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Meine Cousine Laurel ist sturzbetrunken, aber niemand stört sich daran. So ist das nun mal, wenn man einundzwanzig wird. Hier in der realen Welt ist eine Party keine echte Party, wenn man sich noch daran erinnern kann.

Ihre jüngere Schwester Stacie tritt neben mich. »Langsam sieht sie echt aus wie eine Barbie«, schnaubt sie und nickt in Richtung Laurel.

Angesichts Stacies künstlicher Bräune, künstlicher Fingernägel und, ganz neu, künstlicher Brüste, die sie von ihrem Stiefvater zum achtzehnten Geburtstag bekommen hat, liegt in dieser Aussage eine gewisse Ironie.

»Hauptsache, sie hat Spaß.« Oben auf der Bühne wankt Laurel auf ihren silbernen High-Heels vor und zurück. Ich würde nicht darauf wetten, dass sie noch lange aufrecht bleibt.

Stacie und Laurel sind die Töchter von Dads Schwester – die etwas prollige Seite der Familie –, doch obwohl wir unterschiedlicher nicht sein könnten, sind Meggie und ich immer gut mit ihnen ausgekommen.

»Wo hast du denn sexy Robbie gelassen?«, erkundigt sich Stacie.

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir haben Schluss gemacht.«

Sie reißt die Augen auf. »Ist nicht dein Ernst! So einen darfst du doch nicht entwischen lassen.«

Ganz offensichtlich ist sie der Meinung, dass Robbie viel zu heiß für mich war und ich nie wieder so einen tollen Typen abkriegen werde. »Im Moment sind einfach andere Sachen in meinem Leben wichtiger.«

»Ja, ich weiß, aber … Alice, du brauchst nur den richtigen Kerl, der dir hilft, das alles zu vergessen. Einer, bei dem du an nichts anderes mehr denken kannst, wenn du mit ihm zusammen bist, noch nicht mal an Meggie. Je schneller du so einen findest, desto besser.«

Bei Stacies Begeisterung für alles Künstliche ist ihr Vertrauen in die wahre Liebe eine ziemliche Überraschung.

»Ist das so bei dir und David?«, will ich wissen.

Ein seltsam benebelter Ausdruck tritt in ihre Augen, sie wirkt regelrecht bekifft. »Bevor ich David kennengelernt habe, war ich nur ein halber Mensch. Erst jetzt fühle ich mich richtig vollständig. Ich kann es gar nicht erwarten, dass er aus Kabul zurückkommt. Ich habe das Gefühl, er will mir vielleicht einen Heiratsantrag machen.«

David ist Soldat – Stacie war schon immer davon überzeugt, dass sie eines Tages einen Mann in Uniform heiraten würde.

»Siehst du, und so war es mit Robbie nie«, erkläre ich. »Natürlich war er lieb und nett und total süß, aber –«

»War es nie so, dass du jeden Witz, den er gemacht hat, für den lustigsten auf der ganzen Welt gehalten hast?«

»Doch, schon. Am Anfang.«

»Okay. Und hat die Welt stillgestanden, wenn du mit ihm zusammen warst?«

»Nein.«

»Hast du nie davon geträumt, wie eure Kinder wohl aussehen würden? Gewusst, dass du so ziemlich alles andere aufgeben würdest, nur um mit ihm zusammen zu sein?«

Ich lache ein bisschen in mich hinein. Das klingt ja wie aus einem schwülstigen Liebesfilm.

»Nein.«

»Warst du außer dir vor Eifersucht, wenn du beobachtet hast, dass ein anderes Mädchen mit ihm redet?«

»Na ja, ein bisschen genervt vielleicht.«

»Wolltest du ihr nicht die Augen auskratzen oder eine reinhauen?«

Ich muss schmunzeln. »Nein.« Aber ein Teil von mir ist tatsächlich ein bisschen eifersüchtig, dass das Leben für Stacie so schön schwarz-weiß ist.

Sie legt mir die Hand auf die Schulter. »Dann okay. Wenn er nicht der Richtige war, ist es egal, wie süß er ist.«

»Glaubst du wirklich, dass jeder Mensch einen Seelenverwandten hat? Nur den einen, ohne Kompromisse?«

»Klar.«

»Aber Leute verändern sich doch, oder? Ich weiß zumindest, dass ich eine völlig andere Alice bin als vor Meggies Tod.«

»Der Richtige wird dich trotzdem lieben, auch wenn du dich veränderst.«

»Es kommt mir einfach ein bisschen willkürlich vor, zu glauben, dass es nur den Einen gibt. Was, wenn wir uns nie begegnen?«

»Jetzt klingst du schon wie meine Mum. Sei nicht so zynisch, Alice, das können Jungs gar nicht leiden. Wenn du ihn findest, wirst du schon verstehen, was ich meine. Versprochen. Dann sagst du: Verdammte Kacke, Stacie hatte total recht.« Und sie lächelt mich so weise an, als wäre sie zehn Jahre älter als ich und nicht bloß dreizehn Monate.

»Danke.« Ich sage ihr nicht, was ich denke: dass ich den Richtigen überhaupt nicht mehr finden will, weil einem alles so sinnlos vorkommt, wenn man weiß, dass außer dem Strand nichts für immer ist. Und dass diese Ewigkeit etwas ist, das ich noch nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen würde.

Manchmal will ich es den Leuten einfach erzählen, sie vor dem warnen, was vor ihnen liegt, damit sie das Beste aus dem Augenblick machen.

»Nur, Alice, sei mir nicht böse, aber ich glaube, du würdest ihn früher finden, wenn du mal was mit deinen Haaren anstellen würdest und zusiehst, dass du ein bisschen Farbe ins Gesicht kriegst. Ich meine, wir wissen alle, was du durchgemacht hast, und wir machen uns auch echt Sorgen, aber du bist so was von blass.«

»Wir haben Ende Oktober, Stacie. Natürlich bin ich blass.«

»Na und? Schon mal was von Selbstbräuner gehört? Mein Gott, ich wette, du willst im Winter auch von Wachs nichts wissen, oder?« Sie wirft einen entsetzten Blick auf meine Jeans, als fürchte sie, dass sich darunter ein regelrechter Dschungel aus Haaren verbirgt. »Es ist halt nur so, man kann nie wissen, wann man dem Richtigen begegnet. Oder wo. Also muss man immer super aussehen, nur für den Fall. Du wirst mir noch dankbar für diesen Rat sein, Alice.« Und mit diesen Worten vollführt Stacie eine elegante Drehung, die sie selbst bei Let’s Dance eine Runde weiter gebracht hätte, und stürmt gerade noch rechtzeitig auf die Bühne, um ihre große Schwester vor einem Sturz auf die darunterliegende Tanzfläche zu bewahren.