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»Drei Fragen reichen aus, um die Wahrheit herauszufinden. Mit nur drei Fragen kann man eine Regierung stürzen, eine Affäre aufdecken, einen Mörder entlarven.«

Mr Bryants Worte bohren sich wie ein Messer in meinen Tagtraum.

Einen Mörder entlarven? Die Begegnung mit meiner Schwester hat meinen Wunsch, ihren Mörder zu finden, wieder zurück in den Mittelpunkt gerückt. Das und sie und der Strand sind alles, woran ich denken kann.

»Also, ich hätte jetzt gern, dass ihr Vierergruppen bildet und ein Interview für eine eurer Lieblingsberühmtheiten plant. Ein Interview, in dem ihr mehr über sie herausfindet als jemals jemand zuvor – allerdings habt ihr dafür nur drei Fragen zur Verfügung.« Mr Bryant klatscht in die Hände, als wollte er sich selbst applaudieren.

Früher habe ich seinen Unterricht gemocht, weil er, im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrern, zumindest versucht, ihn unterhaltsam zu gestalten.

Aber jetzt ärgert es mich nur, dass ich hier sitzen und mir seine blöden Sprüche anhören muss, während ich eigentlich am Soul Beach bei meiner Schwester sein will.

In der Mittagspause gehen Cara und ich mit unseren Cola light raus auf die Schulwiese, damit sie ihre verblassende Bräune in der schwachen Herbstsonne auffrischen kann. Den Goth-Look hat sie aufgegeben – »Die Typen, die auf so was stehen, sind alle depressive Trottel« – und zwei komplette Samstage damit verbracht, sich ihre schwarzen Haare honigblond umfärben zu lassen. Dazu macht sie noch eine Diät, die hauptsächlich aus Koffein zu bestehen scheint, um sich auf ein Date mit einem Personal Trainer vorzubereiten. Aus Rücksicht auf sie esse ich auch nichts.

Obwohl die Sonne scheint, kann ich nicht aufhören zu zittern. Am Soul Beach sind die virtuellen Strahlen so kräftig, dass sie mein Gesicht zum Kribbeln bringen.

»Wahnsinnswetter, oder? Fast wie im Urlaub«, schwärmt Cara.

Ich nicke halbherzig.

»Was ist los, Süße?«

Ich zucke mit den Schultern. »Das Übliche.«

»Weißt du … vielleicht hat deine Mum ja doch recht. Dass du’s mal mit Trauerhilfe versuchen solltest, meine ich. Weil, von alleine wird’s nicht besser, oder?«

Ich starre sie an. Wie kann sie es wagen? Aber bevor ich es aussprechen kann, hebt sie schon die Hand.

»’tschuldige, ’tschuldige. Vergiss es. Geht mich gar nichts an. Ich kann das alles nicht im Geringsten nachvollziehen und so weiter und so weiter. Tun wir einfach so, als hätte ich gar nichts gesagt.«

Ein solcher Rückzieher sieht Cara gar nicht ähnlich. »Bin ich so schlimm?«

Sie bemüht sich zu lächeln. »Ich kenne ja keine anderen Leute mit ermordeten Schwestern, also fehlt mir der Vergleich, und außerdem wäre ich ’ne ziemlich beschissene Freundin, wenn ich die beleidigte Leberwurst spielen würde, bloß weil du ein bisschen rumzickst. Aber ich vermisse die alte Alice. Die Alice, mit der ich so schön rumblödeln konnte.«

Ich bemühe mich, das, was sie gesagt hat, anzunehmen. »Ich vermisse die alte Alice auch.«

Sie stellt ihre Cola ab und nimmt mich in die Arme. Normalerweise würde mich das sofort zum Weinen bringen, aber heute ist es noch schlimmer – ich fühle rein gar nichts. Na ja, ich fühle, wie sie mir den Rücken tätschelt, als sei ich ein Baby, das ein Bäuerchen machen soll, aber irgendwie erlebe ich das Ganze aus weiter Ferne, wie jemand, der in einer Galerie ein Gemälde von einem Mädchen betrachtet, das seine trauernde Freundin tröstet.

Schließlich lässt Cara mich wieder los. Und sie hat Tränen in den Augen. »Besser?«

»Ja«, lüge ich.

»Irgendwann wird es leichter. Wir sind noch so jung, Alice. Es kann ja nicht ewig so bleiben. Eines Tages passiert irgendwas, das so wunderbar ist, dass du alles andere vergisst, und dann weißt du, dass du auf dem Weg der Besserung bist.« Sie lächelt mich an.

Ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich auf dieser Welt nichts Wunderbares mehr erwarte. Denn ich habe das Gefühl, dass ich alles, was ich brauche, bereits am Soul Beach gefunden habe.