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Am nächsten Morgen kommt mir das alles lächerlich vor: Natürlich bin ich nicht in Danny verliebt. Ich bin nur einsam und traurig und vielleicht hat das die Art peinliche Schwärmerei hervorgerufen, von der ich eigentlich angenommen hatte, seit der achten Klasse kuriert zu sein.

Trotzdem ist mir nicht nach meinem üblichen Strandspaziergang vor dem Frühstück zumute und so mache ich mich früher als sonst auf den Weg zur Schule. Es fällt niemandem auf. Dad ist schon unterwegs ins Büro – vermutlich, weil er da ungestört schlafen kann – und Mum führt irgendetwas im Schilde. Sie summt die ganze Zeit vor sich hin, das ist nie ein gutes Zeichen.

Als ich das Schultor erreiche, klingelt mein Handy. Nummer unterdrückt. Ich will schon die Mailbox rangehen lassen, als mir der panische Gedanke kommt, es könnte Meggie sein, die vor lauter Sorge, weil ich nicht am Strand aufgetaucht bin, von irgendeiner Art Soul-Beach-Nottelefon anruft.

»Alice? Bist du das?«

Eine Männerstimme. Und nicht falsch verbunden, sondern ein Mann, der meinen Namen kennt. Die vier Wörter fühlen sich an wie ein Tritt in die Rippen. Ich klappe beinahe zusammen.

»Wer ist da?«, flüstere ich, sobald ich wieder Luft bekomme.

Nervöses Lachen am anderen Ende. Ich will gerade auflegen, als der Mann sagt: »Ich bin’s, Adrian. Saharas Freund. Weißt du noch, aus dem Pub?«

Meine Angst verwandelt sich in Ärger. »Ja, natürlich. Aber hättest du mir nicht eine SMS schreiben können? Ich hab schon genug am Hals, auch ohne dass ich mir über unbekannte Anrufer Sorgen machen muss.«

»Tut mir wirklich leid, dass ich mich so aus heiterem Himmel bei dir melde«, sagt er und es klingt, als meinte er es ernst, weshalb sich mein Herzschlag ein bisschen beruhigt. »Und ja, ich weiß, dass dir das hier wahrscheinlich ziemlichen Stress bereitet, aber ich habe jemandem ein Versprechen gegeben, das dir vielleicht auch helfen könnte.«

»Wie denn?« Ich bin skeptisch, obwohl er wirklich ehrlich klingt.

»Sahara hat mir erzählt, dass du eigentlich in Greenwich warst, weil du zu Tim wolltest?«

Muss diese dumme Kuh sich denn überall einmischen? »Das hätte sie dir gar nicht erzählen sollen.«

Die Augenblicke in Meggies Zimmer stürzen wieder auf mich ein: die Dunkelheit, die Panik. Ich will nie wieder dort hin, nie wieder mit Sahara reden. Aber wenn ich es nicht tue, werde ich niemals erfahren …

»Hör zu, du hast ja recht, vielleicht hätte sie es mir nicht sagen dürfen.« Seine Stimme klingt immer noch ganz ruhig. »Und, na ja, wahrscheinlich war es auch nicht ganz richtig von mir, es Tim gegenüber zu erwähnen, aber ich habe ewig lange darüber nachgedacht und am Ende habe ich es eben doch getan. Und … also, er will mit dir reden.«

Ich stolpere rückwärts, bis ich die Schulmauer in meinem Rücken spüre. Mit einem Mal ist sie das Einzige, was mir noch solide vorkommt. Was hat meine Schwester gesagt? Er könnte dir vielleicht das eine oder andere sagen.

»Tim? Wann? Ich kann sofort kommen.« Bevor er es sich anders überlegt.

»Langsam, Alice. So einfach ist es leider nicht. Er ist sich ziemlich sicher, dass die Polizei ihn beschattet.«

»Was?«

Ellie aus meinem Medienwissenschaftskurs kommt vorbei und lächelt mir zu. Mir wird klar, wie normal ich ausnahmsweise wirken muss. Wie Hunderte andere Mädchen, die noch schnell mit einem Jungen telefonieren, bevor sie zum Unterricht flitzen.

»Ich weiß nicht, ob es stimmt oder ob er nur paranoid ist, aber seit sie ihn nach dem Verhör wieder freigelassen haben, verfolgen ihn ein paar Männer, sagt er zumindest. Außerdem parkt da immer so ein Auto vor unserem Haus. Um ehrlich zu sein, mich macht es auch ziemlich nervös.«

Es ist eine absurde Vorstellung: Detektive, die Tim von der Bibliothek zum Supermarkt an der Ecke und von dort zu dem schmierigen Café folgen, das er Starbucks immer vorgezogen hat. Die müssen sich doch zu Tode langweilen. Es sei denn, ich habe mich in ihm getäuscht und in Wirklichkeit foltert er den ganzen Tag lang Tauben und bereitet sich auf den nächsten Mord vor.

