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Als ich nach Hause komme, parken zwei dunkle Kombis in unserer Auffahrt. Wahrscheinlich hat Mum mal wieder ein paar von ihren Trauerkameraden eingeladen.

Ich ziehe meine Schuhe schon draußen im Windfang aus, in der Hoffnung, mich unbemerkt reinschleichen zu können, aber noch bevor ich dazu komme, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, reißt meine Mutter mit einem derart manischen Grinsen die Tür auf, dass sie entweder irgendwelche Gute-Laune-Pillen eingeworfen haben muss oder vorhat, mich zu irgendwas zu überreden, das ich nicht will.

»Schätzchen! Wie war’s in der Schule? Ich bin so froh, dass du rechtzeitig wieder da bist, hier sind nämlich ein paar Leute, die sich gern mit dir unterhalten würden.« Sie deutet in Richtung Wohnzimmer und ich sehe einen geisterhaften Schein durch den Türspalt dringen.

Verdammt, was ist denn jetzt los? Hat sie Olav für einen Haufen Okkultisten sitzen gelassen? Halten die da drin etwa eine Séance ab?

»Na los, Alice, es beißt dich schon niemand.«

Ich trete ins Zimmer und werde sofort geblendet von drei riesigen Scheinwerfern auf Stativen, die alle auf Dads Sessel gerichtet sind. Neben dem Sessel steht ein Tischchen mit drei von Mums liebsten Meggie-Fotos, sorgfältig arrangiert. Auch eine Tasse Tee sehe ich, obwohl Mum nie welchen trinkt.

Dann erst fallen mir die Leute auf: ein Mann hinter einer großen Videokamera, ein weiterer mit Kopfhörern und zwei Frauen. Die eine hält ein Klemmbrett in der Hand und die andere hat den typischen Ausdruck übertriebenen Mitgefühls im Gesicht, den ich in den letzten Monaten viel zu oft gesehen habe.

»Hallo, Alice. Wie geht es dir?«, fragt Miss Mega-Mitgefühl ach so rücksichtsvoll.

Ich beäuge sie argwöhnisch. »Was wird das denn hier?«

Mum tritt hinter mich. »Eine Hommage für Meggie. Diesen Samstag fängt die neue Staffel von Sing for your Supper an und dafür wollen sie hier etwas aufnehmen.«

Diesen Samstag. Das muss Ellie gemeint haben – keine Party.

»Ja«, bestätigt Mitgefühls-Mausi. »Wir finden, es wäre einfach nicht richtig, nicht kurz auf Meggies unglaublichen Beitrag zum Erfolg der letzten Staffel einzugehen. Und ihre Millionen von Fans erwarten sicherlich auch etwas.«

Tja, ihre Millionen von Fans können eurer Einschaltquote ja auch nicht unbedingt schaden, was?, denke ich. Aber anstatt es auszusprechen, drehe ich mich einfach nur weg. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte das nicht.«

Ich will das Wohnzimmer verlassen, doch Mum tritt mir in den Weg.

»Ich glaube aber, deine Schwester hätte es sich so gewünscht, Alice.«

»Woher willst du das wissen?« Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich kurz nach oben gehen und meine Schwester fragen könnte, aber zum Glück halte ich den Mund. Ich will sie fragen, warum auf dem Tisch drei Bilder von Meggie stehen, aber ich auf keinem davon zu sehen bin, doch auch das verkneife ich mir. Und dann kommt mir noch etwas anderes in den Sinn. »Wo ist Dad? Macht der etwa dabei mit?«

Mum blickt zur Seite.

»Du hast es ihm noch nicht mal gesagt, stimmt’s?«, wird mir klar. »Also ehrlich, diese Familie …«

Endlich lässt sie mich vorbei und ich renne nach oben. Es gibt nur einen Ort, an dem ich mich normal fühle – und erwünscht.

Der Himmel hat dasselbe atemberaubende Blau wie immer und das Rauschen der Wellen beruhigt mich sofort. Es ist weniger als vierundzwanzig Stunden her, dass ich hier gewesen bin, aber es kommt mir vor wie Wochen. Ich habe das alles so sehr vermisst.

Dann fällt mir wieder ein, warum ich heute Morgen nicht hergekommen bin, und ich werde rot. Ob Danny überhaupt gemerkt hat, dass ich nicht am Strand war?

»Hey, Florrie. Hier bin ich.«

Viel zu laut tönt die Stimme meiner Schwester durchs Zimmer und ich ramme hastig den Kopfhörerstecker in den Laptop, damit sie niemand hört. Keine Ahnung, wie ich das einer Filmcrew und meiner Mutter erklären würde.

Meggie steht mit verschränkten Armen hinter mir. »Du bist spät dran.«

»Im Ernst?« Ich will ihr das mit der Fernsehsendung nicht erzählen. Wie ich Meggie kenne, würde sie mir wahrscheinlich noch ganz genau aufschreiben, was ich sagen soll, und darauf bestehen, dass sie nur Clips aus den letzten paar Shows zeigen, wo sie mithilfe der Atkins-Diät bereits das halbe Kilo verloren hatte, das ihrer Meinung nach in den Runden davor so furchtbar aufgefallen war. »Ich dachte, ihr hättet hier keine Uhren.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich kann die Zeit an den Schatten ablesen. Wie eine Schamanin. Egal, ich muss mit dir reden. Allein. Gehen wir eine Runde spazieren?«

Ich nicke. Was kommt denn jetzt? Vielleicht will sie mir sagen, dass sie weiß, wie tierisch ich in Danny verknallt bin, und dass ich den armen Jungen gefälligst in Ruhe lassen soll, weil ich mich so nur zum Affen mache. Wenn es um meine Gefühle für jemanden geht, bin ich selbst leider meist die Letzte, bei der der Groschen fällt.

