht.«

Von all den Antworten, die Meggie mir hätte geben können, wäre ich auf diese niemals gekommen.

»Du bist ermordet worden«, sage ich sanft und dann muss ich schlucken, denn was, wenn es schon einen Verstoß gegen die Regeln darstellt, es einfach auszusprechen? Was, wenn der Strand nun jeden Moment in einem Strudel des Vergessens versinkt und meine Schwester und jede Spur von ihr mit sich reißt?

Aber ich kann sie immer noch neben mir atmen hören.

Atmen. Der Mörder hat ihr die Luft geraubt und doch ist sie jetzt hier und …

»Ja, das hatte ich mir auch schon gedacht, nach allem, was die anderen hier so erzählen. Sagen wir’s mal so, Altersschwäche ist hier nicht gerade die Todesursache Nummer eins.«

Ich versuche immer noch, das alles zu verstehen. »Leiden denn die anderen auch alle unter Amnesie?«

»Nein. Die meisten können erzählen, was sie gerade gemacht haben, bevor es passiert ist. Oder sogar, was für ein Gefühl es war …« Sie stockt. »Ich bin eher eine Ausnahme. Alles, was ich noch weiß, ist, dass ich mit Tim auf einer Party war. So ein Maskenball, ganz großes Kino, du weißt schon. Na ja, nicht ganz so groß, wie ich es mir gewünscht hatte. Wir haben uns gestritten.«

»Schlimm?« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Tim sich überhaupt mit irgendwem streitet. Er war doch immer so … friedfertig. Ich frage mich, ob Meggie ihn vielleicht provoziert hat. Klingt vielleicht nicht sehr loyal, aber als ihre kleine Schwester weiß ich ganz genau, wie gut die Nachtigall einen hinter den Kulissen in den Wahnsinn treiben konnte.

»Nein, glaube ich eigentlich nicht. Ich meine, jede Beziehung hat doch ihre Höhen und Tiefen, stimmt’s? Aber es war auf keinen Fall so schlimm, dass … Denken das die Leute? Dass er es war?«

Was soll ich ihr sagen? »Keiner weiß irgendwas.«

Meggie seufzt. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, mich nicht mehr zu erinnern. Also, wir waren erst in dieser Bar, wo der Ball stattfand, und dann wollte ich weiter in einen Club, aber Tim meinte, wir sollten lieber früh nach Hause, weil doch am nächsten Tag dein Geburtstag war. So fing das an. Wie es zu Ende gegangen ist, weiß ich nicht mehr.«

Ich denke an die Bilder aus den Überwachungskameras, die sie in den Nachrichten gezeigt haben. Erst Meggie und Tim auf dem Weg zum Maskenball in der Bar des Studentenwerks, wie sie sich später draußen vor der Tür streiten und dann gemeinsam zurück ins Wohnheim gehen und schließlich eine letzte Aufnahme von Tim, wie er, viel später, allein in die Bar zurückkehrt. »Ihr seid gegen ein Uhr zusammen gegangen. Das ist das Letzte, was man weiß.«

»Ach, Scheiße.« Sie seufzt. »Wie, Florrie?«

»Wie was?«

»Wie bin ich gestorben?«

»Du wurdest … du wurdest erstickt.«

Sie keucht auf.

»Was ist? Oh, tut mir leid. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen.«

»Nein, Florrie, ist in Ordnung. Das erklärt zumindest eins.«

»Was?«

»Ich hatte doch immer diese Albträume. Als Kind.« Ihre Stimme klingt zögerlich.

»Was denn für Albträume?«, frage ich, obwohl ich das schreckliche Gefühl habe, dass ich die Antwort bereits kenne.

»Na ja, lebendig begraben zu werden. Wie ich nach Luft ringe und immer mehr Erde über mir aufgehäuft wird und dass mich niemand hört.«

»Ach, Meggie.«

»Schon gut«, faucht sie und ich weiß, das ist eine Warnung: Wag es ja nicht, mich zu trösten.

Also blicke ich zum Horizont. Die Sonne beginnt unterzugehen, das Licht nimmt ein warmes Pfirsichrosa an und das Meer wirkt jetzt dunkler, beinahe grün. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Meggie?«

Zu meiner Linken höre ich ein Schniefen.

