31

Der Oktober stinkt nach Feuer und verrottendem Laub.

Nach Friedhof.

Aber der Strand verströmt denselben unglaublichen Geruch wie immer, ein verführerischer Cocktail aus Ozon, Früchtepunsch und von Seewasser umspültem Bambus.

»Welche Jahreszeit haben wir, Florrie?«

Meine Schwester und ich sitzen ein Stück von der Bar entfernt unter einer Palme, die so riesig ist, dass uns der schattige Bereich darunter wie ein Geheimversteck erscheint. Mittlerweile komme ich zwei-, dreimal am Tag her: morgens und nachmittags, und dann mache ich am Abend noch mal einen ganz kurzen Abstecher, bevor ich ins Bett gehe.

Das gehört genauso zu meiner täglichen Routine wie Zähneputzen, macht aber mehr Spaß. Und was Meggie angeht: Sie wirkt viel zufriedener als am Anfang, viel mehr wie sie selbst. Ich denke schon, dass das irgendwie an mir liegt.

»Ähm, das weißt du wirklich nicht?«

Sie öffnet die Augen. »Sieh dich doch mal um. Das Wetter hier ist immer gleich, da verliert man schon mal den Überblick. Egal, Sam in der Bar sagt, das ist auch besser so. Die Gäste, die jeden Tag mit einem neuen Strich im Sand markieren, akzeptieren nie, was geschehen ist.«

»Es ist Herbst. Oktober.«

»Meine Lieblingszeit. Da steht Weihnachten schon fast vor der Tür: Ihr Kinderlein, kommet, oh kommet doch all!«

Noch so etwas, das sich verändert hat: Meggie singt wieder. Tatsächlich kann man sie kaum noch davon abhalten.

Ich sage ihr nicht, dass Weihnachten dieses Jahr unerträglich sein wird, ohne sie.

»Hey, Leute!«, ruft sie Javier und dem Rest der Gang freudig zu, die gerade vorbeischlendern. »Wisst ihr was? Der Sommer ist vorbei!«

Jetzt kommen sie auf uns zu und ich bemühe mich, ein Lächeln aufzusetzen. Mir ist es lieber, wenn ich mit Meggie allein sein kann; nicht nur, weil Javier anstrengend ist und Danny mich verunsichert und ich mich in Tritis Gegenwart fett fühle. Sondern auch, weil ich jetzt weiß, wie die beiden Jungs gestorben sind, und die Bilder einfach nicht mehr aus dem Kopf bekomme: die mit den Trümmern von Dannys Flugzeug übersäte Wüste und dieser liebenswerte, ernste Javier von dem Foto, dessen Leben mit einem Sturz vom Dach einfach vorbei war.

»Findet ihr den Winter nicht auch einfach toll?«, fragt Meggie, während sich die anderen auf unserer Decke niederlassen. Oje. Sieht aus, als wollten sie länger bleiben. »Die dunklen Abende in gemütlichen Pubs. Halloween. Bonfire Night.«

»Und Diwali«, ergänzt Triti. »Das Lichterfest.«

»Thanksgiving«, sagt Danny. »Das beste Essen im ganzen Jahr. Ah, ich weiß noch, was für einen Hunger ich da immer hatte, und dann stieg mir irgendwann der Duft von Mums Truthahnbraten in die Nase. Mann, war das lecker.«

Javier zuckt mit den Schultern. »Ach, ich bin mehr der Strandtyp. Winter ist doch Mist. Man hockt immer nur im Haus, im trauten Familienkreis – uäh. Nicht mein Ding.«

Ich denke an seine Lüge, er sei ein Einzelkind gewesen. Womit war er sonst noch unehrlich?

