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Die Seite lädt nicht sofort. Während ich warte, scheint sich das Rauschen der Wellen in meinen Lautsprechern immer weiter zu entfernen …

Ich bin in einer Strandhütte. Nein, in der Strandbar. Sie ist leer, aber es läuft Loungemusik, auf den ungefähr ein Dutzend Metalltischchen stehen grüne Bierflaschen mit roten exotischen Blumen darin und in der Luft liegt der Geruch von Mandarinen und Limetten. Mein Atem wird sofort ruhiger, als die verführerischen Düfte meine Lungen erfüllen.

Düfte?

»Alice, stimmt’s?«

Ich fahre herum und sehe ein Mädchen hinter der Theke stehen.

Ein Mensch! Oder zumindest eine Halluzination in Menschengestalt.

Als ich sie genauer betrachte, stelle ich fest, dass sie älter ist, als ich zuerst dachte, Ende zwanzig vielleicht, mit dunklen Dreadlocks, verschmitztem Blick und einem geradezu schmerzhaft detaillierten keltischen Tattoo, das sich über ihren dünnen linken Arm bis unter den Spaghettiträger ihres grünen Tops zieht. Sie sieht aus wie eine Art Grunge-Fee.

»Wer bist du denn?«

»Ich heiße Sam.« Sie winkt mir zu: Das halbe Dutzend silberner Ringe an ihren winzigen Fingern wirkt fast wie ein Schlagring.

»Woher wusstest du, wer ich bin? Und wieso kann ich dich sehen? Ich dachte, ich darf hier überhaupt niemanden sehen.«

Sie grinst und um ihre Augen bilden sich Lachfältchen. »Mich kann jeder sehen, auch die Besucher. Nur die Gäste kannst du noch nicht sehen.«

Sie hat einen Liverpooler Akzent, wie Mr Bryant. Ich frage mich, ob ich mich verhört habe. »Wen?«

»Die Gäste. So nennen wir die Leute hier. Die Toten.«

Ich zucke zusammen. »Ich dachte, wir dürften nicht über den Tod reden«, flüstere ich. »Was ist, wenn die Geschäftsleitung dich hört?«

Sie lacht, aber es wirkt nicht so, als lachte sie mich aus. Dann zieht sie eine Schachtel Zigaretten aus der Schürzentasche und zündet sich eine an. »Alice, ich bin die Geschäftsleitung.«

Ich starre sie an. »Du?«

»Na ja, nicht ich alleine und ich bin auch keins von den ganz hohen Tieren, aber ja, ich arbeite hier. Man könnte sagen, ich bin teils Barfrau, teils Mutter Oberin und teils Schulter zum Ausweinen. Hier braucht früher oder später jeder mal ’ne große Schwester.«

Sofort denke ich an meine eigene große Schwester. »Wo ist Meggie? Ihr ist doch nichts passiert, wegen dem, was ich gesagt habe, oder?«

»Nein, nein. Sie ist immer noch da. Die haben dich hierher zu mir geschickt, um dir die Gelegenheit zu geben, in Ruhe ein paar Fragen zu stellen. Ganz privat, ohne dass uns jemand zuhört.«

»Fragen? Was denn für welche?«

»Was immer du wissen willst, Schätzchen. Ich kann nicht behaupten, ich wüsste alles, aber ich werde mein Bestes geben.«

Ich kann nicht klar denken. Ich habe so viele Fragen.

»Ach, Alice, ich wünschte, ich könnte dir ’nen Drink einschenken.« Sie wirft einen Blick auf die Bar, die noch besser bestückt ist als die in dem schicken Club in Greenwich, in den mich Meggie am letzten Valentinstag geschmuggelt hat.

»Schon okay, ich hab hier Wasser.« Es ist eine regelrecht körperliche Anstrengung, meine Aufmerksamkeit vom Bildschirm zurück in die wirkliche Welt zu lenken, sodass ich einen Schluck trinken kann. Warum wirkt Soul Beach im Vergleich so viel lebendiger?

»Setzen wir uns«, fordert Sam mich auf und schüttet den Großteil des Inhalts einer Flasche Rotwein in ihr Glas, bevor sie mich zu einem Tisch führt.

