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»Meggie?« Ich flüstere ihren Namen, kann einfach nicht glauben, dass sie es ist.

Keine Antwort. Vielleicht habe ich nicht laut genug gesprochen. Ich rücke näher an das Mikro meines Laptops. »Meggie?«

»Florrie …« Nicht lauter als ein Murmeln. Sie klingt anders. Ausdrucksloser, weniger lebendig, gar nicht wie meine Schwester. Wieder schießt mir die Möglichkeit, dass sie nur eine Betrügerin ist, dass das Ganze nichts als ein kranker Witz ist, durch den Kopf wie eine Kugel durch den Flipperautomaten, aber ich schiebe den Gedanken beiseite. Niemand würde sich so viel Mühe machen. Das wäre zu verrückt.

Verrückter als über eine Website mit Toten zu kommunizieren?

»Bist du wirklich da, Meggie?«

»Klar. Ich dachte schon, du würdest nie hier auftauchen.«

Das klingt schon eher nach ihr. »Wo bist du, Meggie?«

Jetzt höre ich einen sehr meggietypischen Seufzer. »Ach, Mist. Dann hatten sie also recht.«

»Sie?«

»Die anderen. Sie meinten, du könntest uns am Anfang nicht sehen.«

»Ich sehe nur einen leeren Strand.« So leer, dass ich mir vorkomme wie am Ende der Welt.

»Komisch. Dabei sind heute Morgen so viele von uns hier. Links von dir machen die Philosophen ein Picknick. Und die Emos hocken auf dem großen Felsen und überlegen, ob sie springen sollen. Na ja, wenn sie’s tun, treiben sie eh nur wieder an die Wasseroberfläche wie lebensmüde Rettungsbojen. Was sie natürlich umso mehr anpisst.«

Emos? Picknicks? Tausend Fragen wirbeln mir durch den Kopf. Ich fange mit der wichtigsten an: »Wo bist du denn?«

»Direkt neben dir. Ich berühre deine rechte Hand.«

Ich sehe hinunter auf meine Hand, die sich um die Maus klammert. »Ich fühle gar nichts.«

»Na, wie denn bitte auch? Du bist auf einer Website, schon vergessen?« Das klingt jetzt so sehr nach großer Schwester, dass ich grinsen muss.

»Wo bist du jetzt, Meggie?«

»Ich hab mich nicht bewegt.«

»Nein, ich meine: Wo bist du? Wo ist … das alles hier?«

Ein tiefer Seufzer dringt aus meinen Lautsprechern. Auf dem Bildschirm bricht sich eine riesige Welle am Strand und ich meine, einen kurzen Blick auf eine menschliche Silhouette davor zu erhaschen, im nächsten Moment aber löst sie sich auf wie ein Hauch von Meeresgischt.

»Du bist immer noch genau so wie mit vier. Warum muss der Mann im Mond nie blinzeln? Wieso ist Käse gelb, wenn Milch doch weiß ist? Warum haben Menschen keine Flügel? Also, ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich hier bin. Die Philosophen diskutieren natürlich andauernd darüber, aber das entspricht nicht gerade meiner Vorstellung von Spaß.«

»Kann es sein, dass du im Himmel bist?«

Ich weiß, das ist Blödsinn, aber ich schwöre, ich kann ihren Atem an meinem Hals spüren, als sie lacht. »Vielleicht. Eine Art Paradies ist es auf jeden Fall. Wir witzeln immer, dass der ganze Laden wahrscheinlich irgend so einer kitschigen Ferienanlage für Hochzeitsreisende nachempfunden ist. Danny war schon so ziemlich überall in der Karibik und meint, dass es hier genauso aussieht, aber Triti ist Inderin und meint, es erinnert sie eher an Goa.«

Danny? Triti? Ich hatte nicht erwartet, dass meine Schwester sich im Jenseits so amüsieren würde. Die ganze Zeit war ich so einsam, und jetzt finde ich raus, dass sie schon wieder eine neue Clique um sich geschart hat.

»Und wer sind die Philosophen?« Ich durchforste mein Hirn. »Marx und Kant?«

»Ach Quatsch«, schnaubt sie. »Hier ist niemand alt. Das ist bloß unser Spitzname für diese krassen Typen, die sich weigern, mit uns anderen zu reden, weil sie immer noch nicht akzeptieren wollen, dass sie hier sind. Selbstmörder, schätzen wir.«

»Selbstmörder? Sind alle tot, da, wo du bist?«

»Na, was denkst denn du?«

Und da fällt mir auf, dass ich ihr die wichtigste Frage ja noch gar nicht gestellt habe. Die Frage, die mir keine Ruhe lässt, nicht mal in meinen Albträumen.

»Meggie? Wer hat dich umgebracht?«

Der Bildschirm friert ein. Der frühmorgendliche Nebel ist wieder da. Das Rauschen der Wellen verschwindet und alles verfärbt sich zu einem Blutrot in tausend Schattierungen, wie ein Sonnenuntergang nach einem Massaker.

DU HAST GEGEN DIE BESTIMMUNGEN VON SOULBEACH.ORG VERSTOSSEN. UNSERE GESCHÄFTSLEITUNG WIRD DIESE ÜBERTRETUNG PRÜFEN UND DIR IHRE ENTSCHEIDUNG INNERHALB VON SIEBEN TAGEN PER E-MAIL ZUKOMMEN LASSEN.

»Meggie?«, flüstere ich erst, dann schreie ich es. »MEGGIE!«

Aber ich bin wieder auf meiner Startseite, und als ich über den Link in der ersten Mail wieder zurückzukommen versuche, erklärt mir mein Browser nur:

Die Seite wurde nicht gefunden. Die gewünschte Seite wurde möglicherweise entfernt oder umbenannt oder sie ist vorübergehend nicht erreichbar.

»Alles in Ordnung da drin, Alice?«

Das ist meine Mutter, die von ihrer Trauerhilfegruppe zurück ist. Einen Moment lang stelle ich mir vor, ich würde ihr sagen, dass nichts in Ordnung ist und warum. Allein bei dem Gedanken muss ich hysterisch lachen. »Mir geht’s gut, Mum. Alles okay.«

Aber mir geht es alles andere als gut. Ich habe gerade zum zweiten Mal meine Schwester verloren und ich weiß nicht, ob ich das noch einmal ertrage.