»Mein Gott.«

»Das muss gerade ein ziemlicher Schock sein, nach allem, was du durchgemacht hast.« Seine Stimme klingt so freundlich.

»Ein bisschen schon, ja.« Mir fällt wieder ein, was Sahara gesagt hat – dass die beiden sich wegen Tim streiten. »Glaubst du, dass er es getan hat, Adrian?«

Pause.

Um mich herum huschen die letzten Schüler ins Gebäude, unter dem wachsamen Blick der stellvertretenden Direktorin, die immer besonders scharf auf ein paar neue Namen für ihre Zuspätkommerliste ist, damit sie den Betreffenden eine Woche Schulhofdienst aufbrummen kann.

Adrian seufzt. »Ich würde sagen, ich bin zu neunundneunzig Prozent davon überzeugt, dass er unschuldig ist, sonst würde ich wohl kaum noch mit ihm zusammenwohnen wollen.« Er versucht zu lachen. »Da war ich allerdings auch der Einzige. Aber die Vorteile sind, dass er gut kocht und immer schön das Klo putzt. Putzen Mörder vielleicht das Klo?«

Ich ringe mir ein Lachen ab, frage mich aber insgeheim, wie Tim damit klarkommt, plötzlich so berüchtigt zu sein. Er hat nie gern im Mittelpunkt gestanden. »Und was ist mit dem einen Prozent? Dem Teil von dir, der sich nicht so sicher ist?«

»Die Sache ist die, Alice. Seit deine Schwester gestorben ist, bin ich mir bei nichts und niemandem mehr hundertprozentig sicher. Auch bei guten Freunden nicht.«

»Ich weiß genau, wie das ist.«

»Das kann ich mir vorstellen. Also, habe ich das Richtige getan? Das Letzte, was ich will, ist, dir noch mehr Kummer zu bereiten.«

»Ja, ja, auf jeden Fall. Danke. Ich will ihn definitiv sehen, also wie gehen wir jetzt weiter vor?«

»Er muss schauen, wann er sich sicher fühlt. Ich schicke dir dann eine SMS; er glaubt nämlich, dass sie auch sein Telefon anzapfen.«

»Dürfen die so was denn überhaupt?«

»Ich schätze mal, alles ist in Ordnung, solange sie meinen, dass es dabei hilft, Meggies Mörder zu fassen.«

Ich nicke gedankenverloren. »Kann sein. Dann meldet er sich bald, ja?«

»Ich rede mit ihm. Ich glaube, er hat ganz schön Bammel davor, dich zu treffen.«

»Vielen Dank, Adrian, dass du das für mich machst. Sag ihm … sag ihm, ich will nur die Wahrheit wissen.«

»Das wollen wir doch alle, Alice. Bis dann.«

Er legt auf und ich starre auf mein Handy, bis ich ein missbilligendes Schnauben höre und sehe, wie die stellvertretende Direktorin auf mich zukommt. »Nur weil du jetzt in der Oberstufe bist, heißt das noch lange nicht, dass du vom Schulhofdienst ausgeschlossen bist, Alice. Ich zähle bis drei, dann bist du drin. Eins …«

Ich sause durch das Tor, auch wenn mir der Schulhofdienst oder ein Eintrag ins Klassenbuch herzlich egal sind. Als ich vor Mr Bryants Klasse ankomme, warten alle anderen auch noch auf dem Flur, weil er anscheinend selbst spät dran ist.

Ellie stellt sich neben mich. »Na, hast du Samstag schon was vor?«

Ich starre sie ungläubig an. Außer Cara will niemand mehr etwas mit mir unternehmen und selbst sie ist kurz davor aufzugeben. Wahrscheinlich ist am Samstag irgendwo so eine blöde Facebook-Party, zu der sie mich einladen wollen, quasi als Sozialfall. Oder als Freakshow.

»Ich mache mir ’nen ruhigen Abend zu Hause, wie immer«, antworte ich und bete, dass Mr Bryant bald auftaucht. Als er es endlich tut, stoße ich einen erleichterten Seufzer aus, während er beim Kramen nach dem Schlüssel einen Stapel Papier fallen lässt.

Die anderen glotzen mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Nur, weil ich keine Lust habe, mich mit ihnen zu besaufen und dann die Annäherungsversuche unbeholfener Typen von der Jungenschule oder der verschwitzten großen Brüder meiner Klassenkameradinnen abwehren zu müssen.

Ich finde wirklich nicht, dass ich hier der Freak bin.