Die Bar hat ein Dach aus Palmblättern, ist aber nach allen Seiten offen, und als ich mich setze, kann ich das Meer und den Horizont darüber sehen. Heute Abend leuchtet das Wasser saphirblau und die Sonne ist noch nicht untergegangen, deswegen weiß ich nicht, in welcher Zeitzone wir uns befinden.

»Also, was willst du wissen?«

Ich versuche, mich zu konzentrieren. »Okay. Warum ist Meggie hier?«

»Sie wurde doch ermordet, stimmt’s?«

Ich zucke zusammen. Es klingt immer noch so grauenhaft. »Ja. Weißt du, von wem?«

»Nein. Absolut nicht. Wir erfahren hier nur das Allergrundlegendste, aber um ehrlich zu sein, ist das auch gut so, weil ich nämlich ein echt beschissenes Gedächtnis habe. Und – nimm’s mir nicht übel, ich mag deine Schwester, sie ist echt witzig – es sind einfach so viele, und jeder hat ’ne interessante Story, also wird’s nach ’ner Weile ganz schön schwierig, sich zu erinnern, wer wer ist, ganz zu schweigen davon, wie sie hergekommen sind.«

»Was, echt?«

Sie nickt. »Ich weiß, jetzt denkst du, was für ’ne miese, abgebrühte Kuh. Aber im Ernst, wenn man den Leuten hier wirklich bei der Eingewöhnung helfen will, muss man in erster Linie dafür sorgen, dass sie vergessen, warum sie hier sind, und sich auf … na ja, auf das Leben nach dem Tod konzentrieren.«

»Das heißt, wir sind wirklich im Himmel?«

Sam schüttelt den Kopf. »Nicht ganz. Also, pass auf, das meiste, was wir erzählt bekommen, ist mehr oder weniger topsecret. Aber hast du schon mal den Begriff Limbus gehört?«

»Dieser Heiligenschein, den Leute auf so alten Bildern immer um den Kopf haben?«

Sam lächelt. »Nein, nicht Nimbus. Limbus. Es gibt da diese Vorstellung, dass es eine Art … Wartezimmer zwischen dem Leben auf der Erde und dem Jenseits gibt. Oder einen Läuterungsprozess. Je nach Religion.«

»Läuterung? Wie im Fegefeuer? Also hat Meggie irgendwas Falsches getan?«

Wieder schüttelt sie den Kopf; ihre mit Perlen verzierten Dreadlocks schwingen fröhlich hin und her, was angesichts des Themas nicht gerade angemessen scheint. »Nein. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Mit diesem ganzen Jüngster-Tag-Kram habe ich aber auch nichts zu tun. Ist ’ne total andere Abteilung.«

»Du willst mir sagen, dass Gott Abteilungen hat?«

Sie verzieht das Gesicht. »’tschuldige, Schätzchen, das ist bloß mein seltsamer Humor. Hör mal. Ich kann einen super Long Island Ice Tea mixen, Schlägereien beenden und die Spülmaschine zum Laufen bringen, wenn sie verstopft ist, aber von den größeren Zusammenhängen habe ich leider keinen Schimmer.«

»Oh. Und was war dann das mit dem Limbus?«

Sam weicht meinem Blick aus. »Das habe ich bloß aufgeschnappt, bei diesen ganzen Gott-und-die-Welt-Diskussionen, die hier manchmal nächtelang abgehen. Was ich aber sicher weiß, ist, dass alle unsere Gäste unter ungeklärten Umständen gestorben sind. Mord. Selbstmord. Unfälle, die einem gar nicht mehr wie Unfälle vorkommen, wenn man genauer darüber nachdenkt. Ich weiß ja nicht, ob wir unser Haltbarkeitsdatum schon von Anfang an aufgedruckt bekommen wie ’ne Dose Ölsardinen, aber diese Kids sind auf jeden Fall zu früh gestorben oder es war Gewalt im Spiel. Keiner von ihnen ist friedlich eingeschlafen, so viel kann ich dir sagen.«

