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Nach all dem Kitsch der Geburtstagsparty kann ich am Strand regelrecht aufatmen. Irgendwie wirken sogar die Gäste natürlicher und außerdem macht mich hier keiner blöd an, weil ich nicht orange oder enthaart genug bin.
»Hey, Alice, schön dich zu sehen.« Danny sitzt unter unserer Palme und spielt Solitär. Sein Lächeln ist so breit, dass es sogar für einen Moment die schreckliche Sehnsucht in seinen Augen überstrahlt. Aber nur für einen Moment.
»Na, schwer beschäftigt?« Ich setze mich hin, mit dem Rücken zum Wasser.
»Klar, ist der reinste Stress hier.« Sein Lächeln versiegt und eine Sekunde lang sehe ich nichts als Verzweiflung. Geht es allen hier so, hinter ihrem Grinsen und den Witzen?
Ich drehe mich nun doch zum Strand um, wo die hübschen Mädchen und Jungs einander im flachen Wasser nass spritzen. Es ist ein wunderschöner Tag. Ich meine, hier ist natürlich jeder Tag wunderschön, aber heute leuchtet der Himmel ganz besonders unerträglich blau und die Meeresbrise bietet genau die richtige Menge Linderung angesichts der Hitze.
Die Meeresbrise? Wie in aller Welt kann ich die spüren, wenn ich doch hier in meinem stickigen, beheizten Zimmer meilenweit entfernt von der See sitze?
»Kann ich dich was fragen, Danny?«
»Klar.«
»Es geht um Triti.« Er nickt mir aufmunternd zu, also rede ich weiter. »Am Wochenende habe ich mich mit ihr unterhalten, bevor ich euch andere gefunden habe. Sie wirkte so … hoffnungslos.« Er sammelt die Karten auf, die ausgebreitet auf dem blau karierten Strandtuch liegen. »Wir haben alle versucht, ihr gut zuzureden. Zuerst Javier, dann Meggie. Dann ich. Ich bin immer die allerletzte Option.« Er lacht. »Nicht gerade ein Experte im Aufheitern.«
»Und, was ist dabei rausgekommen?«
Er mischt die Karten neu. »Javier hat’s mit ein paar Witzen probiert. Meggie hat die guten Seiten am Paradies aufgezählt. Ich war einfach ehrlich. Habe ihr gesagt, dass wir alle mal einen schlechten Tag haben, genau wie früher, als wir noch am Leben waren. Dass wir unter unseren superscharfen Körpern und den Klamotten, die nie gebügelt werden müssen, immer noch genau dieselben Menschen sind.«
»Glaubst du das wirklich?«
Er sieht zu mir auf. »Na sicher. Was immer wir verdammt noch mal auch sind, Engel jedenfalls nicht. Um das zu wissen, muss man ja nur mal Javier ein paar Minuten zuhören.«
Ich lächele. »Stimmt. Er hat wirklich nichts Engelhaftes an sich.«
»Ich bin auch nicht netter. Du brauchst nur ein bisschen an der Oberfläche zu kratzen und schon kommt ein Snob zum Vorschein. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die sich stets für besser als alle anderen gehalten hat. Aber seit ich hier bin, fällt es mir wirklich schwer, mich den Sportleridioten und den Männermodels und Bikinigirls gegenüber nicht allzu herablassend zu verhalten.«
Sein Tonfall verunsichert mich. »Mir gegenüber auch?«
Er sieht mich mit festem Blick an. »Nein, Alice. Du bist anders.«
Seine Direktheit lässt mich erröten. Ich sehe weg. »Bin ich das? Ich meine, abgesehen davon, dass ich im Bikini nicht so knackig aussehe, wo liegt der Unterschied?« Doch als ich den Kopf wieder hebe, sieht Danny mich immer noch an.
»Musst du das wirklich fragen?«
»Sonst hätte ich es doch nicht gerade getan, oder?«
»Es hat nichts mit Bikinis zu tun.« Er mischt die Karten noch einmal durch. »Abgesehen von allem anderen bist du am Leben.«
»Ach so. Das.« Ich lache. »Tut mir leid.«
»Nein, nicht nur das …« Danny scheint über etwas nachzudenken. Er schüttelt den Kopf. »Ach, reden wir lieber wieder über Triti, okay? Das ist viel einfacher. Ihr geht’s einfach gerade nicht so gut. Überleg doch mal. Als ihr das Leben zu viel wurde, aus welchem Grund auch immer, hat sie beschlossen, immer und immer weiter zu schrumpfen, bis sie einfach nicht mehr da war.«
Wie kann er die Entscheidung, sich zu Tode zu hungern, so beschreiben, als wäre das nichts Wilderes, als seine Leistungskurse auszuwählen?
