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Lewis verlässt mich mit mehr als vagen Informationen über Triti. Doch dass er so wenige Anhaltspunkte hat, scheint ihn eher zu motivieren als zu frustrieren. Als ich mich bei ihm dafür entschuldige, sagt er nur: »Wayne interessiert’s?«, und geht.

Ich wünschte, ich könnte mitkommen. Stattdessen mache ich mich bereit für die nächste Tortur: die Fernsehsendung.

Dad hat gedroht, heute Abend auszugehen, bis er meinen flehenden Blick auffing, der besagte: Ich brauche dich hier.

Und jetzt sitzen wir im Wohnzimmer und warten auf den großen Augenblick und auf die Pizza, die wir bestellt haben (Imbissessen an zwei Abenden hintereinander! Das hätte Mum früher nie zugelassen). Die ganze Situation hat etwas gruselig Vertrautes und dann fällt mir auch ein, warum. Genau so war es letztes Jahr um diese Zeit, bis hin zu unserer Pizzabestellung: Quattro Formaggi für Mum, Diavolo für Dad und Mediterrana für mich. Der Typ am Telefon wollte mir auch noch, basierend auf unseren früheren Bestellungen, eine Pizza Caprese andrehen.

Aber die war für Meggie gewesen.

Tim hatte damals, an diesem Abend, keine Umstände machen wollen und gesagt, er würde einfach Knoblauchbrot nehmen und vielleicht mal ein Stück von unseren Pizzen probieren, falls jemand nicht mehr mochte.

Wir waren natürlich am Vorabend bei der Aufzeichnung dabei gewesen, daher wussten wir, wie die Sendung enden würde. Trotzdem warteten wir nervös darauf, wie Meggie wohl auf dem Bildschirm aussehen würde. Wir fanden sie selbstverständlich wunderbar, sie war von allen Kandidaten mit Abstand die beste, aber sahen alle anderen das genauso?

Meggie war zur Übertragungsparty eingeladen gewesen, aber lieber bei uns geblieben. Das war, bevor die vielen Premieren- und Release-Partys ihr total den Kopf verdrehten und wir sie nicht mehr so oft sahen. Na ja, aber wer kann es ihr schon verübeln, dass sie die Aufmerksamkeit genossen hat? Schließlich hatte sie davon immer geträumt.

Mein Dad fängt meinen Blick auf. »Sie sollte hier sein, bei uns, nicht?«

Ich warte darauf, dass meine Mum ihn anblafft, stattdessen aber nimmt sie den Ölzweig, als der Dads Aussage gemeint war. Sie nickt. »Vielleicht ist sie das ja auch. Manchmal fühle ich ihre Gegenwart, so als könnte sie es spüren, wenn wir sie brauchen.«

Dazu sage ich nichts, obwohl die Vorstellung von Meggie als supersüßem, superkitschigem Schutzengel nicht weiter von der Wirklichkeit entfernt sein könnte.

»Und jetzt auf ITV: der Beginn der dritten Staffel von Sing for Your Supper. Bleiben Sie dran für den ersten Vorgeschmack auf die Stars von morgen.«

Der Jingle des Sponsors erklingt und auf dem Bildschirm ist eine glückliche Familie in einem Wohnzimmer zu sehen, das unserem nicht unähnlich ist. Jedes Familienmitglied hat ein Tablett mit Essen vor sich: Der Teenie-Junge Würstchen mit Kartoffelpüree, das Mädchen ein unnatürlich buntes Pfannengericht, der Vater einen dunkelbraunen Eintopf und die Mutter scheint angesichts ihres schreiend orangefarbenen Chicken tikka masala kurz vor dem Orgasmus zu stehen.

»Dinner Deluxe präsentiert Ihnen Sing for Your Supper. Dinner Deluxe – der Hit für jeden Geschmack!«

Dann verschwindet die Familie mit ihren ekstatischen Grimassen, Musik ertönt und der Titel der Show erscheint. Ich erstarre. Diese übertrieben showmäßigen Klänge haben einmal so viel bedeutet. Sie verhießen, dass Meggie wirklich zu einem Star werden konnte, so wie es ihr vorbestimmt war.

Ich sehe zu meinen Eltern hinüber. Dad hat Mums Hand ergriffen und sie klammert sich an seine.

Ich frage mich, ob Tim wohl auch zusieht. Oder der Mörder. Oder ob sie ein und derselbe Mensch sind.