»Meggie, weinst du? Nicht weinen, bitte nicht. Ich bin ja da.«

Aber das Weinen hört nicht auf. Meine Schwester hat nie geweint. Noch nicht mal, als ihre Zahnspange angepasst wurde, oder als sie sich auf dem Trampolin unserer Nachbarn das Handgelenk brach, genau an dem Wochenende, bevor sie in der Schulaufführung von Les Misérables die Hauptrolle spielen sollte. Natürlich stand sie dann trotzdem als Cosette auf der Bühne, den Besen in einer Hand, den Gipsarm unter Lumpen verborgen. Auf keinen Fall durfte die Zweitbesetzung Meggie ihren Platz im Rampenlicht streitig machen.

»Ich wünschte, ich könnte bei dir sein«, sage ich, aber daraufhin weint sie nur noch heftiger. Und außerdem, was könnte ich denn schon tun, wenn ich dort wäre? Ich bin keine große Trösterin. Im Gegenteil, ich bin diejenige, die ständig getröstet werden muss, ob Cara mich nun mit unanständigen Witzen ablenkt oder Dad die miesesten Zaubertricks der Welt aufführt oder Meggie mir Schlaflieder vorsingt …

Bei dieser Erinnerung kommt mir eine Idee. Ich habe es nie mit Singen versucht. Wieso sollte ich auch, wenn meine Schwester so begabt war? Aber im Moment leidet sie so sehr, dass ich jede Chance ergreife. Ich hole tief Luft.

»Amazing Grace, how sweet the sound …« Meine krächzende Stimme hallt in den Kopfhörern wider. Der Sound ist alles andere als sweet. Stattdessen versuche ich, einigermaßen harmonisch zu flüstern. »That saved a wretch like me.«

Zumindest hat Meggie aufgehört zu weinen. Ich mache weiter, erinnere mich Zeile für Zeile an den Text und denke daran, dass das ihr Lied war, der Song, der sie in die Schlagzeilen brachte, nachdem sie ihn in der zweiten Folge von Sing for your Supper so wunderschön gesungen hatte. Mit ihrer Inbrunst rührte sie alte Omas zu Tränen, auch wenn sie hinter den Kulissen herumwitzelte und anzüglich fragte, was genau an dieser Grace denn wohl so amazing war …

»I once was lost but now am found, was blind, but now I see.« Jetzt summe ich nur noch, weil ich den Text der zweiten Strophe nicht kenne.

Und Meggie übernimmt. »Through many dangers, toil and snares … we have already come. T’was Grace that brought us safe thus far … and Grace will lead us home.«

Bei dem Wort home stockt ihre Stimme leicht, aber wenigstens klingt sie wieder wie Megan, die Nachtigall, Forster. Ich brauche sie gar nicht zu sehen, denn sie zu hören reicht aus, um mich an alles zu erinnern, was an meiner Schwester wichtig war.

»When we’ve been here ten thousand years … bright shining as the sun. We’ve no less days to sing God’s praise … than when we’ve first begun.«

Als sie fertig ist, klatsche ich, die Hände dicht am Mikrofon des Laptops. »Wow, Meggie, deiner Stimme konnte es also nichts anhaben«, sprudelt es aus mir hervor.

»Was? Das Totsein?«

Ich sage nichts.

»Ich habe kein einziges Mal gesungen, weißt du?«

»Was?«

»Seit ich … hier bin. Nicht ein einziges Mal. Ist einfach nicht der richtige Ort dafür. Mich hier auf den Steg zu stellen und meine Diven-Nummer abzuziehen, da käme ich mir total blöd vor.« Jetzt ist sie wieder lustig, sarkastisch, normal. Einen Moment lang fühle ich mich besser, und dann, plötzlich, noch viel schlimmer. Sie sollte nicht versuchen, mich aufzuheitern. Sie ist doch diejenige, die tot ist.

»Du musst mir nichts vorspielen, Meggie. Du musst mich nicht mehr beschützen.«

Wieder Schweigen. Jetzt kann ich die anderen Leute definitiv hören. Waren sie immer da, im Hintergrund, und es hat nur so lange gedauert, bis ich die Geräusche einordnen konnte?