Ich denke an die Schlagzeilen über Meggie, sie haben sie Die schlafende Nachtigall genannt. Zoe, das Mädchen, das ihre Leiche gefunden hat, sagte, ihr Haar sei auf dem Kissen ausgebreitet gewesen wie ein Heiligenschein und ihre Haut gerötet, als habe sie ein bisschen zu viel Sonne abgekriegt. »Niemand?«

»Tja, das hier ist vielleicht nicht der Himmel, aber die Hölle ist es definitiv auch nicht«, erklärt Sam weiter. »Ich meine, guck dich mal um. Gratisessen. Gratisdrinks. Sonne nonstop und jede Menge hübsches Partyvolk. Gitarren für Jam-Sessions am Strand. Kein Stress. Volleyball.« Sie grinst. »Jede Menge Sachen, die die Kids vergessen lassen, was passiert ist.«

Wie gern hätte ich jetzt auch ein Glas Wein in der Hand. »Kids?«

»Ach ja, habe ich ganz vergessen. Du hast ja noch niemanden gesehen, stimmt’s?«

»Stimmt. Heißt das, das wird sich irgendwann ändern?«

»Ja, würde ich schon sagen. Das ist wie mit einem von diesen dämlichen 3-D-Bildern. Man muss bloß den Trick raushaben. Aber du kriegst es schon noch hin und dann siehst du auch, warum ich immer von Kids rede. Formulieren wir’s mal so: Verglichen mit den Gästen hier fühl ich mich wie ’ne alte Schachtel.« Sam wirft einen Blick auf ihre Uhr. »Ich würde sagen, das reicht für heute, Alice. Jetzt hast du erst mal ’ne Menge zu verdauen. Und du willst sicher auch zu deiner Schwester, oder?« Sie steht auf und schnappt sich ihr Glas und den Aschenbecher. Überrascht sehe ich, dass nach unserer Unterhaltung drei Zigarettenstummel darin liegen.

»Dann gilt im Limbus also noch kein Rauchverbot, ja?«, frage ich.

Sie lächelt. »Ich bin die einzige Nikotinsüchtige hier. Wir haben einen Kippenautomaten«, sie deutet in die Ecke, »aber der ist leer, weil es die Gäste gar nicht interessiert.«

»Sam? Eins noch.«

Sie bleibt auf halbem Weg zur Theke stehen. »Ja?«

»Wenn die Gäste ihre Vergangenheit vergessen sollen, was mache ich dann hier?«

»Hm …« Sie kommt wieder zurück, noch immer das Glas und den Aschenbecher in der Hand. »Manchmal können sie es einfach nicht hinnehmen. Dieses Leben für den Moment.«

»Also soll ich Meggie helfen, ihr Schicksal zu akzeptieren?«

»So was in der Art.« Sie wirkt unruhig. »Wie gesagt, ich weiß auch nicht auf alles eine Antwort. Und in diesem speziellen Fall hab ich genauso wenig Ahnung wie du.«

Ich habe den Verdacht, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, aber sie wendet sich ab, bevor ich noch weitere Fragen stellen kann.

»Danke«, sage ich und Sam, die schon angefangen hat, die Theke zu polieren, sieht noch einmal auf.

»Jederzeit gern, Schätzchen. Megan ist am Steg, glaub ich.«

Das ist eine ziemlich deutliche Aufforderung zum Gehen. Ich laufe die zwei Stufen von der Bar zum Strand hinunter, und als ich mich noch einmal umdrehe, flirrt Sams Silhouette ein bisschen, so als wäre zwischen uns eine Art Hitzedunst aufgestiegen. Sie summt die Musik mit.

»Sam?«

»Mmh?« Sie blickt nicht auf.

»Du bist … Du bist doch kein Engel, oder?«

Jetzt hebt sie doch den Kopf. Ihr Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen und dann bricht sie in Gelächter aus. Es klingt melodisch, fast wirklich ein bisschen wie das eines Engels, denke ich. Aber sie schüttelt den Kopf und kann gar nicht mehr aufhören zu kichern. Als sie sich schließlich wieder beruhigt, ringt sie nach Luft.

»Ach, Alice, du bist wirklich zu putzig. Wer hat denn jemals von ’nem Engel aus Liverpool gehört?«