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Heute Abend lauert die Presse vor dem Haus. Dad wartet, bis er meint, dass so ziemlich alles versammelt ist – die Lokalreporter, dieser Typ von der Sun, der direkt um die Ecke wohnt, zwei Kameramänner, die mittlerweile schon so oft hier waren, dass ich wette, sie haben unsere Adresse in ihrem Navi unter Zu Hause gespeichert –, und marschiert dann raus vor die Doppelgarage, wo er schon öfter seine Minipressekonferenzen abgehalten hat.

»Ich verstehe selbstverständlich, dass Sie alle nur Ihre Arbeit machen wollen, aber wie immer werden wir auch diesmal keinen Kommentar abgeben, außer, dass wir für die guten Wünsche, die uns weiterhin erreichen, sehr dankbar sind und dass wir alle auf eine Entwicklung der Dinge hoffen, die dazu führt, das Rätsel um den Tod unserer geliebten Tochter aufzuklären. Um alle weiteren Fragen wird sich die Presseabteilung der Polizei kümmern. Und nun würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie uns unseren Frieden lassen, ganz besonders unserer Tochter Alice. Vielen Dank.«

Er ignoriert die Rufe, wie wir uns jetzt fühlen und ob wir Tim für schuldig halten, und kommt zurück ins Haus. Ich stehe in der Küche und mache mir ein Sandwich. Mum ist bei ihrer Trauergruppe. Ich wette, sie ist heute der Star des Abends.

»Wie geht’s dir, Alice?«, fragt Dad und gießt sich ein ziemlich großes Glas Wein ein. »Willst du auch eins?«

So was bietet er mir normalerweise nicht an. Ich hatte eigentlich einen spätabendlichen Besuch am Soul Beach geplant, aber er wirkt, als könnte er ein bisschen Gesellschaft vertragen. »Okay.«

Er gießt mir wesentlich weniger ein und wir setzen uns ins Esszimmer, weil das Wohnzimmer ein Panoramafenster hat und wir uns stillschweigend darüber einig sind, dass es nicht gut wäre, wenn die Reporter uns so sehen würden. Nach tragischem Tod der Nachtigall: Minderjährige Schwester hat ernstes Alkoholproblem ist eine Schlagzeile, auf die wir gut verzichten können.

»Ist schon eine ganze Weile her, seit wir uns mal richtig unterhalten haben«, sagt Dad.

»Hmm.«

»Diese Geschichte mit Tim. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Junge gewalttätig ist. Ja, deine Mutter sagt immer, man kann nie wissen, wozu die Leute fähig sind, aber mir kommt es so vor, als ob die Polizei sich an Strohhalme klammert.«

»Tja.« Was will er denn von mir hören?

»Du denkst doch nicht, dass er Megan getötet hat, oder?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Es ergibt doch keinen Sinn, dass er den Menschen tötet, den er geliebt hat. Und ich war übrigens nie in ihn verknallt, egal, was Mum behauptet.«

Natürlich ist er attraktiv – Meggie würde niemals mit einem hässlichen Jungen ausgehen. Er hat blassgraue Augen und braunes Haar, das immer ein bisschen verwuschelt ist und in der Sonne glutrot leuchtet. Ach ja, und eigentlich fast ständig einen Dreitagebart – nicht, weil er so ein Poser-Typ ist, sondern weil er den Kopf immer so voll hat, dass er einfach nicht daran denkt, sich täglich zu rasieren. Aber geflirtet haben wir nie. Wir mochten einander, nicht mehr und nicht weniger.

Dad lächelt. »Deine Mum redet manchmal Quatsch. Sie ist momentan … sehr verletzlich.«

»Ach, und ich etwa nicht?«

»Touché. Tut mir leid, Alice. In letzter Zeit rutschst du uns hier manchmal ein bisschen durch die Maschen und das ist nicht richtig. Wir machen es wieder gut. Wenn sich alles ein wenig beruhigt hat …«

»Das wird es nicht.«

Dad stützt die Hände auf die Knie, was bedeutet, dass er mir gleich irgendwelche Perlen der Weisheit offenbaren wird. So muss er das auch mit seinen Mandanten machen, wenn sie ein Haus kaufen: In Anbetracht der Fakten denke ich, es wäre geboten, uns noch einmal genauer mit der Problematik der gemeinsamen Grenze zu befassen …

»Alice, ich habe auch nicht gerade viel Vertrauen in den gemeinen Gesetzeshüter, aber die Detectives, die sich um Megans Fall kümmern, scheinen recht pfiffig und sie wollen ihn wirklich aufklären. Eines Tages, bald, ist das alles vorbei und wir können uns auf die schönen Erinnerungen an deine Schwester konzentrieren.«

»Wenn du das glaubst, bist du wirklich verrückt.«

Seine rechte Hand auf seinem Knie zuckt, aber er sagt nichts. Er nickt nur, also rede ich weiter.

»In der zehnten Klasse hatten wir in Medienwissenschaft ein Projekt über Belästigung durch die Presse. Da ging es um eine Familie mit einer ermordeten Tochter, die noch nicht mal berühmt war wie Meggie, und die Presse hat sie einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Erst der Prozess, dann die Wiederaufnahme des Verfahrens, dann die Jahrestage. Ein Jahr danach. Fünf Jahre danach. Zehn Jahre danach. Die Journalisten wollten jedes Mal einen Kommentar von ihnen hören, wenn irgendwo ein anderer Teenager umgebracht wurde. Bei uns wird es ganz genauso sein und wir können absolut nichts dagegen machen.«

Er trinkt einen Schluck Wein. Sein Gesicht ist aschgrau und so müde wie das meines Großvaters. Dad hat nicht eine Nacht anständig geschlafen, seit Meggie tot ist. Er denkt, er hätte bei ihr sein, sie beschützen müssen. Manchmal höre ich nachts die Treppe knarzen, wenn ihm klar wird, dass er mal wieder kein Auge zutun wird. Dann geht er nach unten und guckt Sky Sport ohne Ton. Dabei interessiert er sich noch nicht mal für Sport.

»Macht dich das nicht wütend, Dad?«

Er seufzt. »Was mich wütend macht, ist, dass ich früher zwei wunderschöne Töchter hatte, und jetzt habe ich nur noch eine. Was mich wütend macht, ist, dass irgendwer tatsächlich geglaubt hat, er hätte das Recht, Megans Leben auszulöschen. Die Presse«, er macht eine Geste in Richtung des Menschenauflaufs draußen, »ist ein Ärgernis, aber vielleicht erhalten sie wenigstens den Druck aufrecht, denjenigen zu finden, der es getan hat. Dafür kann ich ihnen verdammt viel verzeihen.«

Ich trinke einen Schluck Wein, nicht, weil mir danach ist, sondern weil es mir richtig erscheint. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass es Meggie gut geht. Oder, na ja, gut ist das falsche Wort, aber zumindest ist sie nicht allein.

Aber mir ist klar: Das ist mein Geheimnis. Das hier sind meine beiden Welten, eine so wichtig wie die andere, und ich bin es, die entscheiden muss, was Dad und Mum und Meggie erfahren dürfen und wovor ich sie besser schütze.

Ja, Soul Beach ist ein unglaublicher Segen, aber zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass es auch ein Fluch sein könnte …