Die Schrift auf dem Bildschirm verblasst und das Studio erscheint: Alles ist in Rot, Schwarz und Silber gehalten, wie in einem potthässlichen Nachtclub. Die beiden Moderatoren – sie ein ehemaliges Model, er ein Schauspieler mittleren Alters, der früher Shakespeare-Rollen gespielt hat, bevor er sich stattdessen für Ruhm und Reichtum entschied – grinsen strahlend und lesen laut und mit übertriebenen Lippenbewegungen vom Teleprompter ab, als redeten sie mit einem Tauben. Aber vielleicht kann man auch nur noch so reden, wenn man derart stark aufgespritzte Lippen hat wie die beiden.

Sie rattern den üblichen Quatsch über Talent, Träume und Tagliatelle herunter. Das ist nämlich das Alleinstellungsmerkmal dieser bescheuerten Sendung: Sie verbindet zwei Dinge, auf die die Zuschauer gleichermaßen wild sind: Talent- und Kochshows. Jede Woche kochen die Teilnehmer füreinander, essen zusammen und bauen Beziehungen auf, die dann durch ihren Ehrgeiz zu gewinnen bis zum Äußersten auf die Probe gestellt werden.

Das Ganze ist natürlich ein totaler Fake. Meggie hat uns erzählt, dass die Kandidaten in dem Haus kein Wort miteinander gesprochen haben, sobald die Kameras nicht mehr liefen, und dass nach den Kochsequenzen mindestens ein oder zwei der Teilnehmer sofort aufs Klo verschwanden, um ihr Essen wieder loszuwerden, bevor sich auch nur eine einzige Kalorie an ihren Hüften ansiedeln konnte. In der Sendung waren Essstörungen natürlich nie Thema, aber hinter den Kulissen waren sie überaus präsent. Mädchen wie Jungen hatten eine Heidenpanik vor jedem Zentimeter zu viel, der auf dem Bildschirm zu sehen sein und so ihre Chancen auf den Sieg zunichtemachen könnte. Selbst Meggie hatte zum Ende der Staffel hin eine Diät angefangen, weil sie einfach immer paranoider wegen ihrer Figur wurde.

Und schon muss ich wieder an Triti denken.

Es folgt ein Kameraschwenk über die Teilnehmer der diesjährigen Staffel – fünfzig Sänger und Gruppen insgesamt. Sogar jetzt schon ist leicht zu erkennen, wer nur dabei ist, damit die Leute etwas zu lachen haben, und wer das brutale K.-o.-System, nach dem auch am Ende der ersten Sendung ausgesiebt wird, tatsächlich übersteht. Die Hälfte dieser Kandidaten wird heute Abend mit geplatzten Träumen nach Hause gehen. Vielleicht sind ja in Wirklichkeit sie die Glücklichen, denn mir scheint, als würde in dieser Sendung jeder Person außer einer einzigen das Herz gebrochen, und das nur zu unserer Unterhaltung. Und manchen, so wie Meggie, könnte es noch viel schlechter ergehen.

Großaufnahme der beiden Moderatoren. Oje, ernste Gesichter. Es geht los …

»Natürlich ist dies für uns ein überaus glücklicher Moment, weil wir auf Ihre Bildschirme zurückkehren dürfen, aber in diesem Jahr wird diese Freude überschattet von einem sehr traurigen Ereignis«, sagt der Schauspieler. »Oh ja.« Das Model nickt aufrichtig, wobei ihre Brüste in dem engen Kleid auf- und abhüpfen. »Ich weiß, dass jeder, der diese Sendung genauso liebt wie wir, heute Abend an eine unserer talentiertesten und beliebtesten Kandidatinnen denken wird. Das Mädchen, das unsere Herzen mit den ersten Tönen, die es sang, erobert hat. Das Mädchen, das in Großbritannien und auf der ganzen Welt als die Nachtigall bekannt wurde.«

Das Orchester spielt leise Musik: die ersten Akkorde von Amazing Grace. Es folgt ein Einspieler von Meggie aus jener ersten Show, aber sie haben irgendetwas mit dem Video angestellt, sodass es leicht verblasst und an den Rändern verschwommen wirkt. Sie sieht so frisch und perfekt aus wie immer – Lewis hat totalen Blödsinn geredet, als er meinte, sie hätte allenfalls ganz gut ausgesehen –, aber der Effekt lässt sie wie einen Star der Zwanziger- oder Dreißigerjahre wirken. Wie eine Ikone.

»Meggie Forster war ein einzigartiges Talent«, deklamiert der Schauspieler in demselben Ton, den er auch als Hamlet benutzt haben muss. »Und sie ist viel zu jung von uns gegangen. Wir werden während der gesamten Staffel an sie denken, aber ganz besonders heute Abend wollen wir uns gemeinsam an sie erinnern. Danke, Meggie, für alles, was du uns und unseren Zuschauern geschenkt hast.«

Oh ja, denke ich. Dir hat sie jedenfalls eine ordentliche Gehaltserhöhung geschenkt. Die erste Staffel war nämlich die totale Pleite. Erst als die Zeitungen in der zweiten Staffel anfingen, von der Nachtigall zu schwärmen, schalteten die Leute ein, von Australien bis Zimbabwe.

