19

Als ich den Laptop einschalte, ist meine Sehnsucht nach der friedlichen Schönheit des Strandes stärker als je zuvor.

Es ist erst zehn Tage her, seit ich dort zum ersten Mal am Wasser entlangspaziert bin, und doch weiß ich schon jetzt nicht mehr, wie ich die Wirklichkeit ohne meinen Zufluchtsort am Soul Beach ertragen soll, ohne das Wunder, wieder die Stimme meiner Schwester zu hören.

Während die Seite lädt, wird mir klar, dass ich nicht weiß, wie ich Meggie von Tim erzählen soll. Soll ich es überhaupt versuchen? Hat sie ein Recht darauf, es zu erfahren, oder wird ihr das nur noch mehr Schmerz zufügen?

Und eigentlich gibt es doch auch noch gar nichts Richtiges zu erzählen. Hier geht es um Tim. Den ersten ihrer Freunde, der mich wie ein menschliches Wesen behandelt hat, anstatt nur wie Meggies nervige kleine Schwester. Er hat sich mit mir über die wichtigen Themen unterhalten: meine Pläne, meine Ziele, meine Ideen.

So verhält sich doch kein Mörder, oder?

Ich denke immer noch darüber nach, ob und wie ich es ihr beibringen soll, als der Strand erscheint – ich keuche auf.

Ich sehe Menschen.

Hunderte von wunderschönen Menschen.

Ich fühle mich wie bei einer Strandparty in einem Musikvideo: Jede Menge Sonnenanbeter sitzen um die Bambushütten oder planschen im türkisen Wasser. So viel also zu meinem ruhigen Zufluchtsort …

Ich bewege mich nicht, ich bin zu sehr damit beschäftigt zu starren. Jeder hier ist jung, genau wie Sam gesagt hat: Teenager und Leute Anfang zwanzig. Und nicht nur jung, sondern auch umwerfend gut aussehend. Es ist ein wahrer Regenbogen an Haar- und Hautfarben und alle tragen lässige, aber ziemlich schicke Klamotten. Die Jungs haben abgeschnittene Jeans oder weite Surfshorts an – Scheußlichkeiten wie hautenge Badehosen sind nirgends in Sicht – und obenrum blütenweiße T-Shirts, karierte Leinenhemden oder einfach gar nichts. Bei den Mädchen wird es bunter, Bikinis in leuchtenden Farben oder gemusterte Sommerkleidchen mit Spaghettiträgern. Sie alle schwimmen oder surfen oder sonnen sich einfach auf Strandtüchern.

Ich sehe einen Jungen mit Akustikgitarre, der einen Indie-Hit aus dem letzten Sommer singt. Seine Stimme klingt sexy, mit leichtem Akzent. Russisch? Oder tschechisch? Neben ihm sitzt ein japanisches Mädchen und trommelt einen improvisierten Rhythmus auf ein paar Minibongos, während die anderen leise die Begleitung summen.

Ich glaube, leer war mir der Strand lieber. Irgendwie hat diese Perfektion etwas Verstörendes. Und das Unheimlichste ist, dass sie mir alle so bekannt vorkommen. Vermutlich liegt das an ihrem Modellook – und doch bin ich sicher, dass es noch etwas anderes ist. Auf irgendeiner tieferen Ebene habe ich das Gefühl, sie zu erkennen: durch ein Lidflattern, einen zum Schmollen verzogenen Mund, eine zurückgeworfene Haarsträhne.

Da drüben ist ein Junge, der mich an den Drum-’n’-Bass-DJ erinnert, den sie nach einer wilden Party tot in seinem Hotelzimmer gefunden haben. Und dieses deutsche Mädchen, das letztes Jahr dauernd in den Nachrichten war – das entführt worden war, weil eine Bande von Kriminellen hinter irgendeiner wissenschaftlichen Formel oder Erfindung ihres Vaters her war.

Ist sie jemals wieder aufgetaucht? Ich meine mich zu erinnern, dass ihr Ohr per Kurierdienst ins Labor ihres Vaters geliefert wurde.

Sie dreht sich um und sieht direkt durch mich hindurch. Nein, das Mädchen damals war ziemlich unscheinbar, selbst auf den Fotos, die ihre Eltern den Zeitungen gegeben hatten. Dieses hier ist dagegen ein richtiges Supermodel. Und sie hat noch beide Ohren …

Als ich mich durch die Menge bewege, fällt mir auf, dass alle durch mich hindurchsehen. Na ja, vielleicht bin ich es ja nicht wert, beachtet zu werden, mit meinem normalen Gesicht und meinem normalen Körper. Ihre Körper sind makellos: kein Sonnenbrand, keine Cellulite, nicht das kleinste Anzeichen, wie sie gestorben sind.