»Na schön, in Ordnung. Ich fühle mich beschissen, Florrie. Einsam. Und verzweifelt. Ich stehe jeden Tag auf und die Sonne scheint wieder mal perfekt, nicht eine Wolke am Himmel. Wie in diesem verdammten Song gerade: Wenn wir zehntausend Jahre hier gewesen sind. Vielleicht gibt es keinen Ausweg und ich habe das bisschen Leben, das ich hatte, verschwendet und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.«

»Oh.« Ich will ihr sagen, wie viele Millionen Menschen sie vermissen und dass das doch wohl ein Beweis dafür ist, dass sie keine Sekunde ihres Lebens verschwendet hat. »Das tut mir so leid, Meggie. Hast du Schmerzen?«

»Nein. Hier tut niemandem körperlich etwas weh. Wir … Wie soll ich das ausdrücken? Alle hier sind heil. Unversehrt. Ein paar Leute sind wirklich auf schreckliche Weise gestorben, aber es ist noch nicht mal ein zerrissenes T-Shirt zu sehen. Zerrissene Jeans schon hin und wieder, aber das ist dann Absicht.«

»Gut.« Erst jetzt stelle ich mir vor, wie dieser Ort aussehen würde, wenn die Leute dort nicht unversehrt wären – ein ganzer Strand voller Toter, deren Körperteile schlaff herunterhängen oder ganz fehlen, deren Blut in den Sand tropft. Ich versuche, das Bild aus meinen Gedanken zu verbannen und mir stattdessen Fragen einfallen zu lassen, die mir helfen zu verstehen, zu sehen. »Wie viele sind denn alle hier

»Ich weiß nicht. Manchmal kommt es mir nur vor wie ein paar Dutzend, manchmal wie Hunderte. Der Strand, na ja, der hört nirgendwo auf. Guck selbst.«

Ich drehe die Maus um dreihundertsechzig Grad. Alles, was ich sehe, ist türkis und golden, wie die prachtvolle Totenmaske Tutanchamuns. Neben dem Steg, der Strandbar und den Grüppchen von Bambushütten gibt es nichts als Strand und Meer und Himmel. Ach ja, und die Hunderte von anderen Menschen, die ich nicht sehen kann.

»Kannst du denn mich sehen, Meggie?«

Pause. »Ich sehe einen Schatten. Eine Gestalt, die deine Form hat. Und ich wusste sofort, dass du es bist, weil … na ja. Wenn ich sage, du hast eine Aura, klingt das, als hätte ich sie nicht mehr alle, oder? Und nur weil ich tot bin, bin ich noch lange nicht auf so ’nem Eso-Trip. Die anderen sagen, dass du vielleicht irgendwann klarer wirst, vielleicht aber auch nicht. Aber in Gedanken sehe ich dich ganz deutlich vor mir, bis hin zu dem Wirbel links in deinem Pony und dem dicken Pickel, den du immer genau zwischen den Augenbrauen kriegst.« Ich kann die Traurigkeit in ihrer Stimme hören.

»Da sieht man mal, wie viel Ahnung du hast«, erwidere ich. »Die Antibiotika vom Hautarzt helfen jetzt nämlich endlich. Ich habe seit April keinen Pickel mehr gehabt.«

»Du wirst erwachsen, Alice.«

So nennt sie mich nur, wenn sie ganz ernst ist. »Ja.«

Das Schweigen zwischen uns lastet schwer.

Schließlich sagt Meggie wieder etwas. »Ich sollte dich jetzt gehen lassen, Schwesterherz. Ist ganz schön anstrengend, oder? Wieder zusammen zu sein und zu wissen, dass es jeden Moment vorbei sein könnte?«

Ich will gerade widersprechen, dass ich bleiben möchte, aber plötzlich wird mir klar, wie hundemüde ich bin, und als ich auf die Uhr sehe, ist es schon fast Mitternacht. Ich bin seit fast drei Stunden am Strand. Wie kann das sein? Es kam mir wie Minuten vor. Die schönsten, aber auch die schlimmsten Minuten meines Lebens.

»Dann geh ich jetzt. Aber morgen komme ich wieder, wenn das okay ist?«

»Okay?« Sie lacht. »Eins kann ich dir mit absoluter Bestimmtheit sagen: Dass du hier am Strand aufgetaucht bist, ist das Beste, was mir passiert ist, seit ich gestorben bin. Schlaf schön, Florrie.«

Es ist nicht gelogen. Das kann ich in ihrer Stimme hören.

»Schlaf gut, Meggie.«