»Was für eine Art von Beschluss soll das denn sein? Was ist mit ihrer Familie?«
Danny runzelt die Stirn. »Vielleicht war es ja gerade ihre Familie, die sie irgendwie dazu getrieben hat. Wer weiß? Ich will nur sagen, hier gibt es nichts als vollkommen unwichtige Entscheidungen. Was für ein T-Shirt man heute anzieht. Ob man unter dieser oder jener Palme abhängt. Verdammt, noch nicht mal das Thema Essen verlangt einem eine wirkliche Entscheidung ab, wenn man niemals Hunger hat. Triti sitzt hier fest. Wir alle wissen, dass sie das akzeptieren muss, aber das macht es auch nicht leichter.«
»Und wenn sie es niemals akzeptiert? Wenn sie das einfach nicht kann?«
»Ich habe diesen Ort nicht entworfen, Alice. Wenn es so wäre, dann hätte ich mit Sicherheit eine Game-Over-Option eingebaut, für die Leute, die es nicht mehr aushalten. Okay, dann wären irgendwann nur noch die Sportleridioten und Bikinigirls übrig, weil jeder mit einem IQ, der größer ist als sein Brustumfang, früher oder später den Ausweg wählen würde. Und zurück bleibt ein Paradies für Trottel …«
»Das war jetzt wirklich herablassend, Danny.«
»Daran sieht man nur, wie entspannt ich in deiner Gegenwart bin, Baby.«
Seltsam, wie gut ich mich fühle, wenn ich so was von ihm höre. Aber ich verscheuche den Gedanken schnell. »Baby?«, frage ich spöttisch.
»So nenne ich alle Mädchen.«
»Sag mal, flirtest du etwa mit mir, Daniel?«
Die Karten, die er gerade gemischt hat, fliegen ihm explosionsartig aus den Händen und segeln zu Boden. Er hält den Kopf gesenkt, während er sie wieder aufsammelt. »Das würde ich doch nie wagen. Na ja, was Triti angeht, mit dem Feuerwerk haben sie einen ganz dummen Fehler gemacht. Sie haben ihr das Gefühl gegeben, sie könnte irgendwas kontrollieren. Das ist schlecht für alle hier. Es … stört den Ablauf. Darum ist das Wetter heute auch so gut, denke ich.«
»Genau, im Gegensatz zu all den anderen Tagen, an denen die Sonne scheint«, erwidere ich und tue so, als hätte ich es nicht selbst bemerkt.
Er beugt sich vor. »Nein. Heute ist es anders«, flüstert er. »Das ist so eine Sache, die mir aufgefallen ist. Die benutzen das Wetter hier. Wenn alle unruhig sind, lassen sie es so heiß werden, dass es uns einen Dämpfer verpasst. Und jetzt überhäufen sie uns mit Glückseligkeit.«
»Sie?«
Er schüttelt den Kopf. »Sie? Gott? Deine eigene kranke Fantasie? Wer weiß das schon? Aber hey, Alice, wenn das alles nur deine kranke Fantasie ist, könntest du dir nicht mal ein, zwei Computerspiele für mich vorstellen? Grand Theft Auto fehlt mir nämlich ganz schön.«
Ich lache. Sein Humor sorgt dafür, dass es mir gleich besser geht. Wenn ich bei Meggie bin, fühle ich mich verantwortlich für sie, besonders seit ich beschlossen habe, ihr zu helfen oder es zumindest zu versuchen. Aber mit Danny ist es, als würde er sich um mich kümmern.
»Ich fürchte, da kann ich nicht viel machen. Aber … na ja, du kennst ja deine Theorie. Dass man in der echten Welt etwas unternehmen kann, das hier etwas bewirkt?«
Danny hört auf zu lachen. »Mmh?«
»Ich glaube, es ist könnte an der Zeit sein, dass ich die mal überprüfe. Vielleicht kann ich Triti ja wirklich helfen.« Ich rede nicht weiter, für den Fall, dass es Unglück bringt oder ich von der Seite verbannt werde.
»Weißt du was, Alice? Wenn du das ernst meinst, dann macht dich das sogar noch besonderer. Ich glaube, du bist so ziemlich der einzige Mensch, der Triti aus der Ewigkeit retten kann.«