Und auch keine Meggie, nirgends. Ich halte Ausschau nach ihrem leuchtend blonden Alice-im-Wunderland-Haar. (Ginge es auf dieser Welt gerecht zu, hätte ich solche Haare haben müssen, passend zu meinem Namen, aber stattdessen habe ich diese blöden Wirbel, die noch nicht mal Mums Profi-Glätteisen bändigen kann.) Meine Schwester passt mit Sicherheit perfekt hierher, mit ihren Kurven und dem herzförmigen Gesicht, das niemals Make-up nötig hatte, nicht mal im grausamsten Scheinwerferlicht.

Aber wenn die Surfer und Sonnenanbeter hier alle tot sind, wo kommen denn dann bitte die normal aussehenden Teenies hin, wenn sie nicht mehr leben? Leute mit dicken Knöcheln oder viel zu krausem Haar? Bevor Meggie gestorben ist, habe ich nie über das Leben nach dem Tod nachgedacht, aber wenn es wirklich so was wie einen Jüngsten Tag geben sollte, müsste es da nicht eher um gute Taten gehen als um den größten Sex-Appeal?

»Florrie?«

Ich wirbele herum.

Oh mein Gott.

Da ist Meggie, hundertmal schöner als zuvor.

Die Sonne hat ihr Haar ausgebleicht, sodass sie nun noch blonder ist als auf dem Babyfoto, das Mum auf den Kaminsims gestellt hat. Normalerweise muss Meggie nur mal kurz in die Sonne blinzeln, um sofort knallrot zu werden – ihr einziger Makel –, jetzt aber haben nur ihre Wangen die Farbe zarter Rosen. Ihr Körper hat eine perfekte Bronzetönung angenommen, die wie aufgesprüht wirkt.

Gleichzeitig strecken wir die Hände aus, um einander zu berühren … aber ich fühle nur den Bildschirm und ihre Hand fällt wie ein Stein durch die Luft.

»Oh, Meggie, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.«

Sie kämpft mit der Antwort, streckt abermals die Arme nach mir aus, aber natürlich ist dort auch diesmal nichts. Selbst wenn wir nicht bloß online miteinander in Kontakt wären, habe ich schon genug Filme über Geister gesehen, um zu wissen, dass man sie nicht spüren kann, vielleicht mit Ausnahme eines halb eingebildeten Atemzugs, der das Ohr streift, oder ihrer Blicke, die einem folgen.

»Verdammt«, sagt sie und weicht zurück, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. »Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Du siehst einfach so echt aus, das ist alles.«

»Wirklich?«

»Ja, absolut. Ich hatte Angst, dass du verschwommen bleiben würdest, aber das bist du nicht. Du bist wirklich hier. Am Strand. Bei mir.«

Erst jetzt merke ich, dass das Licht an der Webcam meines Laptops zum ersten Mal leuchtet, seit ich am Soul Beach bin. Also hockt ein Teil von mir hier mit krummem Rücken vor dem Bildschirm und ein virtuelles Ich steht dort im Sand. Ich versuche, das alles zu verstehen. »Was habe ich denn an?«

»Ach, das Übliche«, antwortet Meggie. »Also das, was hier üblich ist. Heute trägst du ein leuchtend rotes T-Shirt, das deine Augen grüner wirken lässt, und einen kurzen Jeansrock, der deine sehr hübschen gebräunten Knie betont.«

»Die sind doch überhaupt nicht braun. Das Wetter war diesen Sommer totaler Mist.« Wobei ich das auch nur aus der Zeitung weiß; ich habe ja kaum das Haus verlassen.

»Tja, für mich siehst du jedenfalls ziemlich knackig aus, Florrie. Aber na ja, hier sehen ja alle knackig aus.«

»Ist mir auch schon aufgefallen. Und wenn man eine totale Hackfresse hat, wo kommt man dann hin? Haben die Hässlichen ihren eigenen Himmel?«

Sie guckt ernst. »Ich habe gehört, der ist auf ’nem Müllhaufen, und wenn man hinkommt, muss man sich seine Klamotten erst mal zwischen den ganzen Konservendosen und verfaulten Essensresten hervorsuchen.«

»Im Ernst?«

»Mein Gott, Florrie, du glaubst einem auch immer noch alles, was? Nein, es gibt kein Casting, um an den Soul Beach zu kommen. Das Gute am Totsein ist, dass man mit einem Mal perfekt ist. Hier, guck …«, sie hebt das Handgelenk, »… meine Trampolinnarbe.« Sie lässt den Finger über die vollkommene, haarlose Haut gleiten.

