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Lewis könnte wenigstens so tun, als wäre er überrascht, als ich ihn anrufe.

»Hast du es dir anders überlegt, Alice? Dachte ich’s mir doch.«

»Tja, so berechenbar bin ich also?«

»Na ja, so wie ich das sehe, hast du keine andere Wahl.«

»Genau, ich würde mich nicht melden, wenn ich nicht am Rande der Verzweiflung wäre.«

»Also sind wir wohl so was wie ein Traumpaar, denn ich helfe dir schließlich nur, um einem Kumpel einen Gefallen zu tun.«

»Na, dann ist ja wohl alles klar, Lewis.«

»Wie Kloßbrühe, Alice.«

Er kommt am Nachmittag zu mir, bevor im Fernsehen die Hommage für Meggie gesendet wird. Ich schätze mal, sein Kalender ist nicht gerade vollgepackt mit sozialen Verpflichtungen.

Mum ist so begeistert darüber, mich mit einem Jungen zu sehen – was für sie wahrscheinlich meine Rückkehr zur Normalität oder so was symbolisiert –, dass sie uns allein in mein Zimmer gehen lässt und uns sogar zwei Sorten teure belgische Schokoladenkekse mitgibt.

Ich setze mich aufs Bett und er nimmt mit meinem rosa Schreibtischstuhl vorlieb, auch wenn der viel zu klein für ihn ist.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er hat sich etwas schicker gemacht als sonst, wahrscheinlich meiner Eltern wegen: Er trägt eine sauberere Ausführung derselben Sneakers wie beim letzten Mal und hat sogar versucht, sein wild zu Berge stehendes Haar ein wenig zu glätten. Scheint, als wäre ihm genauso unbehaglich zumute wie mir. Sicher ist er nicht oft in irgendwelchen Mädchenzimmern zu Gast. Ach, vermutlich interessiert er sich sowieso für nichts, auf dem man nicht World of Warcraft spielen kann.

»Nettes Teil«, sagt er und nickt in Richtung meines Laptops. »Der hat ’ne richtig gute Grafikkarte. Hätte dich nicht für eine Gamerin gehalten.«

Tja, du weißt eben nicht alles, mein Bester. Ich liebe die virtuellen Welten, in denen ich mich rumtreibe, sogar so sehr, dass ich mich in einen Typen verknallt habe, der überhaupt nicht existieren kann. »Ich hab ihn bloß wegen der Glitzertastatur genommen«, erkläre ich.

Was gelogen ist. In Wahrheit habe ich mich nach gründlicher Recherche für dieses Modell entschieden, weil ich eben manchmal auch ein ganz schöner Nerd sein kann, aber das werde ich ihm bestimmt nicht auf die Nase binden.

Er zieht die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: Mädchen wie du sollten solche Laptops gar nicht besitzen dürfen. Aber dann bemerkt er stattdessen: »Wenn du die Stirn runzelst, siehst du deiner Schwester ziemlich ähnlich.«

Die Atmosphäre im Raum verändert sich schlagartig. Es stimmt – Mum sagt das auch immer, oder zumindest hat sie das früher. Aber wenn es Lewis auch auffällt, muss er mehr Zeit mit Meggie verbracht haben, als er zugegeben hat. »Du hast doch gesagt, du hättest sie kaum gekannt.«

»Gekannt habe ich sie auch nicht so gut. Aber die Gegend hier ist ja mehr wie ein Dorf als wie das richtige London, man läuft sich ständig über den Weg. Wir waren in derselben Stufe, auch wenn wir auf unterschiedliche Schulen gegangen sind. Sie ist mit ein paar Freunden von meinen Freunden ausgegangen. Und sie war hübsch. Ich meine, ich weiß, dass du mich für einen totalen Obernerd hältst, Alice, aber selbst Typen wie mir fallen hübsche Mädchen auf. Wir sprechen sie dann nur nicht an.«

Ich sehe zu Boden, beschämt darüber, dass er meine Vorurteile erraten hat. Er hat es nicht verdient, so herablassend behandelt zu werden, immerhin versucht er doch nur zu helfen. »Ich halte dich nicht für einen totalen Obernerd«, sage ich.

Er lächelt. »Na, das ist doch schon mal besser als nichts. Wollen wir dann loslegen? Cara sagt, du hast E-Mails von irgendwelchen Stalkern bekommen. Die behaupten, sie wüssten, wo deine Schwester ist, und sich sogar für sie ausgeben. Stimmt das?« Er zieht sein iPhone aus der Tasche – das allerneuste Modell; ich dachte, das gäbe es noch gar nicht zu kaufen – und nimmt damit unser Gespräch auf. So viel zum Nicht-nerdig-Sein.

»Ach, die haben schon wieder damit aufgehört. Das waren nur ein paar Irre.«

Er nickt, aber sein Blick bleibt skeptisch. »Davon laufen ja jede Menge rum. Ist wahrscheinlich auch nicht sonderlich überraschend, dass ein paar von denen von deiner Schwester besessen waren. Ich hab da so eine Theorie, warum sie so gut bei den Nerds und Losern ankam. Klar sah sie ganz gut aus, aber nicht wie ein Supermodel, sondern mehr wie das Mädchen von nebenan. Außerdem war sie ja mit diesem Tim zusammen und da hat so ziemlich jedes arme Schwein im Land gedacht: Wenn der bei so einer landen kann, dann krieg ich vielleicht auch irgendwann mal ’ne hübsche Freundin ab.«

Hast du das auch gedacht, Lewis?, will ich am liebsten fragen, aber das wäre wohl nicht besonders nett. »Ja, aber das mit den E-Mails hat aufgehört, wie gesagt.« Und doch blicke ich auf die Uhr und denke daran, dass in zwei Stunden die Fernsehsendung anfängt. Okay, das wühlt Meggies Fans sicher wieder ziemlich auf, aber die können doch nicht hinter Soul Beach stecken, oder?