»Jetzt spiel nicht den Griesgram«, rügt meine Schwester. »Klar ist der Sommer schön, aber zu viel von irgendwas ist ja wohl nie gut, wie wir alle wissen.« Sie lacht und die anderen fallen mit ein. »Erzähl mal, Schwesterherz. Haben sie in den Läden schon die Weihnachtsdeko aufgehängt?« Ihr Gesicht glüht wie das eines kleinen Kindes, das zum millionsten Mal die Geschichte hören will, wie die Rentiere über dem Dach in der Luft warten, während der Weihnachtsmann die Geschenke durch den Schornstein fallen lässt.

»Na ja, die Werbung hat auf jeden Fall schon angefangen«, antworte ich. Eigentlich habe ich versucht, die ganzen Z-Promis weitgehend zu ignorieren, die den Fernsehbildschirm zugrinsen, als hätten sie einen ganzen Schlitten voller Gute-Laune-Pillen geschluckt. Wenn ich bei meinen Eltern im Wohnzimmer sitze – was momentan selten genug vorkommt, weil die beiden kaum zur selben Zeit zu Hause sind –, starren wir zu solchen Gelegenheiten immer auf den Boden, wie wir es sonst nur bei Sexszenen in Filmen getan haben. Zurzeit sind uns Bilder von Familienfesten sogar noch unangenehmer als Erwachsenenfilme.

Plötzlich fällt mir ein, dass Meggie, wenn sie noch am Leben wäre, wahrscheinlich selbst in einem von diesen Filmchen auftauchen würde. Diese fürchterliche Boygroup, die nach ihr den zweiten Platz gemacht hat, wirbt jedenfalls für Frühstücksflocken und ein neues Karaokespiel.

»Erzähl mir alles, los, los!«, fordert sie und sogar Javier sieht interessiert auf.

Also lüge ich drauflos. Ich erzähle ihnen, was sie hören wollen, zumindest glaube ich das: von Geschäften voller Kürbislaternen und Hexenhüte, von Wetterberichten, die jetzt schon weiße Weihnachten versprechen, von den Plänen, an Silvester das größte Feuerwerk zu zünden, das London je gesehen hat. In Wirklichkeit bekomme ich kaum etwas von der Außenwelt mit und denke auch nicht an die Zukunft, wenn ich es vermeiden kann.

»Ein Feuerwerk«, sagt Triti wehmütig. »Könnt ihr euch vorstellen, wie toll das hier aussähe? Wenn es sich nachts im Meer spiegelt? Das wäre so was von cool!«

»Oh ja, und wie. Wenn die Cocktails strömen und die Feuerwerkskörper explodieren, gehen bestimmt auch die Leute ab wie die Raketen und reißen sich die Klamotten vom Leib. Und schwupp, haben wir einen ganzen Strand voller Exhibitionisten beim Mitternachtsschwimmen«, höhnt Javier. »Fantastisch.«

Zum ersten Mal, seit ich hier bin, kann ich Javier nur zustimmen. Nach allem, was ich so mitgekriegt habe, brauchen die meisten Gäste keinen Vorwand, um ihre neuen makellosen Körper zu präsentieren.

Während die anderen anfangen, von früheren Wintern zu schwärmen, sehe ich auf die Uhr und bin froh, die späte Stunde – es ist schon nach zwölf – vorschieben zu können, um zu gehen. »Sorry, Leute. Ich muss ins Bett.«

Javier sieht gar nicht erst auf, aber Danny schon. »Schade, ich hätte eigentlich gern noch mehr über deine Pläne gehört«, sagt er. »Deine wirklichen Pläne.«

So, wie er mich ansieht, frage ich mich, ob er weiß, dass ich lüge, um hier wegzukommen, auch wenn meine eigene Schwester es nicht zu bemerken scheint.

»Tja, ich komme ja morgen wieder, wie immer.«

Meggie steht auf und schenkt mir das wärmste aller Lächeln – es ist sogar noch strahlender als das, das sich immer auf ihrem Gesicht ausbreitete, wenn sie bei Sing for Your Supper in die nächste Runde gewählt worden war. »Meine kleine Schwester«, sagt sie und seufzt. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne dich machen würde, Florrie.«