Wir gehen immer weiter, bis sich das ewige Geplapper am Strand zu einem Flüstern senkt und sich vor uns nur noch leerer Sand erstreckt. Hier wirkt der Soul Beach irgendwie weniger echt, so als hätte der Schöpfer dieses Orts am Ende keine Ideen oder keine Zeit mehr gehabt und die Farben und Formen nur noch grob skizziert. Als ich nach unten sehe, sind keine einzelnen Sandkörnchen mehr zu erkennen, und der Schaum auf den Wellen stockt immer wieder und wirkt pixelig, wie ein Videospiel, das auf einem alten Computer nicht richtig läuft.

»Das dürfte reichen«, sagt Meggie. Sie setzt sich unter eine verschwommene Palme und ich nehme neben ihr Platz.

»Worum geht’s denn?« Vielleicht ist es ja gar nicht Danny. Vielleicht will sie nur wissen, ob ich schon in Greenwich war und Tim ein Geständnis entlocken konnte.

Sie seufzt. »Um Triti. Ihr geht’s echt mies.«

»Triti?« Ich denke an das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, so unglaublich einsam inmitten all der Fröhlichkeit. »Was ist passiert?«

»Sie macht andauernd … solche Sachen. Wie mit dem Kopf voran vom großen Felsen springen, auch wenn sie natürlich nie ertrinkt. Sie hat sogar versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich meine, es blutet zwar, aber die Haut verheilt innerhalb von Sekunden, und trotzdem tut sie es immer wieder, als würde sie es irgendwann schaffen, wenn sie es nur oft genug probiert.«

Das Geräusch der Wellen klingt plötzlich wie ein hastig schlagender Puls. »Aber das wird sie doch nicht, oder?«

Meggie erschaudert. »Nein. Aber das Problem ist, dass sie damit andere Leute völlig fertigmacht. Diejenigen, die wirklich ertrunken sind, die sich wirklich die Pulsadern aufgeschnitten haben. Es ist, als würde sie ihnen immer wieder vorspielen, was sie sich angetan haben. Das ist einfach nicht fair.«

Ich höre die Wut in ihrer Stimme. Ist sie wütend auf die arme Triti oder eher frustriert, weil sie genau weiß, dass sie im selben Boot sitzt?

»Ich weiß, Meggie.«

Sie starrt mich an und ihre Augen sind blauer und realer als alles andere am Strand. »Du kannst ihr helfen.«

Ich nicke. »Das will ich ja. Wirklich.« Aber wieso sollte ausgerechnet ich das können, wenn mich schon eine dämliche Schwärmerei in eine stammelnde Idiotin verwandelt? Ich traue mir doch nicht mal zu, einer alten Frau über die Straße zu helfen, von diesem ganzen Kram, bei dem es um Leben und Tod geht, mal ganz zu schweigen.

Und doch ist es, wie Danny gesagt hat: Möglicherweise bin ich die Einzige, die überhaupt eine Chance hat.

»Na ja, könntest du dann vielleicht versuchen, dich ein bisschen zu beeilen, Florrie? Das hier ist echt wichtig. Sie muss weg von diesem verdammten Strand, nicht nur um ihret-, sondern auch um unseretwillen.« Sie hat denselben Kommandoton drauf wie damals, als sie mir befohlen hat, mit dem Nägelkauen aufzuhören, weil kein Junge sich für ein Mädchen interessiert, das dauernd an sich rumnagt.

»Ich bin dran«, sage ich, fest entschlossen, sofort mit dem Fall weiterzumachen, wenn ich mich vom Strand auslogge. Schließlich würde auch meine Schwester davon profitieren, wenn ich Triti helfe. »Ich hab versucht, sie im Internet zu finden, aber da gab’s nichts. Es ist, als hätte sie gar nicht existiert.« Einen Moment lang wirkt es, als wollte Meggie mir eine weitere Standpauke halten. Dann aber passiert etwas viel Schlimmeres: Sie läuft rot an, so dunkel wie vergossenes Blut, vom Haaransatz bis zur Brust. Sogar ihre Augen verfärben sich purpurn.

Wie beim letzten Mal.

»Meggie? Meggie, was ist los?«

Und dann – es kann nur ein paar Sekunden gedauert haben, obwohl es mir vorkommt wie Stunden – blinzelt sie und die Farbe verblasst wieder, bis nur noch ihre übliche makellose Bräune und der schwache Versuch eines Lächelns übrig sind.

»Entschuldige, Florrie. Ich hatte gerade das Gefühl …«

»Lebendig begraben zu werden?«

Sie starrt mich an und nickt schließlich. »Ich … bitte sag so was nicht. Ich will nicht darüber nachdenken.«

»Tut mir leid.«

»Nein, nein, du kannst ja nichts dafür. Ich bin nur … egal, wir haben über Triti geredet. Ich vertraue dir, Schwesterherz. Du schaffst das schon. Also bitte, versuch es weiter. Tu es für sie. Und für uns alle.«

Ich verfluche mich selbst, weil ich mich von unwichtigen Dingen habe ablenken lassen, als ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas Bedeutendes hätte bewirken können. »Ich tue alles, was ich kann, Meggie. Das verspreche ich dir.«

Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wo ich damit anfangen soll.