Oder?

Manchmal wirbeln in meinem Hirn so viele Gedanken herum, dass ich keinen einzigen klaren fassen kann. Ich könnte schreien vor Frustration. Wird das alles jemals einen Sinn ergeben?

»Na schön, Alice, wenn du diese Mails nicht mehr kriegst, was willst du dann von mir?«

Ich bin eine erbärmliche Lügnerin. So mies, dass Meggie sogar ein paarmal versucht hat, mich darin zu trainieren. Sie nannte das einen grundlegenden Teil deiner Ausbildung, besonders in Bezug auf Jungs, und erklärte mir, dass es vor allem um überzeugende Detailarbeit geht und darum, demjenigen, den man belügt, in die Augen zu sehen. Darum, dass man sich seine Geschichte sorgfältig zurechtlegt und so nah an der Wahrheit bleibt wie möglich. Ich dachte, sie hätte immer nur bei unwichtigen Sachen gelogen – warum sie zu spät nach Hause kam oder irgendwelche Aufgaben für die Uni nicht gemacht hatte.

Aber was, wenn ihr ganzes Leben aus Lügen bestanden hat? Kann sie sich irgendwie in Schwierigkeiten gebracht haben, die letztendlich sogar zu ihrem Mord führten? Ein verrückter Gedanke, vielleicht, aber ist er verrückter als die Vorstellung, dass Tim sie getötet hat?

»Alice?«

»Entschuldige, tut mir leid. Ich kann mich manchmal nur schwer konzentrieren, seit …« Ich zucke verlegen mit den Schultern und Lewis nickt, sagt aber nichts. »Tja, also, wie es aussieht, hat Cara recht: Ich komme einfach nicht darüber hinweg, was mit Meggie passiert ist. Auf diese Frage finde ich einfach keine Antwort. Na ja, eigentlich ist es mehr als eine Frage. Ein Rätsel. Entschuldige, das hört sich jetzt an wie bei CSI.«

»Die Polizei hat doch diesen Typen festgenommen, oder? Ihren Freund?«

»Ja, aber …« Ich zucke mit den Schultern. »Das kommt mir irgendwie zu offensichtlich vor.«

»Manchmal sind die Dinge deshalb offensichtlich, weil sie wahr sind. Wenn ich den Leuten bei einem Computerproblem helfen soll, dann habe ich normalerweise schon gleich nach dem Telefongespräch eine Ahnung, was nicht stimmt, lange bevor ich überhaupt auf das System zugreife. Und in neunundneunzig Fällen von hundert liege ich mit meiner Ahnung goldrichtig.«

»Aber da bleibt noch der eine von hundert …«

Er lächelt. »Ja, das sind immer die biestigsten. Damit verdiene ich dann richtig Geld.«

»Es ist nur so«, sage ich und atme tief durch, bevor ich anfange zu lügen. »Es geht gar nicht nur um Meggie. Ich muss auch immer über andere tote Leute nachdenken. Leute in meinem Alter.« Ich sehe ihn an.

»In unserem Alter, meinst du wohl?«, fragt Lewis. Ich habe das Gefühl, dass er mich auf den Arm nimmt. »Für dich wirke ich wahrscheinlich wie ein grauhaariger Knacker, Alice, aber ich bin genauso alt wie deine Schwester.«

»Ja, klar.« Vermutlich war ich wirklich ein bisschen abweisend, schließlich will er doch nur helfen. »Es könnte sein, dass es … na ja, vielleicht zu einer Art Besessenheit geworden ist. Wenn ich schon nicht in Ordnung bringen kann, was mit meiner Schwester geschehen ist, dann will ich zumindest wissen, warum andere Jugendliche sterben mussten. Leute, von denen ich im Internet gelesen habe. Oder in der Zeitung. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber ich kann einfach nicht aufhören, an sie zu denken.«

Man muss wissen, wann man aufhören muss. Das war noch so eine goldene Regel des Lügens von Meggie. Wenn man es zu breit auswalzt, verstrickt man sich irgendwann in seiner eigenen Geschichte. Also höre ich auf.

Ich warte ab. Klang das überhaupt plausibel? Ich habe ewig nach einem Grund gesucht, der Lewis dazu bringen würde, mir zu helfen. Und was die Glaubwürdigkeit angeht, ist die wohl immer noch millionenmal höher, als wenn ich ihm von einem sozialen Netzwerk für tote Teenies erzählen würde.

Er grübelt darüber nach. Guckt mich an. Guckt auf sein iPhone. Hat er da vielleicht eine Lügendetektor-App drauf oder so was? »Hm, Alice, ich muss sagen, das ist schon ein bisschen seltsam.«

»Ja, meine Schwester hat auch immer gesagt, ich wäre ein kleiner Freak.« Das ist sogar die Wahrheit, aber sie hat es immer liebevoll gemeint.

Er lacht. »Na dann, willkommen im Club. Die anonymen Freaks …«

Und in dem Moment, nach einem kurzen Blick, den wir wechseln, weiß ich, dass er mir die Story abkauft und mir helfen will.

»Okay, Miss Freak, was genau kann ich denn für dich tun?«