»Verständlicherweise sahen sich Meggies Eltern und ihre Schwester nicht in der Lage, heute Abend hier bei uns im Publikum zu sitzen«, sagt das Model und setzt einen so angestrengt mitfühlenden Blick auf, dass ihr fast die Augen aus den Höhlen springen.

»Die haben tatsächlich gefragt?«, schnaubt Dad und Mum nickt, die Augenbrauen hochgezogen.

»Aber Meggies Mutter, Beatrice, hat sich bereit erklärt, mit uns über die sechs Monate zu sprechen, die vergangen sind, seit sie ihre Tochter verloren hat, und darüber, wie sehr es ihr in ihrer Trauer hilft zu wissen, dass sich Millionen Menschen an Meggie erinnern.«

Mum bekommt denselben weichen Effekt verpasst wie Meggie. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie zugenommen hat. Jedenfalls sieht sie mehr wie Meggies Schwester aus, als das Bild größer wird und sie in dem Sessel zeigt, auf dem ich mich gerade zusammengerollt habe.

»Schon in den ersten Wochen ihres Lebens«, erzählt Mum, »hatte ich so ein Gefühl, dass irgendwann einmal Millionen von Menschen mein kleines Mädchen kennen würden …«

Am Ende des Einspielers – der geschmackvoller geworden ist, als ich dachte, auch wenn es schon verdammt daneben war, wie die Boygroup, die auf dem zweiten Platz gelandet ist, zwischendurch für ihr neues Album geworben hat – liest der Schauspieler noch die Telefonnummer der Organisation Crimestoppers vor.

Als die Kamera in einen anderen Bereich des Studios schwenkt, wo das Model nun die Teilnehmer interviewt, schaltet Dad den Fernseher auf stumm. »Tja, das war’s also.«

»Ich weiß, du wolltest nicht, dass ich da mitmache, Glen, aber wer weiß, wozu es gut sein könnte? Vielleicht bekommt ja jemand ein schlechtes Gewissen und geht zur Polizei«, erklärt Mum.

Und wir wissen alle, welchen Jemand sie da im Sinn hat.

»So furchtbar war es wirklich nicht«, räumt Dad ein. »Was meinst du, Alice?«

»Hätte schlimmer sein können«, bestätige ich. Ich warte darauf, endlich in mein Zimmer und zum Strand gehen zu können, wo meine Schwester in der Gegenwart existiert und nicht nur in einer tragischen Vergangenheit.

Schweigend sitzen wir da. Ich weiß nicht, was in den Köpfen meiner Eltern vorgeht. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Was, wenn sie denken, dass die falsche Tochter gestorben ist?

Plötzlich steht Dad auf. »Die Pizza. Die haben gar keine Pizza gebracht. Ich ruf da mal an und mach denen Dampf.«

Ich will sagen, dass ich keinen Hunger mehr habe, aber er ist schon verschwunden.

»Ich gehe schon mal ins Bett, Mum.«

Sie steht auf und breitet die Arme aus. »Ich habe doch das Richtige getan, oder, Alice? Es ist so schwer zu sagen, was richtig und was falsch ist.«

Ich umarme sie und flüstere: »Natürlich, Mum. Du hast das großartig gemacht.« Dann mache ich mich los und gehe nach oben.

Ich habe vier neue SMS.

Cara schreibt: Halt durch, Süße. Lust auf einen Drink mit Felipe und mir später? Kannst du sicher brauchen.

Robbie schreibt: Hoffe, dir geht’s gut. Hab dich immer noch lieb, als Kumpel natürlich. Denke an dich, xx

Die nächste Nachricht stammt von einer Nummer, die ich nicht erkenne, dann aber fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Adrians Nummer zu speichern: Tim ist völlig fertig heute Abend. Er meldet sich bald, versprochen. Hab’s mir auch angeguckt und kann immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist. Sie wird immer eine Legende bleiben. Tut mir so leid, A x

Die letzte ist von Lewis: ICH HAB SIE. Triti, meine ich. Sag Bescheid, wenn du Zeit zum Reden hast.

Kein Mitgefühl. Keine Trauer. Er hat wahrscheinlich nicht mal daran gedacht, dass heute die Sendung lief.

Aber seine Nachricht ist die einzige, auf die ich gewartet habe, und die einzige, auf die ich sofort antworte.