15

Ich setze meinen Fuß in den Sand. Der Strand sieht immer noch leer aus, aber jetzt, da ich weiß, dass irgendwo Menschen im Weg stehen könnten, werden meine Schritte unsicher.

Auch wenn ich meinen Hintern in Wirklichkeit sicher auf meinem rosa Bürostuhl geparkt habe.

Ich lausche angestrengt auf Stimmen, drehe die Lautstärke voll auf, aber ich kann nichts hören. Stattdessen spüre ich dasselbe Kribbeln wie beim ersten Mal, als ich dort war. Es ist unmöglich, nicht vor Ehrfurcht vor diesem Ort zu erstarren, obwohl ich weiß, dass er gar nicht real ist.

Als ich auf den Steg zugehe, kann ich meine Schritte im Sand hören. Ich bewege die Maus schneller und die Schritte werden ebenfalls schneller, so als würde ich joggen. Ich schiebe die Maus weiter vor, bis ich ins Wasser renne und das Plätschern durch die Kopfhörer höre und auf dem Bildschirm sehe. Die Tröpfchen glitzern wie kleine Perlen in der Sonne.

»Ach, Florrie, du warst noch nie eine große Schwimmerin.«

Ich zucke zusammen. Zucke wirklich zusammen, auf dem Bildschirm. Komisch, dabei bin ich mir sicher, dass ich meine Maus gar nicht bewegt habe.

»Wo bist du?«

»Guck mal rauf.«

Ich blinzele hoch zum Steg und die Sonne brennt in meinen Augen. »Ich seh dich nicht.«

»Ja, jetzt weißt du mal, wie das ist. Eine ganze Woche, verdammt. Wo warst du? Ich lasse keine Ausrede außer einem heißen Date gelten.« Ihre Worte klingen fröhlich, aber ich höre die Verletztheit in ihrer Stimme.

»Diese Frage, die ich dir gestellt habe … über das, was passiert ist …« Ich halte inne, wage es nicht, noch mehr zu sagen. »Na ja, damit habe ich gegen die Regeln verstoßen, stimmt’s? Auch wenn ich gar nicht wusste, dass es überhaupt welche gibt.«

»Ja. Falls es dich tröstet, ich habe mal ein bisschen rumgefragt. Du bist nicht die Erste, der das passiert ist.« Meggie kichert. Dieses Kichern hat vier Millionen Menschen dazu getrieben, zum Hörer zu greifen und über eine komplett überteuerte Telefonhotline für sie abzustimmen. Ich hatte ganz vergessen, wie liebenswert es klingt. »Das ist so was wie ein Running Gag. Die denken sich hier andauernd neue Regeln aus.«

Ich beschließe, ihr nicht von Sams Lektion zu erzählen. »Ja, der Gedanke kam mir auch schon.«

»Sei vorsichtig, Florrie. Geh es langsam an. Wenn du wieder rausgeschmissen wirst, darfst du nie mehr wiederkommen, und ich weiß nicht, ob ich es hier so ganz allein aushalte – für immer.« Bei den Worten für immer bricht ihre Stimme.

Angesichts dieser plötzlichen Verzweiflung würde ich am liebsten anfangen zu weinen, aber ich muss die Kontrolle behalten. »Du weißt aber schon, dass du, äh, nicht mehr lebst?«

»Natürlich«, zischt sie. »Aber ich will nicht drüber reden.«

»Schön, worüber willst du denn dann reden? Das Wetter? Meine Mathehausaufgaben?«

»Nicht böse sein, Florrie. Das ist doch alles nicht meine Schuld.«

Ich schlucke. »Ich weiß. Aber es ist einfach so frustrierend. Ich kann dich nicht sehen. Ich weiß nicht, wo du bist. Ich weiß nicht, wie es dir geht.«

Eine lange Pause entsteht. Unter dem Rauschen der Wellen kann ich, da bin ich mir sicher, leises Geplauder ausmachen, wie ein Theaterpublikum, das auf den Beginn des Stücks wartet.

»Okay. Du willst es also wissen, ja? Was passiert ist.«

Ich halte den Atem an. Ist das jetzt in Ordnung, wenn sie es mir erzählt? Immerhin hat sie das Gespräch ja initiiert, so wie die Geschäftsleitung es in ihren Regeln verlangt.

Von den Regeln mal abgesehen – bin ich überhaupt bereit für das hier? Sechs Monate lang mussten wir damit leben, dass wir nicht wussten, was in ihren letzten paar Stunden auf der Welt passiert ist. Dass wir nicht wussten, ob sie sich gewehrt hat, ob sie Schmerzen hatte. Und werde ich jetzt damit leben können, etwas zu wissen, was niemand sonst weiß? Aber dies könnte meine einzige Chance sein, und das Rätsel, wer sie getötet hat, verfolgt mich jetzt schon so lange. Ich muss einfach fragen.

»Wer war es, Meggie?«

»Du meinst, wer mich getötet hat?«

Ich warte darauf, dass der Bildschirm schwarz wird. Dass ich wieder ins Cyber-Nichts geschleudert werde. Aber nichts geschieht, also wiederhole ich ihre Worte. »Ja. Wer hat dich getötet?«