Ich sehe noch mal genauer hin. »Sie ist nicht mehr da.«

Sie lacht. »Nein. Und ich hab auch keinen einzigen Pickel mehr. Keine Periode, kein PMS, keine Kopfschmerzen, keinen Kater. Natürlich gibt’s hier genug Alkohol, aber der hat keine negativen Auswirkungen und nach einer Weile betrinken sich die Leute gar nicht mehr, weil sowieso schon alles so verdammt wunderbar ist.«

Plötzlich fällt mir ein seltsam schriller Unterton in ihrer Stimme auf.

»Saufen, so viel man will, und trotzdem schießt sich keiner ab?«

Meggie nickt in Richtung einer Gruppe skandinavisch aussehender blonder Jugendlicher, die ein Stück entfernt auf einer Decke sitzen und picknicken. »Guck mal genau hin. Was siehst du?«

Ich starre sie ewig lange an und versuche, darauf zu kommen, warum sie mir so ein unbehagliches Gefühl einflößen. Das Picknick ist unglaublich üppig, mit leuchtend grünen Salaten, frischen, saftigen Pfirsichen und Nektarinen, gegrillten Hamburgern und Hühnchen, Baguette, Schokoladenkuchen, Erdbeeren und Sahne.

Zum ersten Mal seit Tagen, nein, seit Monaten, verspüre ich richtig Hunger; mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Und dann erst die Getränke: Karaffen mit rubinroter Sangria, in der Orangenscheiben und Eiswürfel schwimmen, ein ganzer Eimer voller Bierdosen, Weißwein in beschlagenen Flaschen.

Dann begreife ich, was an diesem Bild nicht stimmt.

»Die trinken ja gar nichts. Und essen tun sie auch nicht. Sind die auf Drogen?«

»Nein«, antwortet Meggie. »Nach einer Weile … das ist schwer zu erklären. Irgendwann befriedigt es einen einfach nicht mehr so wie früher. Hat wahrscheinlich was damit zu tun, dass wir nicht mehr lebendig sind.«

Mir kommt ein anderer Gedanke – ein etwas unbehaglicher. »Und was ist mit Sex?«

Jetzt lacht sie laut heraus, ihre Anspannung löst sich. »Tja, das gibt es auf jeden Fall. Ohne Risiko und immer, wenn man Lust darauf hat, besonders mit den ganzen Neuen, die gerade erst hergekommen sind. Die flippen total aus, sobald ihnen klar wird, dass man hier keine Kondome braucht – keine Krankheiten, keine ungewollten Schwangerschaften.«

Ich versuche nicht darüber nachzudenken, ob meine Schwester wohl zu Beginn auch so wild unterwegs war. »Aber könnt ihr Berührungen denn wirklich spüren? Zwischen Geistern, meine ich.«

»Psst!« Sie guckt entsetzt. »Benutz ja dieses Wort nicht. Wir sind keine Geister. Ich weiß zwar nicht, was wir sind – verlorene Seelen vielleicht? –, aber auf jeden Fall keine Geister.«

»Tut mir leid.«

Meggie lächelt. »Muss es nicht. Ist schon alles komisch anfangs, oder? Also, ja, Sex fühlt sich hier auch gut an. Ist natürlich nicht dasselbe, ein bisschen … distanziert, irgendwie. Weißt du, wenn man jemanden zum ersten Mal küsst, dann ist es doch bei jedem anders, auch wenn es ja eigentlich auch nur eine Variation desselben schlabbrigen Themas ist, stimmt’s?«

Ich habe überhaupt erst zwei Jungen geküsst, aber das muss ich ihr ja nicht auf die Nase binden. »Hmm?«

»Sex ist hier so leicht zu bekommen und … immer so gleich, dass ich manchmal etwas Echtes vermisse, und wenn es auch nur so alltäglich und unappetitlich ist wie ein Zungenkuss. Außerdem ist es komisch, dass alle hier so gut aussehen. Unterschiedliche Farben, unterschiedliche Frisuren … aber trotzdem ist da so eine gruselige Ähnlichkeit, als wären wir alle Schaufensterpuppen. Na ja … Schaufensterpuppen, die vögeln können bis zum Umfallen.«

»Meggie! So versaut warst du doch früher nicht.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Liegt wohl an meinem Umgang. Apropos, willst du meine neuen besten Freunde kennenlernen?«